28. August 2014

Zweite Landessprache kein Luxus sondern Privileg

Einmal mehr eine ernüchternde Bilanz des LCH zur Sprachenfrage: Obwohl die Lehrerschaft klar nur noch eine Primarfremdsprache fordert, beharrt Beat Zemp unverrückbar auf zwei Sprachen und bewegt sich damit im Gleichschritt mit der EDK. Gleichzeitig macht der LCH auf seine fragwürdigen Gelingensbedingungen aufmerksam, die jenseits der Realität liegen. Es ist billig, mehr Lektionen für beide Fremdsprachen zu fordern ohne gleichzeitig auch zu sagen, wo denn gestrichen werden soll. Der LCH steht vor einer ernsthaften Glaubwürdigkeitskrise. (uk)




"Sparmassnamen, Notenzwang und politische Ideologien verhindern erfolgreiche Umsetzung des Sprachenkonzepts", Bild: Blick

Der frühe Unterricht ist noch keine Erfolgsgeschichte, NZZ, 28.8. von Beat Zemp


Frühes Sprachenlernen auf der Primarschulstufe setzt eine Reihe von Gelingensbedingungen voraus, die der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) bereits 2004 publiziert hat. Heute verhindern Sparmassnahmen, Notenzwang und politische Ideologien zunehmend eine erfolgreiche Umsetzung dieser wichtigen Reform. Mit fatalen Folgen: Der Widerstand gegen zwei Fremdsprachen an der Primarschule wird in der deutschen Schweiz immer grösser. Dabei gäbe es gute Kompromisse, wenn man die pädagogischen Argumente endlich ernst nehmen würde.
Kein anderes bildungspolitisches Thema hat in den letzten Monaten so viel mediale Aufmerksamkeit erhalten wie der Fremdsprachenunterricht an den Volksschulen, speziell an den Primarschulen der deutschen Schweiz. In der Zwischenzeit gibt es so viele Meinungen wie Akteure. Die einen wollen Frühfremdsprachen ganz abschaffen und dafür an den Primarschulen die Unterrichtssprache, Mathematik und Naturwissenschaften stärken. Die andern wollen am Konzept mit zwei obligatorischen Frühfremdsprachen auf der Primarstufe, wie es das Harmos-Konkordat vorschreibt, ohne Wenn und Aber festhalten. Doch es gibt auch noch weitere Varianten.
Immer grösser wird in der deutschen Schweiz das Lager der Befürworter für nur noch eine Fremdsprache in der Primarschule, wobei die Mehrheit der Anhänger dieser Lösung die Reihenfolge «English first, puis le français» favorisiert, was bei Bundesrat Berset und in der Romandie auf grosses Unverständnis stösst. Und dann gibt es noch diverse Variantenvorschläge mit einem Freifach oder einem Wahlpflichtfach Französisch auf der Primarstufe. Auch über den vermehrten Gebrauch von Dispensationen von sprachschwachen Schülern wird diskutiert. Das alles scheint hingegen einige Hirnforscher und Bildungswissenschafter wenig zu kümmern. Sie sind der festen Meinung, dass das Gehirn eines Primarschulkindes problemlos vier oder noch mehr Sprachen verkraften könne. «Je früher, desto besser», lautet ihr Credo.
Der LCH betonte bereits vor der Verabschiedung der Sprachenstrategie der Eidgenössischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) 2004, dass eine erfolgreiche Reform des Sprachenunterrichts nur dann möglich ist, wenn die dafür notwendigen pädagogischen Gelingensbedingungen erfüllt sind. In einer «Tarifliste» hat der LCH diese Bedingungen in 7 Kategorien mit 35 Items unterteilt und im September 2004 veröffentlicht. An seiner Delegiertenversammlung im Juni 2013 forderte der LCH in einer Resolution die Kantone auf, endlich mehr Lektionen und kleinere Klassen für den Fremdsprachenunterricht zur Verfügung zu stellen.
Die Freude an der französischen Sprache und Kultur wird zudem nicht gefördert, wenn man schon auf der Primarschulstufe mit Noten Druck erzeugt. Sprachschwache Schüler werden dadurch allzu früh entmutigt und entwickeln einen «Schulverleider». Sie erreichen die ehrgeizigen Ziele, die in den Grundkompetenzen (Bildungsstandards) für die Fremdsprachen von der EDK festgelegt wurden, bis zum Ende der Volksschule nicht oder nur ungenügend. Viel hilfreicher wäre hier ein Sprachbad in einer anderen Landessprache. Daher brauchen wir mehr Austauschprojekte zwischen den Landesregionen sowohl bei den Lehrpersonen (bereits während der Ausbildung und im späteren Berufsleben) als auch bei den Schülerinnen und Schülern (beispielsweise in Klassenlagern und durch die gezielte Förderung von Klassen- und Schüleraustauschen).
Doch das kostet alles Geld, das die meisten Kantone nicht haben. Im Gegenteil: Einmal mehr verschlechtern Sparmassnahmen im Bildungswesen laufend die Gelingensbedingungen im Unterricht. Kann man es da der Lehrerschaft übelnehmen, wenn sie nicht bereit ist, eine solch wichtige Reform zum Nulltarif umzusetzen?
Sowohl die EDK als auch die Lehrerverbände sind zurzeit daran, eine Bilanz zu ziehen und Lösungen für die Umsetzungsprobleme im Fremdsprachenunterricht zu suchen. Viel wird davon abhängen, ob es gelingt, überzeugende Antworten auf folgende Fragen zu finden:
Wie kann der besondere Stellenwert der Landessprachen glaubwürdig in den sprachregionalen Lehrplänen umgesetzt werden, und welche Rolle kann der Bund bei der Förderung der Landessprachen spielen?
Wie können die Gelingensbedingungen und die Beurteilung im Sprachenunterricht konkret verbessert werden?
Welche Hilfen bekommen Schülerinnen und Schüler, die wegen eines Wohnortswechsels in ein Schulsystem mit einer anderen Sprachenreihenfolge (E/F bzw. F/E) eingegliedert werden müssen?
Wie kann man sprachschwachen Schülerinnen und Schülern helfen, damit diese am Ende der obligatorischen Schule die Minimalziele in drei Sprachen erreichen können?
Lehrpersonen wollen einen erfolgreichen Fremdsprachenunterricht durchführen. Dazu brauchen sie flexiblere pädagogische Modelle, die auf das sehr unterschiedliche Lernpotenzial der Schülerinnen und Schüler mehr Rücksicht nehmen. Mit noten- und promotionsrelevanten Obligatorien für zwei Frühfremdsprachen, die viele sprachschwache Schüler überfordern, kommen wir nicht weiter, ebenso mit sturen Lernverboten für eine zweite Fremdsprache in der Primarschule, die sprachbegabte Schüler am frühen Fremdsprachenlernen behindern. Dies würde dazu führen, dass gutbetuchte Eltern für ihre sprachbegabten Kinder Kurse in der zweiten Fremdsprache privat einkaufen würden, während die anderen Schüler das Nachsehen hätten.
Daher setzt sich der LCH weiterhin für ein Angebot mit zwei Fremdsprachen auf der Primarschule ein. Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis alle merken, dass das Erlernen einer zweiten Landessprache zusätzlich zu Englisch in der Schweiz kein Luxus, sondern ein Privileg ist. Unser Ziel muss es sein, dass künftig möglichst viele Schulabgänger von den Vorteilen dieses Privilegs profitieren können.

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