Da haben wir auf der einen Seite: "Toleranz, Neugier, Offenheit, Weltbürgertum, Diversität". Das ist die Seite der Guten, das heisst, der Befürworter der Primarfremdsprachen.
Ganz anders das Reich des Bösen - da wohnen die Gegner. Und die haben laut Cherix ein "narzisstisches, auf engstirnigen Phantasievorstellungen beruhendes Weltbild" von Populisten. Ein lesenswertes Statement von entlarvender Simplizität. (uk)
Diversität, nicht Monokultur, NZZ, 28.8. von François Cherix
Als Kind stellte ich mir die Schweiz als ein vierfarbiges Puzzle vor,
wobei jede Farbe eine Landessprache repräsentiert. Früh wurde ich damit
vertraut gemacht, dass in meiner Heimat Deutsch, Französisch, Italienisch und
Romanisch gesprochen wird - anhand der Beschriftungen auf den Pässen der
Erwachsenen. Später haben mich meine Eltern nach Bern mitgenommen, damit ich
dort meine ersten Worte auf Deutsch sprechen konnte. Ich erinnere mich noch
heute daran, wie stolz ich war, ein echter Schweizer zu sein, weil man mir
tatsächlich auch auf Deutsch geantwortet hatte. Ich empfand es immer als
Privileg, an der Schnittstelle verschiedener Kulturräume zu leben. Diese
Diversität fasziniert mich und bindet mich an die Schweiz. Mit anderen Worten:
Mein Patriotismus schliesst diese unterschiedlichen Kulturen mit ein, die sich
gegenseitig respektieren und bestärken.
Genau dieses Prinzip der Willensnation wird vom thurgauischen Parlament
infrage gestellt, indem es das Frühfranzösisch abschaffen möchte. Über die
pädagogische Debatte hinaus geht es nämlich um eine existenzielle Frage: Wollen
wir den föderalen Zusammenhalt, oder nehmen wir in Kauf, dass die Bande
zwischen den Bürgern gelockert werden und unser gemeinsames Schicksal sich
auflöst? Der nationale Zusammenhalt beruht darauf, dass wir unsere Verschiedenheiten
kennen und akzeptieren. Monokultur ist nicht dazu geeignet, die
Erfolgsgeschichte unseres gemeinsamen Werdegangs weiterzuschreiben.
Gegenseitiges Verständnis setzt indes das frühe Erlernen der Landessprachen
voraus, die je für einen Kulturraum stehen. Die Sprache ist schliesslich mehr
als ein Vektor für die Kommunikation. Sie ist die Essenz des Geistes, sie ist
gleichzeitig Gedächtnis, Idee und Vision. Ob ich mich auf Deutsch, auf
Französisch, auf Italienisch, auf Arabisch oder auf Russisch ausdrücke, hat
einen Einfluss auf den Inhalt. Wer die Sprache des andern lernt, ist bereit,
dessen Haus zu betreten und die Welt durch dessen Brille zu betrachten. Niemals
wird Englisch innerhalb der Schweiz diese Rolle erfüllen können.
Bei der Debatte über das Unterrichten der Landessprachen geht es nicht
zuletzt auch um die politische und kulturelle Bildung - Voraussetzung für eine
lebendige Demokratie. Macht es einem Schüler keine Freude, wenn er ein paar
Sätze in der Sprache seiner Landsleute sagen kann? Und ist eine frühe
Sensibilisierung für die Landessprachen nicht wie eine erste spielerische Reise
durch die verschiedenen Landesteile? Das Erlernen der Sprachen dient auch dem
Erlernen der Schweiz schlechthin. Diese existenzielle Dimension wird von den Gegnern
des Frühfranzösisch selbstverständlich unter den Tisch gekehrt. Dies zeigt sich
etwa anhand der Aussagen der Thurgauer SVP-Nationalrätin Verena Herzog in einem
Interview mit der Zeitung «24 heures» vom 21. August. «Nur eine Minderheit von
Deutschschweizern ist im Berufsleben auf Französisch angewiesen», sagt Herzog.
Wer so spricht, reduziert das Erlernen einer Sprache auf eine eiskalte
Kosten-und-Nutzen-Abwägung: Die französische Schweiz ist für die eigene
Karriere nicht relevant, also existiert sie nicht. Mit derselben Logik könnte
man auch argumentieren, dass Schweizerdeutsch fallengelassen werden sollte, da
es ausserhalb der Schweiz nichts bringt und keinen Zugang zur geschriebenen
Sprache ermöglicht.
Die SVP ist bei den Bestrebungen, Französisch zu diskreditieren, an
vorderster Front dabei. Eigentlich erstaunlich, dass eine Partei, die sich als
patriotisch versteht, sich so wenig um die multikulturelle Identität der
Schweiz schert. In der Tat ist die SVP keine klassische Partei, sondern eine
populistische Bewegung, die am Gängelband von Christoph Blocher die Bewohner
instrumentalisiert, die direkte Demokratie missbraucht und die Schweiz mit
ihrem nationalistischen Diskurs zu zerstören droht. Die französischsprachige
Minderheit, die sich noch immer gegen diesen Isolationskurs wehrt, hat darin
keinen Platz. Diese nationalistische Verherrlichung läuft auf das Ausmerzen der
Verschiedenheiten und auf eine alpine Deutschschweizer Monokultur hinaus.
Der Sprachenstreit ist sinnbildlich für die Abkehr von dem, was den
Erfolg und die Anziehungskraft der Schweiz ausmacht: Toleranz, Neugier,
Offenheit, Weltbürgertum, Diversität. All dies geht beim Rückzug in ein
narzisstisches, auf engstirnigen Phantasievorstellungen beruhendes Weltbild
verloren. Das Unterrichten der Landessprachen in der Primarschule erfordert
einen kollektiven Effort und setzt die Überzeugung voraus, dass Bildung mehr
ist als eine wirtschaftliche Investition. Wird die Willensnation überleben,
wenn sie dem nationalistischen Diskurs der Populisten verfällt? Dies ist keine
fiktive Frage. Wir müssen uns ihr stellen.
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