28. August 2014

Austausch wichtiger als Zwang in der Primarschule

Patrick Aebischer ist Präsident der ETH Lausanne und erkennt die besondere Bedeutung von Englisch für die Westschweiz. Er spricht sich dafür aus, in der Sprachförderung auf Englisch zu setzen.




"Roger Federer verdankt seine Französischkenntnisse eher seinem Aufenthalt in Lausanne als der Primarschule der Region Basel", Bild: EPFL

Englisch für alle, NZZ, 28.8. von Patrick Aebischer


Die derzeit hitzigen Diskussionen in der Deutschschweiz über den Fremdsprachenunterricht werden auch in der Westschweiz wahrgenommen. Dass mehrere Deutschschweizer Kantone das Französische als erste Fremdsprache aufgeben, wird von einigen als Zeichen einer Abwendung der Deutschschweizer von der französischsprachigen Minderheit aufgefasst.
Verschiedene politische Parteien haben das Thema aufgegriffen und sprechen bereits von einer Gefahr für den nationalen Zusammenhalt. Was sollte die Westschweizer Minderheit tun? Ein Bundesgesetz verlangen, das den Unterricht in einer zweiten Landessprache vor dem Englischen vorschreibt?
Ich persönlich würde dies für einen Fehler halten. Meine Generation war der Meinung, dass das Erlernen der deutschen Sprache das A und O sei. Man erklärte uns, wie wichtig Deutsch für unsere berufliche Zukunft sei. Durch die Globalisierung hat sich die Lage nun allerdings grundlegend verändert: Englisch ist für alle Schweizer, das heisst auch für die Westschweizer, zur obersten Priorität geworden. Die jungen Westschweizerinnen und Westschweizer träumen mehr von Europa und der weiten Welt als von der Deutschschweiz. Und wenn sie ihre Deutschkenntnisse verbessern wollen, ist Berlin attraktiver als Zürich. Ausserdem sehen nur wenige einen Vorteil darin, Schweizerdeutsch zu lernen - auch wenn diese Sprache durchaus ihren Reiz hat. Ich vermute, dass umgekehrt die Westschweiz die Deutschschweizer auch nicht stärker zum Träumen anregt.
Die Einstellung der Westschweizer hat sich noch aus einem anderen Grund verändert: Die jüngste wirtschaftliche Entwicklung des «Arc lémanique» hat gezeigt, dass die Zukunft der Westschweiz in der Globalisierung liegt, die eher Englisch- als Deutschkenntnisse voraussetzt.
Der Reflex der Minderheit ist also nicht mehr angebracht. Französisch ist eine universelle und aufstrebende Sprache. Die französische Sprachgemeinschaft zählt heute fast 200 Millionen Menschen, und gemäss einer Prognose der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) dürfte diese Zahl bis 2050 auf 750 Millionen ansteigen. Vor allem in Afrika entstehen neue Märkte, auf denen gute Französisch- und Englischkenntnisse einen bedeutenden Trumpf darstellen. Die Deutschschweizer sind hingegen in einer weniger guten Ausgangslage, weil der deutschsprachige Raum auf rund 100 Millionen Menschen beschränkt ist und keine Wachstumsaussichten bestehen. Ferner ringen sie mit der kniffligen Frage nach der Stellung des Dialekts im Verhältnis zum Hochdeutschen. Die in jüngster Zeit geführte Diskussion über die ausschliessliche Verwendung des Schweizerdeutschen im Kindergarten ist das aufschlussreichste Beispiel dafür.
Ist der nationale Zusammenhalt gefährdet? In meiner Generation boten die Armee und die Arbeit als Au-pair Gelegenheit für ein kulturelles Eintauchen, um den anderen Landesteil besser zu verstehen. Heute müssen wir neue Möglichkeiten finden. Es gilt, unbedingt den Austausch zwischen den Sprachregionen auf Gymnasialstufe, in den ersten Studienjahren an der Universität und mithilfe von Lernpraktika zu fördern, um den kulturellen Reichtum unseres Landes zu entdecken. Die jenseits der Sprachgrenze verbrachte Zeit fördert den nationalen Zusammenhalt stärker als der unseren Kindern auferlegte Zwang, schwierige Landessprachen zu lernen. Mit einem solchen Austausch sollte es auch möglich sein, die von unseren Deutschschweizer Mitbürgern gern gepflegten Klischees einer von gutem Wein, gutem Essen und Siesta geprägten Westschweiz aufzubrechen. So sollten sie erkennen, dass die Westschweiz auch für Innovation, Weltoffenheit und Wettbewerbsfähigkeit steht. Dasselbe gilt auch für uns Westschweizer. Die Deutschschweiz hat es verdient, dass wir sie besser kennenlernen. Es ist Aufgabe der Politik, Anreize zu schaffen, mit denen der Austausch gefördert wird.
Wir sollten folglich ebenso pragmatisch vorgehen wie die Deutschschweizer. Machen wir aus einer Schwäche eine Stärke und lernen Englisch als erste und Deutsch als zweite Fremdsprache! Wir sollten nicht versuchen, unseren Kindern das aufzuzwingen, wofür unsere Generation wenig Begeisterung gezeigt hat: das frühe Erlernen der deutschen Sprache. Nach der gleichen Logik sollten wir die Deutschschweizer auch nicht zwingen, Französisch zu lernen, sondern ihnen Lust darauf machen. Wir Westschweizer sollten ausserdem die italienische Sprache nicht vergessen, um uns besser mit unseren Mitbürgern südlich der Alpen auszutauschen. Wir neigen leider dazu, sie zu vernachlässigen, obwohl wir uns ihnen kulturell nahe fühlen.
Schauen wir den Tatsachen ins Auge: Viele Westschweizer - auch ich - tauschen sich heute mit ihren Deutschschweizer Kollegen auf Englisch aus. Trotzdem feiern wir alle die Siege von Roger Federer und fühlen uns als Schweizer, ob wir nun die deutsche Sprache beherrschen oder nicht. Das Beispiel Roger Federer ist im Übrigen besonders aufschlussreich. Sein perfektes Französisch ist viel mehr den zwei Jahren zu verdanken, die er als Jugendlicher im Tennisförderungszentrum in der Nähe von Lausanne verbrachte, als dem Französischunterricht an der Primarschule in der Region Basel.

Die Stärke der Schweiz liegt in ihrer Weltoffenheit sowie ihrer sprachlichen und kulturellen Vielfalt. Ob es uns gefällt oder nicht: Englisch ist im Begriff, zur fünften Landessprache zu werden. Wenn wir diese Sprache beherrschen, können wir besser miteinander kommunizieren und der Schweiz einen herausragenden Trumpf für ihre sozioökonomische Entwicklung in einer zunehmend globalisierten Welt an die Hand geben. Let's go for it!

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