Hängt vom Engagement des Lehrers ab und nicht vom Lehrplan: Politische Bildung in der Schweiz, Bild: Nicola Pitaro
So soll das Politinteresse der Jugendlichen geweckt werden, Tages Anzeiger, 10.4. von Anja Burri
«Weniger Worte, mehr
Taten», forderte Pierre Maudet, Präsident der Eidgenössischen Kommission für
Kinder- und Jugendfragen, schon vor fast zehn Jahren. Damals rief der Europarat
das «Jahr der politischen Bildung» aus. Wenn das Interesse der Jugendlichen an
der Politik gesteigert werden solle, brauche es konkrete Massnahmen, sagte
Maudet im Jahr 2005. Fünf Jahre später bestätigten Wissenschaftler diesen
Befund. In einem Vergleichstest unter 37 Ländern zum
politischen Wissen und Verstehen schnitten die Schweizer Jugendlichen zwar
überdurchschnittlich gut ab und belegten hinter Ländern wie Finnland und
Dänemark Rang 5. Trotzdem verfügte jeder vierte Schweizer Schüler über
ungenügende Kenntnisse.
Beim
Zutrauen in die eigenen politischen Fähigkeiten landeten ausgerechnet die
Jugendlichen aus der Schweiz – dem Land der direkten Demokratie – auf den
hintersten Plätzen. Die Schweizer Schüler hätten es sich zum Beispiel eher
nicht zugetraut, vor der Klasse über ein soziales oder politisches Thema offen
zu sprechen, schrieben die Forscher. Und sie folgerten: «Wenn politischer
Unterricht dem Zufall überlassen wird, so ist das ein unverantwortliches
Erziehungshandeln.» Die Schule müsse dringend Raum schaffen
für die politische Bildung.
Heute,
noch einmal vier Jahre später, wird im Gespräch mit Wissenschaftlern, Lehrern
und Politikern klar: An dieser Situation hat sich wenig geändert. «Die
politische Bildung in der Schule hängt nach wie vor vom Engagement des
einzelnen Lehrers ab», sagt Christian Fallegger, Gymnasiallehrer aus Luzern.
Das sei fatal. «Demokratie kann man nur leben, wenn man sie gelernt hat.»
Initiative
für Bildungszentrum
Fallegger
war zwischen 2004 und 2007 an einer Arbeitsgruppe des Bundes beteiligt. Deren
Bemühungen, die politische Bildung der Kantone zu koordinieren, seien
versandet. «Jetzt bräuchte es den politischen Willen von Bund und Kantonen und
eine gesetzliche Grundlage», sagt er. «Graswurzel-Projekte» wie zum Beispiel
die Onlineabstimmungshilfe Easyvote von Jugendlichen für Jugendliche seien
vielversprechend, müssten aber besser bekannt gemacht und koordiniert werden.
Dazu brauche es eine zentrale, verantwortliche Stelle.
Genau
dies schwebt dem Berner SP-Ständerat Hans Stöckli vor. Als Präsident der Neuen
Helvetischen Gesellschaft (NHG) treibt er eine politische Bildungsoffensive
voran. Zum 100-Jahr-Jubiläum hat die Organisation kürzlich einen 100-Punkte-Plan
verabschiedet. Ziel ist es, in Zusammenarbeit mit dem Bund, den Kantonen,
Parteien und privaten Organisationen ein nationales Kompetenzzentrum für die
politische Bildung zu etablieren. Zurzeit sei man daran, Verbündete zu suchen,
sagt Stöckli. Im Juni lädt die NHG Vertreter aller Bundeshausfraktionen zu
einem Treffen ein.
Als
konkrete Massnahme lanciert die NHG das Projekt Abstimmungsbeobachter: Sie lädt
Jugendliche ein, am Abstimmungstag als «Wahlbeobachter» hinter die Kulissen von
Bund, Kantonen und Gemeinden zu schauen.
Zu
wenig Platz im Lehrplan 21
Auch
der Lehrplan 21, der zum ersten Mal für alle Deutschschweizer Schüler die
gleichen Lernziele festlegt, thematisiert die politische Bildung. Fachleute
reagieren allerdings ernüchtert auf den Entwurf. Der Hauptkritikpunkt betrifft
die «mangelnde Priorität»: Die politische Bildung habe keinen fixen Platz. Sie
werde je nach Stufe verschiedenen Fächern und übergeordneten Themen zugeordnet.
«Eine Thematik ohne Stundenzuteilung ist dazu verurteilt, vernachlässigt zu
werden», sagt Béatrice Ziegler, Titularprofessorin der Universität Zürich,
Professorin für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen
Hochschule Nordwestschweiz sowie Co-Leiterin des Zentrums für Demokratie Aarau.
Sie war als Mitglied der Lehrplangruppe Bildung für Nachhaltige Entwicklung
(BNE) an der Entstehung des Lehrplans 21 beteiligt.
Ziegler
kritisiert den Lehrplan 21 für die älteren Schüler: Ab der 7. Klasse vermittle
dieser zwar Werte wie Menschenrechte und Demokratie. Die Schüler lernten aber
nicht, als Bürger am politischen System der Schweiz teilzunehmen – abzustimmen,
zu wählen oder sich politisch zu engagieren. Dafür brauche es einen Grundstock
an Wissen über das politische System Schweiz und praxisnahen Unterricht, in dem
man etwa die Entstehung eines Gesetzes durchspielen könne.
Ziegler
schlägt vor, in der 8. und 9. Klasse je eine Projektwoche für politische
Bildung zu reservieren. Die Professorin rechnet nicht damit, dass die
verantwortlichen Deutschschweizer Erziehungsdirektoren (D-EDK) bei der
Überarbeitung des Lehrplans 21 der politischen Bildung mehr Platz einräumen
werden. Dafür gebe es zu wenig öffentlichen Druck. Heute stellt die D-EDK in
Zürich den Fahrplan zur Überarbeitung vor.
Im
Zuge des neuen Lehrplans entsteht bis Ende 2016 auch ein neues Lehrmittel für
Geschichte und politische Bildung. Dieses wird unter anderem die im Lehrplan
vorgesehenen Themen Demokratie, Menschenrechte und das Verhältnis der Schweiz
zu Europa abdecken, wie Historiker und Projektleiter Jan Hodel von der
Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz sagt. «Häufig erfahren Jugendliche
Politik als etwas, das über ihre Köpfe hinweg passiert», sagt er. Die Schule
habe die Aufgabe, den Übergang vom unbeteiligten Zuschauer zum Teilnehmer zu
begleiten. «Das ist schwieriger, als es tönt.»
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