15. Mai 2014

Vorbild statt Coach

Jürg Wiedemann, Baselbieter Sekundarlehrer und Landrat der Grünen, wehrt sich gegen Lernlandschaften und Wohlfühloasen in der Schule. Er setzt sich ein für einen starken Fachunterricht mit entsprechend gut ausgebildeten Lehrern. Hart ins Gericht geht er mit Bildungsdirektor Urs Wüthrich (SP), der den Lehrplan 21 noch vor seinem Abgang (Mitte 2015) einführen wolle. 




Schüler merken sofort, wenn ein Lehrer nicht sattelfest ist, Bild: Lea Hepp

"Der Lehrplan 21 ist gar nicht umsetzbar", Basler Zeitung, 15.5. von Thomas Dähler


BaZ: Bei der Abstimmung über die Schulharmonisierung hat Baselland mit hohen 90 Prozent Ja gestimmt. Jetzt müssen sich die Kantone zusammenraufen, sonst greift der Bund in die Schulhoheit der Kantone ein. Sie treten, Herr Wiedemann als Mitglied des Initiativkomitees dennoch für einen Austritt des Kantons aus dem Harmos-Konkordat ein. Weshalb?
Der Bund gibt nur Eckwerte wie die Dauer und Ziele der Bildungsstufen vor. Das Harmos-Konkordat geht deutlich weiter und verlangt eine Harmonisierung der Lehrpläne. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn dieser Lehrplan 21 zu einer echten Vereinheitlichung der Lerninhalte beitragen würde. Dies tut er aber nicht, ganz im Gegenteil. Die Schulen driften mit diesem Lehrplan weiter auseinander. Bildungsdirektor Urs Wüthrich erklärte den Lehrplan 21 für die Deutschschweizer Harmos-Kantone für verbindlich, obwohl die Gesamtregierung diesen als nicht umsetzbar einstuft.
Deswegen wollen Sie sich aus Harmos verabschieden?
Wir streben den Ausstieg aus dem Konkordat an, um den auf diffuse Kompetenzen ausgerichteten Lehrplan anzupassen und verbessern zu können. Die neue Dauer der Bildungsstufen sowie das Fremdsprachenkonzept müssen wir deswegen nicht rückgängig machen.
Ist der Lehrplan 21 bei einem Austritt aus Harmos vom Tisch? Die meisten Kantone, die hinter dem Lehrplan 21 stehen, sind heute beim Harmos-Konkordat gar nicht dabei.
Das ist richtig. Aber diese Kantone können stark vom Lehrplan 21 abweichen, wir nicht. Der Kanton Aargau etwa, der statt der neuen Sammelfächer weiterhin Einzelfächer beibehält. Ich wünsche mir, dass unser Kanton ebenfalls diesen Weg einschlägt. In der jetzigen Form besteht der Lehrplan 21 lediglich aus einem theoretischen Mammutwerk mit ­diffusen Kompetenzbeschreibungen statt konkreten Bildungsinhalten.
Gemäss der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz entscheidet jeder Kanton selbstständig, ob er den Lehrplan 21 einführen will oder nicht.
Das sieht unser Bildungsdirektor anders: Im Januar hielt er in einem Schreiben an die Schulleitungen fest, der Lehrplan 21 sei für die Harmos-Kantone verbindlich. Zwar erarbeiten und finanzieren 21 Kantone den Lehrplan 21, aber die neun Deutschschweizer Harmos-Kantone sehen in ihm den Weg, die im Konkordat in Artikel 8 vorgegebene Harmonisierung der Lehrpläne umzusetzen.
Warten Sie doch auf den neuen Bildungsdirektor! Glauben Sie nicht, dass nach einem Wechsel in der Regierung die Verknüpfung von Harmos und Lehrplan 21 etwas gelassener beurteilt wird?
Urs Wüthrich als einer der führenden Köpfe im Harmos-Kuchen wird alles daran setzen, sein Ziehkind und Lebenswerk durchzubringen, ungeachtet was für die Schulen und die Bildungslandschaft Baselland das Beste ist. Er will den Lehrplan noch vor seinem Abgang Mitte 2015 einführen. Ist im Sinne von Urs Wüthrich erst einmal alles unter Dach und Fach, würde es für seinen Nachfolger schwieriger, dies erneut umzukrempeln. Wir müssen deshalb bereits heute den Widerstand gegen seine Bildungspolitik führen, die in Richtung offene Lernlandschaften, Wohlfühloasen, Abschaffung der Anforderungsniveaus und weg von einem fundierten Fachunterricht geht.
Der Lehrplan 21 wird in der ganzen Deutschschweiz kritisiert. Weshalb konzentrieren Sie sich in Ihrem Kampf dagegen auf den Kanton Baselland?
Durch einen Ausstieg aus Harmos gruppieren wir den Bildungsraum Nordwestschweiz neu: Baselland und Aargau hier, Basel-Stadt und Solothurn dort. Dazu kommt, dass die Zeit drängt; als Vorreiterin ist das Komitee Starke Schule Baselland flexibel und kann schnell reagieren und effizient handeln. Und wenn wir anderen Kantonen als Vorbild dienen können, umso besser.
Haben Sie das überregional von einer breit abgestützten Lehrergruppe verfasste «Memorandum 550 gegen 550» bei der Vernehmlassung zum Lehrplan 21 unterstützt? Brächte es nicht mehr, überregional gegen die Philosophie des Lehrplans 21 anzukämpfen?
Ja, ich habe 550 gegen 550 mitgetragen. Ich bin aber nun einmal Kantonalpolitiker und kann auf Bundes­ebene wenig ausrichten. Im Baselbiet kann ich mich gegen den Rückschritt und Bildungsabbau am effizientesten wehren.
Die Überarbeitung des Lehrplans 21 steht noch aus.
Der Lehrplan 21 wird zwar überarbeitet, doch an der neuen ­Philosophie der Kompetenzen statt Lerninhalte wollen die Deutschschweizer Erziehungsdirektoren nichts ändern. Verheerend ist, dass alle Schüler unabhängig von ihren Zukunftsperspektiven und dem Leistungspotenzial die gleichen Kompetenzen erreichen müssen. Das ist unmöglich, der Lehrplan ist so gar nicht umsetzbar. Die einzelnen Schulen müssten sich die Lerninhalte selber überlegen und damit wäre man ja vom ursprünglichen Harmonisierungsgedanken entfernter als je zuvor. Das kann es nun wirklich nicht sein, denn damit wird der Wechsel eines Schulorts sogar schwieriger als vor Harmos.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Ich befürworte einen Rahmenlehrplan, der in jedem Fach festlegt, welcher Stoff zu welchem Zeitpunkt gelehrt wird. Genau das wäre notwendig, damit ein Kind ohne Übertrittschwierigkeiten den Schulort wechseln könnte.
Die Bildung liegt nicht in der Kompetenz des Bundes. Die Kantone müssen sich einigen. Sie sind als Kantonspolitiker gefordert.
Ja, aber das erreichte Resultat ist ungenügend. Man muss bilanzieren, dass gemeinsame Lerninhalte und damit auch Harmos gescheitert sind.
Gilt dies auch bei den Fremdsprachen, bei denen auch keine gemeinsame Lösung gefunden wurde? Bereits hat Bundesrat André Berset angekündigt, der Bund schreite notfalls ein.
Für Französisch ab der 3. Klasse habe ich mich eingesetzt, weil das Erlernen dieser Landessprache schwieriger ist als Englisch. Deshalb ist es vertretbar, mit Französisch zu beginnen. Wesentlich essenzieller als die Reihenfolge wäre jedoch, dass alle Kantone mit der gleichen Fremdsprache beginnen würden. Davon sind wir meilenweit entfernt.
Mehrere Kantone wollen auf die zweite Fremdsprache verzichten.
Darüber lässt sich diskutieren. Ich verstehe die Argumentation, insbesondere der ersten Fremdsprache in der Primarschule mehr Raum zu gewähren und mit der zweiten bis in die Sekundarschule zu warten. Damit wäre auch die Belastung der Primarlehrpersonen tragbar. Übergeordnet müsste aber eine Einigkeit über die gleiche Reihenfolge erreicht werden.
