"Wir brauchen wieder mehr Zeit für die Kinder", Basler Zeitung, 8.5. von Nina Jecker
Nina Bernoulli arbeitet
seit neun Jahren als Lehrerin in Basel-Stadt. Gestern sprach sie vor fast 2400
Berufskolleginnen und -kollegen – und den meisten von ihnen aus dem Herzen.
«Anstatt in unzähligen Sitzungen zu lernen, wie man Formulare ausfüllt, sollten
wir endlich wieder mehr Zeit haben, um uns um die Kinder und den Unterricht zu
kümmern», forderte die Primarlehrerin. Für ihre klaren Worte an den anwesenden
Regierungsrat Christoph Eymann erntete sie kräftigen Applaus. «Sie traut sich,
öffentlich auszusprechen, was die meisten von uns denken», kommentierte eine
Frau im Publikum Bernoullis Kritik.
Die geht noch weiter:
Weil die Reformen von den Lehrern derart viel abverlange, bleibe kaum noch Raum
für Eigeninitiative und Innovationen. Denn diese bräuchten fünf Dinge:
Vertrauen, Motivation, Know-how, Zeit und Autonomie. Bernoulli kennt sich mit
Neuerungen aus. Die Primarlehrerin arbeitet in Kleinhüningen im Schulprojekt «4
für 2», wo vier Lehrpersonen in verschiedenen Fachbereichen gemeinsam für zwei
Klassen zuständig sind. «Das ist Innovation, die uns nicht von oben
vorgeschrieben wurde. Wir können so arbeiten, wie wir es für richtig halten.»
Aktuell mangle es an diesen Voraussetzungen. «Durch all die Veränderungen
finden wir kaum noch Zeit für Projekte.» Ständig müssten Sitzungen abgehalten
werden, deren Sinn man teilweise bezweifeln dürfe. «Ich verbringe heute viel
mehr Zeit für und in der Schule und habe nicht das Gefühl, dass dadurch mein
Unterricht besser geworden ist.» Auch die Autonomie komme in den aktuellen
Reformen zu kurz: «Uns wird von oben vorgeschrieben, wie wir zu arbeiten haben.
Dabei wissen wir Lehrer am besten, was für unseren Unterricht gut und wichtig
ist», so Bernoulli. Dies habe dazu geführt, dass es auch an der Motivation hapere:
Beim Aufbau des Projekts «4 für 2» hätten damals alle Beteiligten viele Stunden
ihrer Freizeit geopfert. «Wenn ich heute jemanden fragen würde, ob er am
Freitag nach der Schule noch ein Projekt entwickeln möchte, würde die Antwort
wohl Nein lauten.»
Eymann lädt zur
Kritikstunde
Aber nicht nur mit der
Umsetzung der Reformen, auch teilweise mit deren Inhalt rechnete Bernoulli –
unter Applaus – ab. «Es gibt viele Widersprüche. Mir kommt es vor, als ob die
verschiedenen Massnahmen in völlig voneinander getrennten Büros ausgearbeitet
worden wären.» So schätze sie die Forderung, die Kinder individuell zu fördern,
persönlich sehr. Gleichzeitig würden aber neu flächendeckende Leistungstests
wie der Check P3 durchgeführt, mit denen alle Kinder miteinander verglichen
werden. «Wie soll ich einem Kind sagen, dass es zwar leistungsmässig im
Vergleich völlig abfällt, aber individuell schon auf dem richtigen Weg ist?»
Auch Gaby Hintermann,
Präsidentin der Kantonalen Schulkonferenz Basel-Stadt, äusserte sich zum Thema
Reformen. Sie wolle gar nicht klagen. Es sei hinlänglich bekannt, dass es für
viele Lehr- und Fachpersonen eine schwierige, belastende Zeit sei und nicht wenige
«die Schnauze voll» hätten von Reformen. «Wichtig ist, trotzdem handlungsfähig
zu bleiben, anstatt ohnmächtig zuzuschauen.» Vom Erziehungsdepartement wünscht
sich Hintermann deshalb, dass mehr Zeit eingeplant wird, um einen grösseren
Teil der Lehrer einzubeziehen und die Erfahrungen aus der Praxis stärker für
den Reformprozess zu nutzen.
Erziehungsdirektor
Eymann reagierte gelassen auf die Kritik. «Eines möchte ich festhalten: Es gibt
im Erziehungsdepartement keine unheimlichen Räume, in denen wir uns neue
Möglichkeiten ausdenken, die Lehrerschaft zu quälen.» Er sei daher bereit, die
vorgebrachten Wünsche zu prüfen. Von Bernoullis Kritik möchte der Politiker
sogar noch mehr hören: Er lud die junge Lehrerin zum «Privatissimum», einer
Kritikstunde unter vier Augen, ein.
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