Viele Lehrkräfte fühlen sich durch den LP21 in ihrer Autonomie eingeschränkt, Bild: Keystone
Die Angst vor dem Lehrplan, Berner Zeitung, 13.8. von Raphaela Birrer
Den Überblick
über die Anzahl neuer Schüler verloren
Die Gemeinden
müssen jedes Jahr berechnen, wieviele Kinder neu in die Schule oder den
Kindergarten eintreten und ob es genügend Schulräume gibt. In der Stadt Bern
hat es im Zusammenhang mit der Planung des benötigten Schulraums in diesem Jahr
unerwartete Probleme gegeben.
MICHAEL SAHLI
Der Kanton
Aargau krebst in der Bildungspolitik zurück. Die Einführung des Lehrplans 21
wird auf das Schuljahr 2020/21 verschoben. Das hat der Regierungsrat gestern
beschlossen. Ausschlaggebend waren sowohl finanzielle als auch inhaltliche
Gründe: Der Kanton hat ein für das Bildungswesen folgenreiches Sparpaket
geschnürt. Und er hatte erhebliche Anpassungen am neuen Lehrplan gefordert, der
zurzeit grundsätzlich überarbeitet wird.
Der
Aargauer Entscheid kommt zu einem Zeitpunkt, da sich auch in anderen Kantonen
massiver Widerstand gegen das Reformvorhaben regt. Volksinitiativen, um die Einführung
des Lehrplans 21 zu verhindern, sind in Baselland und St. Gallen bereits
lanciert, im Thurgau und Aargau sowie in Graubünden laufen entsprechende
Vorbereitungen. Nachdem der Lehrplan jahrelang von Fachleuten im Expertenkreis
erarbeitet wurde, gelangt nun also die Diskussion an die breite Öffentlichkeit.
Das freut
Ulrich Schlüer: Der SVP-Bildungspolitiker hatte vor vier Jahren einen
Gegenentwurf zum Lehrplan 21 präsentiert – noch bevor dieser fertig
ausgearbeitet war. Seither war es ruhig geworden um den
SVP-Alternativvorschlag. Doch jetzt, sagt Schlüer, werde er «als
Diskussionsgrundlage neues Gewicht erhalten». Denn der Aargauer Entscheid werde
einen Dominoeffekt auf die anderen Kantone ausüben. «Die Bildungsdirektoren
beginnen nun zu rechnen und erkennen, dass mit dem Lehrplan 21 ein grosser
finanzieller Mehraufwand verbunden ist.»
«Kritische Stimmen gehören dazu»
Trotz
dieses Widerstands ist Christian Amsler, Präsident der Deutschschweizer
Erziehungsdirektorenkonferenz, nicht beunruhigt: «Kritische Stimmen gehören bei
einem solch grossen Reformprojekt dazu.» Er räumt jedoch ein, dass ihn der
Aargauer Entscheid überrascht habe. Immerhin hätten die meisten Kantone die
Einführung des Lehrplans 21 auf das Schuljahr 2017/18 geplant. Und er schliesst
auch nicht aus, dass andere Kantone wegen ihrer Sparprogramme dem Beispiel
Aargaus folgen könnten. Dennoch sieht er keinen Anlass, vom generellen Zeitplan
abzuweichen. «Bei einem so langfristig angelegten Projekt wie dem Lehrplan 21
ist eine dreijährige Verzögerung nicht matchentscheidend.» Mehr Bedenken hat
Amsler wegen der geplanten Volksabstimmungen. «Der Lehrplan 21 ist ein
komplexes Werk, das es nicht verdient hat, an der Urne mit einem simplen Ja
oder Nein bewertet zu werden.»
Niklaus
Stöckli ist Geschäftsleitungsmitglied des Lehrerdachverbands. Bis vor kurzem
war er Präsident des Aargauer Lehrerverbands. Er glaubt nicht, dass es nun vom
Aargau ausgehend einen Dominoeffekt geben werde, und verweist auf die anderen
Nordwestschweizer Kantone, in denen keine vergleichbare Entwicklung zu
beobachten sei. Dass aber immer mehr Lehrer an vorderster Front gegen den
Lehrplan 21 mobil machten, liege an den parallel dazu laufenden Sparprogrammen,
so Stöckli. Diese Kombination gehe nicht auf: «Die Lehrer stellen sich nicht
grundsätzlich gegen Reformen im Volksschulbereich. Verbesserungen sind absolut
willkommen – aber nur, wenn sie gut gemacht und finanziell abgesichert sind.»
Der raue
Wind, der den Erziehungsdirektoren zurzeit entgegenschlage, sei zudem teilweise
selbst verschuldet: «Die Diskussion über den Lehrplan in der Öffentlichkeit
hätte mithilfe einer offensiveren Kommunikation besser geführt werden können.
Dass das Werk so lange im stillen Kämmerli erarbeitet wurde, erweist sich nun
als gefährlich für den Erfolg des Projekts», sagt Stöckli. Schlüer spricht in
diesem Zusammenhang gar von einer «inakzeptablen Geheimniskrämerei». Doch die
rechten Stimmen mit ihrer Fundamentalkritik seien nicht das Problem, so
Stöckli. Vielmehr sei die Unterstützung der Lehrer unabdingbar.
«Diskussion ohne ideologische
Scheuklappen»
Auch Roland
Reichenbach, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich,
erstaunt die Lehrplan-Opposition aus den Kantonen nicht: «Das Schweizer
Bildungssystem ist träge. Das hat Vor- und Nachteile. Der positive Effekt sind
dessen Stabilität und Verlässlichkeit. Die negative Folge ist, dass sich
rascher Wandel kaum durchsetzen lässt.» Er beobachtet, dass der Widerstand
gegen das Vorhaben grösser sei, als die Reformkräfte glaubten. Diese Kritik
müsse ernst genommen werden. Doch heute werde sie fälschlicherweise pauschal
ins konservative SVP-Lager gestellt, weshalb sich moderate Stimmen nicht
getrauten, ihre Meinung zu sagen. «Dabei müsste diese Diskussion ohne
ideologische Scheuklappen geführt werden», so Reichenbach.
Der
Bildungsforscher hat Verständnis dafür, dass sich die Kritik aus der
Lehrerschaft mehrt – schliesslich würden die Reformen die bisherige Schulpraxis
abwerten. «Die neuen Standards erwecken offenbar den Eindruck, als hätte die
bisherige Arbeit der Lehrer nicht ausgereicht.» Zudem kämen sich die Lehrer
entmündigt vor. «Die 4500 Kompetenzbeschreibungen des Lehrplans 21 werden als
Gefährdung der Autonomie in der Unterrichtsgestaltung wahrgenommen», so
Reichenbach. Aber unabhängig davon, welche konkreten Reformen dereinst
eingeführt würden: Gute Pädagogik werde auch in Zukunft nicht von einem Lehrplan,
sondern vom Engagement der Lehrpersonen abhängen.
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