"Die Lehrpersonen sind viel vorsichtiger geworden", Südostschweiz, 11.4. von Rinaldo Tibolla
Herr Zemp, wieso
positioniert sich der Lehrerdachverband (LCH) gegen die Volksinitiative
«Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen»?
Beat
W. Zemp: Wenn ein 18-jähriger Gymnasiast eine 15-jährige Schülerin
einvernehmlich küsst, wird er im juristischen Sinn zu einer Person, welche die
sexuelle Unversehrtheit eines Kindes beeinträchtigt. Der Kuss müsste als
Sexualdelikt bestraft werden und der Betroffene würde ein lebenslängliches
Berufsverbot im Umgang mit Kindern erhalten. Das wäre völlig
unverhältnismässig. Zudem müssten Lehrpersonen ihre jugendlichen Schülerinnen
und Schüler auf dem Schulareal vor solchen Gesetzesverstössen und Verurteilungen
schützen und persönliche Situationen überwachen. Das geht zu weit.
Mit einem Ja zur Initiative hätten Sie aber die Gewissheit, dass
kein Pädokrimineller mehr unterrichten kann...
Diese
Gewissheit haben wir jetzt schon. Wenn ein pädophiler Lehrer eine strafbare
Handlung begeht, wird ihm das Lehrdiplom entzogen und er landet auf der
schwarzen Liste der Erziehungsdirektorenkonferenz. Das entspricht einem totalen
Berufsverbot als Lehrer.
Wie ist die Stimmung bei den Lehrern?
Wir
machen keine Umfragen vor Abstimmungen. Jede Lehrperson soll selber
entscheiden, ob sie diese Initiative unterstützen will oder nicht. In der
Stellungnahme des LCH, die wir zur Zeit ausarbeiten, weisen wir aber auf die
Vorteile der Gesetze hin, die das Parlament ausgearbeitet hat. Diese schützen
Kinder nicht nur vor sexuellen Übergriffen sondern auch vor körperlicher und
psychischer Gewalt.
«Wir können nicht in die Köpfe der Lehrer
schauen»
Es hat zu wenig Lehrer. Gerade männliche Lehrpersonen sind
Mangelware. Die Pädophilen-Debatte ist nicht hilfreich...
Der
Lehrerberuf ist auf der Vorschul- und Primarstufe zu einem Lehrerinnenberuf
geworden. 1964 lag die Männerquote noch bei 50 Prozent und sank dann
kontinuierlich auf vier Prozent in den heutigen Primarschulen ab. Aus
entwicklungspsychologischer Sicht ist dies insbesondere für die Knaben nicht
optimal. Daher unterstützen wir Projekte, die wieder mehr Männer als
Primarlehrer gewinnen wollen. Diese Männer dann alle unter den Generalverdacht
Pädophilie zu stellen, wäre etwa so, wie wenn man alle Bankangestellten als
mutmassliche Betrüger verdächtigen würde.
Der LCH will also mehr Männer in Lehrberufen?
Ja.
Aber wer pädophile Neigungen verspürt, soll am besten einen anderen Beruf
wählen, bei dem er nicht mit der «geliebten» Altersstufe in Kontakt kommt.
Wie merkt denn ein Schulleiter, dass ein Lehrer pädophile
Neigungen hat?
Solange
jemand nicht straffällig geworden ist, können wir es auch nicht wissen. Wir
können nicht in die Köpfe hineinschauen. Es gibt sicherlich pädophile Lehrer,
Kinderärzte, Pfarrer, Sporttrainer oder Bademeister. Aber solange sie keine
sexuellen Übergriffe machen, bleiben sie unbehelligt. Erst wenn ein Lehrer eine
strafbare Handlung begeht, hat er die rote Linie überschritten. Solche Lehrer
werden aus unserem Verband ausgeschlossen und landen auf der schwarzen Liste.
Wie gehen die pädagogischen Hochschulen mit dem Thema «Pädophilie»
in der Ausbildung um?
Das
Thema wird im Zusammenhang mit der Beziehungsgestaltung zwischen Lehrenden und
Lernenden behandelt. Ein Lehrer muss seine Schüler im Sinne von Pestalozzi
«gern haben», damit überhaupt eine gegenseitige positive Beziehung aufgebaut
werden kann. Dazu braucht es aber keine körperliche Nähe.
Lehrer dürfen also ihre Schüler nicht mehr berühren?
Er
darf ihnen die Hand geben oder mit der Hand auf die Schulter klopfen, wenn der
Schüler etwas gut gemacht hat. Körperliche Berührungen sind aber möglichst zu
vermeiden.
Wie fest ist der Gedanke bei den Lehrern im Hinterkopf, dass sie
wegen einer möglicherweise gut gemeinten Geste auf einmal als Pädophile gelten
könnten?
Die
Sensibilisierung für dieses Thema ist in den letzten Jahren stark gestiegen.
Lehrpersonen sind viel vorsichtiger geworden. Sie vermeiden heute möglichst
alle Situationen, die dazu führen könnten, dass man ihnen sexuelle Absichten
vorwerfen könnte. Leider gibt es auch tragische Fälle, bei denen Lehrern zu
Unrecht sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden und die dann erst Jahre später
vor Gericht rehabilitiert wurden.
Die Initianten sagen, mit einem Ja zur Initiative werden die Opfer
geschützt. Was unternimmt der Lehrerverband diesbezüglich?
Die
meisten Übergriffe ereignen sich im familiären, kirchlichen oder sportlichen
Umfeld – nicht in der Schule. Oftmals merken Lehrpersonen aber durch
Verhaltensänderungen bei Kindern und Jugendlichen, dass etwas nicht mehr
stimmt, und können dann reagieren. Der LCH hat 1999 Standesregeln
verabschiedet, die eine Nulltoleranz bei sexuellen oder körperlichen
Übergriffen vorschreiben, auch wenn ein Täter im eigenen Kollegium ist.
Zu welchen Konsequenzen hat die seit Jahren geführte Diskussion um
Pädophilie im Lehrerberuf geführt? Immer wieder hört man von Lehrern, die ihre
Schüler nicht mehr im Geräteturnen unterrichten, weil sie sich nicht mehr
getrauen, die nötigen Hilfestellungen zu leisten...
Wir
haben dazu in Zusammenarbeit mit kantonalen Fachstellen einen Ratgeber
herausgegeben, der den konkreten Umgang mit heiklen Situationen im Schulalltag
beschreibt. Hilfestellungen im Sportunterricht sind durchaus möglich, ohne dass
es zu Verletzungen der Intimsphäre von Schülerinnen und Schülern kommt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen