Zwischen Fragen zu
Biberschäden und polnischen Bahnschwellen deutete Bundesrat Alain Berset in der
letzten Session kurzerhand das Schweizer Sprachengesetz um. Im Nationalrat lief
die Fragestunde, und die Parlamentarier hörten nur mit einem Ohr zu, als er den
folgenden Satz sagte: «Der Bundesrat ist überzeugt, dass das Erlernen einer zweiten
Landessprache bereits ab der Primarschule nötig und überdies für den nationalen
Zusammenhalt von wesentlicher Bedeutung ist.» Alain Berset, der Fribourger,
sprach deutsch und wirkte deshalb wie sein eigenes, gutes Beispiel.
Er trat an gegen die
Pläne in sieben Deutschschweizer Kantonen, in der Primarschule nur noch eine
statt zwei Fremdsprachen zu unterrichten. Pläne, die Berset und der Bundesrat
als Angriff aufs Französisch werten.
Der Kulturminister
wollte mit seiner Rede Leute ansprechen, die gar nicht im Saal sassen.
All die Lehrer zum Beispiel, die nur noch eine Fremdsprache auf der
Primarschule wollen und deshalb in den Präsidien kantonaler Initiativen sitzen.
Oder mich.
Stop it! Basler Zeitung, 4.4. von Samuel Tanner
Ich bin 22 Jahre alt und
besuchte vor etwas mehr als einem Jahrzehnt die Primarschule in Marbach (SG),
einem kleinen Dorf im St. Galler Rheintal, jeder
Vierte im Turnverein. Am ersten Schultag der fünften Klasse lagen zwei neue,
dicke Schulbücher auf meinem Pult: «Envol 5» und ein «Cahier d’Activités». Ab
sofort gehörten zwei Französisch-Lektionen zur Schulwoche, eine davon um 7.00
Uhr. Meine Liebe zur Sprache der Westschweiz scheiterte aber nicht nur am
Stundenplan.
Das Lehrmittel, «Envol»,
ist noch heute im Einsatz und wurde einst mit der Versprechung angekündigt, es
fördere ein «erstes spielerisches Herantasten an die Sprache». Es ist ein Herantasten
auf Hunderten von Seiten.
Die Kapitel heissen: «A
l’école, on rigole». Oder: «Elle est chouette, mon école!» Auf den letzten Seiten
des Buches stand, dass ich bald den französischen Laut «qu» und sein
Schriftbild beherrschen würde sowie die Beschaffenheit eines Gegenstandes
erfragen könne. Ich lernte Nachmittage lang Wörtchen auswendig und wusste am
Ende, was Synchron-Schlittschuhlaufen auf Französisch heisst. Wahrscheinlich
habe ich das Wort später häufig gebraucht.
Zu Beginn der Stunde
sangen wir manchmal ein Lied, es hiess «Un kilomètre à pied, ça use, ça use».
Frei übersetzt: Ein Kilometer zu Fuss ist zermürbend. Mit dem Französisch ging
es mir ähnlich. Am Ende der zwei Jahre Frühunterricht hatten wir zwei dicke
Bücher durchgearbeitet, hatten wir alles und doch nichts kapiert.
Ça use, ça use.
Meinen Freunden ging es
ähnlich, wir tauchten zwei Stunden pro Woche in eine Welt ein, mit der wir
sonst nicht in Berührung kamen. Unsere Popstars sangen englisch, den Rapper
Stress gab es noch nicht. Erst in der Oberstufe lernte ich leichter, wir
verbrachten eine Austauschwoche im Welschland und Ferien in Lausanne – es
gab jetzt einen Grund fürs Wörtchenlernen.
Als sich meine Klasse
auflöste, wechselten meine Freunde in die grossen Industriebetriebe des Tals,
auf ihren Visitenkarten standen bald die Slogans der Arbeitgeber. Think different. When it has to be right. Turn ideas into reality.
Zum Ende meiner Lehre
merkte ich, dass ich nach acht Jahren Französisch knapp ein Buch lesen konnte.
Nach fünf Jahren Englisch wäre ich imstande gewesen, eines zu schreiben.
Die Buben und Mädchen,
die heute in meinem früheren Schulzimmer sitzen, lernen ab der dritten Klasse
Englisch und ab der fünften Französisch. Die zweite Fremdsprache, Englisch, kam
in den meisten Kantonen der Deutschschweiz dazu, weil die Politiker Angst
hatten vor einer zweiklassigen Zukunft ab der Oberstufe. Hier die privat in
Englisch geförderten Musterschüler – da die Zweitklassschüler ohne
Einzelunterricht und Vorkenntnisse.
Der «Envol»-Effekt
Nun, einige Jahre und
noch mehr Erkenntnisse später, wollen viele Lehrer zurück zu nur mehr einer
Fremdsprache auf der Primarstufe. Sie sehen, dass etwa ein Drittel der Schüler
überfordert ist. Dass Kinder lernzielbefreit werden. Und dass die Grundlagen in
der Muttersprache dürftiger geworden sind. Es gibt mittlerweile Schüler, die im
Französisch scheitern, weil sie die deutsche Aufgabenstellung nicht verstehen.
Das ist der
«Envol»-Effekt: Die Kinder arbeiten sich durch immer mehr und immer dickere
Schulbücher. Sie lernen alles und doch nichts.
Vor «Envol» gab es ein
Lehrmittel mit dem Namen «C’est pour toi». Es war ein schmales, ein Zentimeter
dickes Büchlein. Für beide Primarschuljahre. In diese Richtung sollten wir
gehen, finde ich: Weniger Sprachen, weniger Stoff.
Im Schweizer
Sprachengesetz steht, dass Schülerinnen und Schüler «am Ende der
obligatorischen Schulzeit über Kompetenzen in mindestens einer zweiten
Landessprache und einer weiteren Fremdsprache verfügen» müssen. Bundesrat Alain
Berset bog sich diesen Artikel an jenem Montag in der Fragestunde des
Nationalrats mal eben kurz zurecht. Er ersetzte obligatorische Schulzeit durch
Primarschule und machte die bildungspolitische Frage zu einer
staatspolitischen. Es ist das Stilmittel verzweifelter Politiker: Aus Fragen
Grundsatzfragen machen.
Berset und der Bundesrat
irren sich. Der nationale Zusammenhalt hängt – wenn überhaupt – nicht
davon ab, wann man mit dem Französischunterricht beginnt, sondern ob. Das
Gesetz verbietet es nicht, mit einer der beiden Fremdsprachen erst in der Oberstufe
zu beginnen.
Und Englisch eignet
sich nun mal besser als erste Fremdsprache, sie ist dem Deutschen und dem Leben
der Kinder näher. Sie ist, ob man das gut findet oder nicht, die Sprache der
Zukunft. Französisch reden die Dichter, Englisch die Musiker. Noch Fragen?
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