Müsste Französisch als Landessprache mit Blick auf die nationale Kohäsion den Vorrang erhalten, wie das kürzlich auch Bundesrat Berset verlangt hat?
In dieser Frage unterstütze ich Bundesrat Berset. Wichtig finde ich, dass jene Schüler, die das Potenzial haben, zwei oder gar drei Fremdsprachen zu erlernen, auch die Gelegenheit dazu erhalten. Über alles andere kann man reden.
Der Lehrplan 21 postuliert Sammelfächer, welche die traditionellen Fächer wie Geografie, Physik oder Hauswirtschaft ablösen. Was ist dagegen einzuwenden?
Das Problem ist die Fachkompetenz der Sekundarlehrpersonen. Ein Lehrer, der das neue Fach Natur und Technik unterrichten will, müsste in Chemie, Physik und Biologie fundiert ausgebildet sein – ein Riesenaufwand, um dann nur ein Fach kompetent unterrichten zu können. In der Pädagogischen Hochschule erhalten sie dafür gemäss heutiger Studienordnung eine klar ungenügende Ausbildung. Fundiertes Fachwissen wird hier zugunsten einer Schnellbleiche geopfert. Traditionelle Fächer wie Physik, Chemie, Geschichte – um nur einige zu nennen – will der Lehrplan 21 sang- und klanglos opfern, um sie in Form von unklaren Mammut­fächern wieder auferstehen zu lassen. In einigen Jahren darf man sich nicht wundern, warum die Schülerinnen und Schüler von der traditionellen Physik keine Ahnung mehr haben.
Die Baselbieter Bildungsdirektion stellt sich auf den Standpunkt, dass die nötige Kompetenz für ein Sammelfach mit einer einfachen Zusatzausbildung erworben werden kann.
Das ist ein No-Go. Lehrer können nicht kompetent unterrichten, wenn sie im Vergleich zu früher mengenmässig nur noch einen Zehntel der Fachausbildung erhalten. Das geht nur dann, wenn die Bildungsdirektion der Meinung ist, dass künftige Lehrer nichts mehr können müssen, sondern die Schüler nur noch als Coach beraten. Dies geht in Richtung Einheitsschule mit offenen Lernlandschaften – und die Bildung der Schüler geht den Bach runter.
Genügen die Sekundarlehrkräfte, die an der Pädagogischen Hochschule ausgebildet werden, den fachlichen Anforderungen nicht? Die von Ihnen lancierte Initiative geht davon aus.
Diese Absolventen sind didaktisch-methodisch sehr gut. Aber sie haben fachliche Defizite: Hintergrund- und spezifisches Wissen fehlen. Das kann man sich auf der Sekundarstufe nicht erlauben. Die Schülerinnen und Schüler merken sofort, wenn eine Lehrkraft nicht sattelfest ist. Eine Lehrperson hat eine eminente Vorbildfunktion, nicht nur Charakter und eigene Arbeitshaltung werden wahrgenommen, sondern es ist vor allem auch die Fachkompetenz, die den Schülern Vertrauen einflösst. Ansonsten schwindet der Respekt und die Lehrkraft erhält unweigerlich disziplinarische Probleme.
Mit der Initiative verlangen Sie ein Anstellungsverbot für diese Lehrkräfte.
Wir möchten, dass unsere Kinder von Lehrpersonen unterrichtet werden, die über ein ausreichendes Fachwissen verfügen. Nur dann sollen sie ein unbefristetes Arbeitsverhältnis erhalten. Das Komitee Starke Schule Baselland musste dies so formulieren. Eine Initiative, die direkt auf die Pädagogische Hochschule der vier Kantone Basel-Stadt, Baselland, Solothurn und Aargau Einfluss nähme, wäre wegen des bestehenden Staatsvertrags nicht rechtsgültig. Die Fachausbildung der Sekundarlehrpersonen soll an der Uni und eine auf ein Jahr verkürzte pädagogische Ausbildung an der Fachhochschule erfolgen. Lehrpersonen brauchen Hintergrundwissen in ihren Fächern und keine Schnell­bleiche.
Weshalb fordern Sie gleichzeitig, dass der heute verbesserte Standard bei der pädagogischen Ausbildung wieder reduziert wird?
Früher im Lehrerseminar dauerte die pädagogische Ausbildung ein Jahr, und es war keine Vollzeitausbildung. Ein Jahr an der Pädagogischen Hochschule bedeutet gegenüber früher ein Ausbau und muss ausreichen. Drei Jahre Fachausbildung an der Universität und ein weiteres Jahr an der Pädagogischen Hochschule – das ist ein ausgewogenes Verhältnis und sinnvoll. Die beiden Lehrinstitute dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, stattdessen muss man ihre unterschiedlichen Stärken ausnutzen.
Was nützen einem Sprachlehrer die Literaturvorlesungen an der Uni, wenn er doch Schülern den Sprachgebrauch im Alltag lehren will. Weshalb sind Sie gegen eine auf den Schulunterricht ausgerichtete Fachausbildung an der Pädagogischen Hochschule?
Die Fachausbildung reicht ganz einfach nicht aus. Quantität und Qualität sind derart gering, dass die jungen Lehrpersonen schon mit Defiziten an die Sekundarschulen kommen. Ich durfte an der Universität hervorragende Vorlesungen geniessen, die es mir erlaubten, das Verständnis für meine Fächer zu entwickeln. Die Universität Basel arbeitet nicht über die Köpfe der Studierenden hinweg, sondern bietet ihnen eine ausgezeichnete Ausbildung.
Die Initiative strebt eine Separatlösung für Baselland an. Weshalb treten Sie nicht in allen Kantonen gemeinsam für eine bessere Lehrerausbildung in der Nordwestschweiz ein – zusammen mit Lehrkräften, die Ihre Ansicht teilen?
Das wäre durchaus noch besser gewesen. Wir haben aber nicht die Ressourcen und nicht die Zeit dafür. Das Komitee Starke Schule Baselland ist darauf ausgerichtet, in unserem Kanton schnell und zielführend zu agieren. Immerhin ist es dem Komitee Starke Schule Baselland gelungen, die Diskussion schnell ins Rollen zu bringen.
Konkurrenziert das Komitee Starke Schule Baselland den Lehrerverband?
Nein, sicher nicht. Die Stossrichtung ist dieselbe, auch wenn wir nicht überall die gleichen Schwerpunkte setzen. Der Lehrerverband hat grosse Sympathien für den Harmos-Ausstieg entwickelt und seinen Mitgliedern empfohlen, diese Initiative zu unterschreiben.
Der Initiative für die Verbesserung der Fachausbildung begegnet er skeptisch.
Wir stehen in engem Kontakt und tauschen uns regelmässig aus, um diese eher kleinen Differenzen zu bereinigen. Wenn Kritik gegen die offizielle Bildungspolitik unseres Bildungs- direktors von verschiedenen Kreisen geäussert wird, entfaltet sie mehr Wirkung. Das gilt auch für die zahlreichen Vorstösse im Landrat, die breite Unterstützung haben und von Mitgliedern praktisch aller Fraktionen gemeinsam entwickelt wurden. Einzig die SP steht abseits, die ihrem Bildungsdirektor unkritisch folgt.
Welchen neuen Bildungsdirektor wünschen Sie sich nach dem Abgang von Urs Wüthrich?
Auch wenn Urs Wüthrich zurzeit von allen Seiten teils heftig und auch berechtigt kritisiert wird, so hat er in den vergangenen zehn Jahren auch einiges gut gemacht. Ich wünsche mir aber für die Zukunft einen Bildungsdirektor, der ein Bildungssystem anstrebt, das allen Kindern unabhängig von ihrem Leistungspotenzial gerecht wird. Ein System mit qualifizierten Lehrpersonen und einem starken Fachunterricht, in welchem alle Schülerinnen und Schüler gleichermassen gefördert und gefordert werden. Mit einem Fachunterricht, der Kinder spezifisch weiterbringt und keinen Einheitstopf anstrebt.


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