28. August 2014

Simple Vereinfachungsrhetorik

So einfach ist die Auslegeordnung, wie sie uns François Cherix - Essayist und Kommunikationsberater - auftischt.
Da haben wir auf der einen Seite: "Toleranz, Neugier, Offenheit, Weltbürgertum, Diversität". Das ist die Seite der Guten, das heisst, der Befürworter der Primarfremdsprachen. 
Ganz anders das Reich des Bösen - da wohnen die Gegner. Und die haben laut Cherix ein "narzisstisches, auf engstirnigen Phantasievorstellungen beruhendes Weltbild" von Populisten. Ein lesenswertes Statement von entlarvender Simplizität. (uk)
Diversität, nicht Monokultur, NZZ, 28.8. von François Cherix


Als Kind stellte ich mir die Schweiz als ein vierfarbiges Puzzle vor, wobei jede Farbe eine Landessprache repräsentiert. Früh wurde ich damit vertraut gemacht, dass in meiner Heimat Deutsch, Französisch, Italienisch und Romanisch gesprochen wird - anhand der Beschriftungen auf den Pässen der Erwachsenen. Später haben mich meine Eltern nach Bern mitgenommen, damit ich dort meine ersten Worte auf Deutsch sprechen konnte. Ich erinnere mich noch heute daran, wie stolz ich war, ein echter Schweizer zu sein, weil man mir tatsächlich auch auf Deutsch geantwortet hatte. Ich empfand es immer als Privileg, an der Schnittstelle verschiedener Kulturräume zu leben. Diese Diversität fasziniert mich und bindet mich an die Schweiz. Mit anderen Worten: Mein Patriotismus schliesst diese unterschiedlichen Kulturen mit ein, die sich gegenseitig respektieren und bestärken.
Genau dieses Prinzip der Willensnation wird vom thurgauischen Parlament infrage gestellt, indem es das Frühfranzösisch abschaffen möchte. Über die pädagogische Debatte hinaus geht es nämlich um eine existenzielle Frage: Wollen wir den föderalen Zusammenhalt, oder nehmen wir in Kauf, dass die Bande zwischen den Bürgern gelockert werden und unser gemeinsames Schicksal sich auflöst? Der nationale Zusammenhalt beruht darauf, dass wir unsere Verschiedenheiten kennen und akzeptieren. Monokultur ist nicht dazu geeignet, die Erfolgsgeschichte unseres gemeinsamen Werdegangs weiterzuschreiben. Gegenseitiges Verständnis setzt indes das frühe Erlernen der Landessprachen voraus, die je für einen Kulturraum stehen. Die Sprache ist schliesslich mehr als ein Vektor für die Kommunikation. Sie ist die Essenz des Geistes, sie ist gleichzeitig Gedächtnis, Idee und Vision. Ob ich mich auf Deutsch, auf Französisch, auf Italienisch, auf Arabisch oder auf Russisch ausdrücke, hat einen Einfluss auf den Inhalt. Wer die Sprache des andern lernt, ist bereit, dessen Haus zu betreten und die Welt durch dessen Brille zu betrachten. Niemals wird Englisch innerhalb der Schweiz diese Rolle erfüllen können.
Bei der Debatte über das Unterrichten der Landessprachen geht es nicht zuletzt auch um die politische und kulturelle Bildung - Voraussetzung für eine lebendige Demokratie. Macht es einem Schüler keine Freude, wenn er ein paar Sätze in der Sprache seiner Landsleute sagen kann? Und ist eine frühe Sensibilisierung für die Landessprachen nicht wie eine erste spielerische Reise durch die verschiedenen Landesteile? Das Erlernen der Sprachen dient auch dem Erlernen der Schweiz schlechthin. Diese existenzielle Dimension wird von den Gegnern des Frühfranzösisch selbstverständlich unter den Tisch gekehrt. Dies zeigt sich etwa anhand der Aussagen der Thurgauer SVP-Nationalrätin Verena Herzog in einem Interview mit der Zeitung «24 heures» vom 21. August. «Nur eine Minderheit von Deutschschweizern ist im Berufsleben auf Französisch angewiesen», sagt Herzog. Wer so spricht, reduziert das Erlernen einer Sprache auf eine eiskalte Kosten-und-Nutzen-Abwägung: Die französische Schweiz ist für die eigene Karriere nicht relevant, also existiert sie nicht. Mit derselben Logik könnte man auch argumentieren, dass Schweizerdeutsch fallengelassen werden sollte, da es ausserhalb der Schweiz nichts bringt und keinen Zugang zur geschriebenen Sprache ermöglicht.
Die SVP ist bei den Bestrebungen, Französisch zu diskreditieren, an vorderster Front dabei. Eigentlich erstaunlich, dass eine Partei, die sich als patriotisch versteht, sich so wenig um die multikulturelle Identität der Schweiz schert. In der Tat ist die SVP keine klassische Partei, sondern eine populistische Bewegung, die am Gängelband von Christoph Blocher die Bewohner instrumentalisiert, die direkte Demokratie missbraucht und die Schweiz mit ihrem nationalistischen Diskurs zu zerstören droht. Die französischsprachige Minderheit, die sich noch immer gegen diesen Isolationskurs wehrt, hat darin keinen Platz. Diese nationalistische Verherrlichung läuft auf das Ausmerzen der Verschiedenheiten und auf eine alpine Deutschschweizer Monokultur hinaus.
Der Sprachenstreit ist sinnbildlich für die Abkehr von dem, was den Erfolg und die Anziehungskraft der Schweiz ausmacht: Toleranz, Neugier, Offenheit, Weltbürgertum, Diversität. All dies geht beim Rückzug in ein narzisstisches, auf engstirnigen Phantasievorstellungen beruhendes Weltbild verloren. Das Unterrichten der Landessprachen in der Primarschule erfordert einen kollektiven Effort und setzt die Überzeugung voraus, dass Bildung mehr ist als eine wirtschaftliche Investition. Wird die Willensnation überleben, wenn sie dem nationalistischen Diskurs der Populisten verfällt? Dies ist keine fiktive Frage. Wir müssen uns ihr stellen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen