28. August 2014

"Das Hamsterrad dreht sich schneller und schneller"

Trotz vollmundiger Versprechen, die Reformen müssten jetzt endlich gestoppt werden, dreht sich das Reform-Hamsterrad für Schüler, Lehrer und Eltern immer schneller. Diese Tatsache fällt in Baselland besonders ins Gewicht. Dort wird neben der Anpassung ans System 6/3, der Einführung der Primarfremdsprachen, zeitgleich auf noch der Lehrplan 21 eingeführt. Roger von Wartburg, Präsident des Baselbieter Lehrervereins, beklagt das Auseinanderdriften von Praxis und Theorie, den Glauben an die eine wahre Lehre und den grassierenden Administrationswahn.




Selbständig denkende Lehrkräfte sollen zu gehorsamen Beamten geformt werden, Bild: Fuerther Freiheit

Noch immer in der Falle, Basler Zeitung, 28.8. von Roger von Wartburg


In Lehrerkreisen geniesst ein Artikel, der vor vier Jahren im Magazinabgedruckt wurde, Kultstatus: Es handelt sich um den Beitrag «In der Falle – Wie die Schule von Reformwahn und Bildungsbürokratieerdrückt wird» von Martin Beglinger. Dieser beschrieb in seinem Text das hoffnungslose Unterfangen, sich einen Überblick über die Bürokratisierungswelle und die unzähligen Reformprojekte verschaffen zu wollen, die seit 1995 die Schweizer Schulen überzogen haben.
Der Artikel von 2010 verkörperte für viele Lehrpersonen so etwas wie einen Hilferuf. Doch verändert hat sich seither nichts. Im Gegenteil: Das ­Hamsterrad, in dem Lehrerschaft und Schülerschaft gleichermassen unablässig auf Trab gehalten werden, dreht sich schneller und schneller, die Planungs-, Evaluations- und Stabstellen wachsen weiter und die dort tätigen Zeitgenossen denken sich ohne Unterlass noch mehr Projekte und Versuche aus – schliesslich müssen die vielen geschaffenen Stellen legitimiert werden. Dass es, wie Roland Reichenbach von der Universität Zürich sagt, grossartige Erneuerungen im Schulwesen eher einmal im Jahrhundert als einmal pro Monat gibt, ist nicht weiter von Belang: Umsetzen müssen all das schliesslich andere.
Solange dieser Kreislauf nicht politisch durchbrochen wird, ist keine Besserung in Sicht. Exponenten aller Parteien schwadronieren seit Jahren, die Schulen müssten endlich wieder zur Ruhe kommen. Nur unternimmt niemand etwas in diese Richtung. Daran mitschuldig sind vielfältige Seilschaften zwischen Politik, Verwaltung und dem Forschungs-Evaluations-Weiterbildungs-Komplex, der in den vergangenen Jahren zu einem mächtigen, umsatzstarken Wirtschaftszweig aufgestiegen ist. Wenig erstaunlich daher, was Mauro Dell’Ambrogio, Staatssekretär für Bildung, auf die Frage geantwortet hat, was er als grösste Gefährdung unserer Bildungseinrichtungen sehe: die Entfremdung zwischen den Partnern im Bildungssystem, konkret zwischen Bürokratie und Schulpraxis.
Immer mehr Akteure gibt es, die die Unsitte verbreiten, Pädagogik als exakte Wissenschaft darzustellen und ihr Konzept jeweils als allein seligmachendes anzupreisen. Die Politik ihrerseits widersteht allzu selten der Versuchung, in der Öffentlichkeit als innovativ bis pionierhaft wahrgenommen zu werden, sodass jeder neue kleine Bildungshype sogleich in Form einer weiteren Welle auf die Schulen losgelassen wird, mitunter reichlich überhastet und unausgegoren. Geflissentlich ignoriert wird dabei die lange Historie pädagogischer und didaktischer Luftschlösser. Als Resultat erleben wir heute die Volksschule als Dauerbaustelle, die durch ständig wechselnde Verkehrsführungen den Verkehrsfluss behindert und alle Verkehrsteilnehmer verunsichert.
Selbstverständlich sollen sich Lehrpersonen mit neuen Ideen auseinandersetzen und, im Falle des Gutdünkens, ihr bestehendes Repertoire damit anreichern. Das ist jedoch ein himmelweiter Unterschied zum zu beobachtenden Trend, in immer kürzeren Abständen die kollektive Lehrerschaft mit dem nun endlich entdeckten «richtigen Setting» zwangszubeglücken, das die Lernprozesse so gut wie von alleine gelingen lasse. Dabei hat der Bildungsforscher John Hattie in seiner umfassenden Metastudie nachgewiesen, dass eben gerade nicht die methodischen Spielereien für den Lernerfolg entscheidend sind, sondern vielmehr die einzelne Lehrerpersönlichkeit – wobei die Erfolgsaussichten in einem sorgfältig gelenkten, klar strukturierten Unterricht am grössten sind.
Wir müssen deshalb wieder davon abrücken, alle paar Wochen eine neue pädagogische Heilslehre durch die Schulen zu treiben nach dem Motto: Nur so geht es, und wer es nicht so macht, der macht es falsch! Es gibt nämlich verschiedene Arten, ein guter Lehrer, eine gute Lehrerin zu sein. Authentische Vielfalt ist besser als verordnete Einfalt.
Was wir brauchen, ist eine Bildungspolitik der ruhigen Hand, welche sich der Tendenz zum hektischen Aktionismus widersetzt. Wir brauchen überdies einen gesellschaftspolitisch geklärten Auftrag an die Schule. Wir brauchen motivierte Lehrpersonen, denen professionelle Freiräume erhalten bleiben. Wir brauchen eine verlässliche Volksschule, der Schülerinnen und Schüler, Eltern, Arbeitgeber und Steuerzahler mit Vertrauen begegnen können.
Übrigens: Ich bin innerhalb meiner Familie der einzige Lehrer. Angehörige aus meinem Umfeld arbeiten unter anderem in der Finanzbranche, im Marketing, im Medizinal- oder Informatikbereich. Man könnte nun denken, in der Privatwirtschaft tätige Arbeitnehmende hielten das «Aufmischen» des trägen Systems Schule für gewinnbringend. Das Gegenteil ist der Fall, lautet doch der Tenor: «Wie blöd ist das denn, dass sich nun auch noch die Schule dem permanenten Consulting-, Restrukturierungs- und Administrationswahn unterwirft, der schon bei uns viel kostet, ohne einen sichtbaren Mehrwert zu erzeugen!»

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