24. März 2014

Mehr Zentralismus oder Föderalismus?

Ob Lehrplan 21 oder Fremdsprachen: Die Schule wird 2015 ein zentrales Wahlkampfthema. Die Lehrer und Nationalräte Matthias Aebischer (SP) und Peter Keller (SVP) bringen ihre Parteien in Position.



Aebischer und Keller streiten sich um die Fremdsprachen an der Primarschule, Bild: Béatrice Devènes

"Haben Sie eigentlich Latein gelernt, Herr Aebischer?", Tages Anzeiger, 24.3. von Anja Burri


In sieben Kantonen laufen Bestrebungen, die zweite Fremdsprache aus der Primarschule zu kippen. Sind diese Vorstösse oder Volksinitiativen erfolgreich, werden viele Deutschschweizer Primarschüler nur noch Englisch lernen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Matthias Aebischer: Das geht gar nicht. Die Sprachen halten unsere Nation zusammen. Eine Sprache lernen heisst auch, eine Kultur kennen zu lernen. Wenn sich die Bewohner aus dem Tessin, der Romandie und der Deutschschweiz nicht mehr verständigen können, verstehen wir uns gar nicht mehr.
Peter Keller: Das war nun eine typische Politiker-Antwort, Herr Aebischer. Sie stilisieren die Fremdsprachenfrage zur nationalen Überlebensfrage. Das finde ich den Schülerinnen und Schülern gegenüber unfair. Denn es sollte um pädagogische, um sachliche Argumente gehen. Ich habe selber am Gymnasium unterrichtet. Dort sagten mir die Französischlehrer, nach vier Wochen Unterricht merke man den Siebtklässlern nicht mehr an, ob sie zuvor Frühfranzösisch hatten oder nicht.
Aebischer: Es ist aber auch wissenschaftlich erwiesen, dass Kinder möglichst früh damit beginnen sollten, Fremdsprachen zu lernen. Zwei Fremdsprachen in der Primarschule sind möglich. Guter Unterricht kostet aber Geld. Wenn Sie als Lehrer nur eine halbe Klasse mit zehn Schülern unterrichten, können Sie auch Kinder mit Lernschwierigkeiten abholen.
Keller: Genau mit dieser romantischen Vorstellung haben sich die kantonalen Erziehungsdirektoren vor ein paar Jahren darauf geeinigt, zwei Fremdsprachen in die Primarschule zu packen. Dabei hätten Primarschüler schon genügend zu tun mit der deutschen Sprache: Was ist ein Subjekt, ein Objekt oder ein Verb? Wie ist ein Satz aufgebaut? Erst wer die eigene Grammatik verstanden hat, kann eine Fremdsprache lernen.
Aebischer: Sie drücken sich um eine Antwort, Herr Keller. Finden Sie es nun gut, dass Englisch den Landessprachen vorgezogen wird?
Keller: Ich bin strikt dagegen, dass wir Politiker den Kantonen dreinreden. Wir leben in einem föderalistischen Land.
Aebischer: Das heisst, wenn die Primarschüler in einem Kanton nur noch Englisch lernen, ist das für Sie o.k.?
Keller: Ja, das ist o.k. Sie benutzen übrigens gerade ein englisches Wort. Haben Sie eigentlich Latein gelernt?
Aebischer: Nein.
Keller: Sehen Sie: Latein war während 2000 Jahren die europäische Kultursprache. Wenn Sie das nicht können, verstehen Sie Europa nicht, und Sie gefährden den europäischen Zusammenhalt.
Aebischer: Tipps von einem SVPler zum europäischen Zusammenhalt sind zum jetzigen Zeitpunkt herzlich willkommen.
Bundesrat Berset droht, den Französisch- oder Italienischunterricht in der Primarschule durchzusetzen.

Keller: Das ist eine Drohung ohne jede Grundlage. Denn das Harmonisierungskonkordat Harmos kam nicht zustande. Zudem gibt es nicht zuletzt von den Lehrern einen enormen Widerstand gegen den Lehrplan 21, der die Harmonisierung ebenfalls vorantreiben sollte. Diese ganzen Harmonisierungsbemühungen sind gescheitert. Punkt.
Aebischer: 15 Kantone sind Harmos beigetreten, und sie repräsentieren drei Viertel aller Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Nun müssen wir verhindern, dass ein Kanton vorprescht und die zweite Fremdsprache aus der Primarschule verbannt. Solch ein eigenmächtiges Handeln haben wir schon einmal erlebt, als der Kanton Zürich das Frühenglisch einführte. Das Resultat ist ein Flickenteppich beim Fremdsprachunterricht. Ich fordere, dass alle Kantone das Sprachengesetz und den Verfassungsartikel zur Harmonisierung der Bildung einhalten.
Keller: Vorher sangen Sie das Loblied auf die Sprachenvielfalt der Schweiz. Nun drehen Sie es plötzlich um und kritisieren den Flickenteppich.
Aebischer: Wir haben nun einmal ein Sprachengesetz, das bestimmt: Wer die obligatorische Schule nach neun Jahren verlässt, muss mindestens eine zweite Landessprache gelernt haben.
Keller: Richtig.
Aebischer: Wenn nun die Primarschüler im Kanton Nidwalden nur noch Englisch lernen, dann ist das nicht gesetzeskonform.
Keller: Sie irren. Die Kinder müssen die zweite Landessprache erst nach der obligatorischen Schulzeit beherrschen. Es reicht, wenn die Schüler erst in der siebten Klasse beginnen. Sie und Herr Berset interpretieren das Gesetz um.
Aebischer: In gewissen Kantonen müssen die Schüler nur ein Jahr lang die zweite Fremdsprache – nämlich Französisch oder Italienisch – lernen. Dann haben sie die Möglichkeit, das Fach wieder abzuwählen. Das ist doch nur noch Pseudo-Sprachenunterricht – und damit ein Gesetzesverstoss.
Keller: Auch ich bedaure diese Entwicklung. Aber die Kantone handeln aus der Not heraus. Gehen Sie mal in die Schulen in Problemquartieren. Heute gibt es Neuntklässler, die Mathematikaufgaben nicht lösen können, weil sie die auf Deutsch gestellte Aufgabe nicht verstehen. So sieht die Realität aus.
Es gibt nicht nur das Sprachengesetz, sondern auch einen Verfassungsartikel, der verlangt, dass die Kantone die Bildungsinhalte einander angleichen. Gelingt dies bis 2015 nicht, ist der Bundesrat verpflichtet, einzugreifen. Das Referendum gilt als sicher. Kann sich die Schweiz eine solche Abstimmung leisten? 

Aebischer: Das wäre eine Katastrophe. In 12 Kantonen lernen die Primarschüler heute zuerst eine Landessprache; in 14 Kantonen ist Englisch die erste Fremdsprache. Wir haben mit der Abstimmung über die SVP-Masseneinwanderungsinitiative einen Vorgeschmack erhalten, was es heisst, wenn sich die Hälfte der Bevölkerung missverstanden fühlt. Dann drohen Zustände wie in Belgien, einem Land, das sich in einem riesigen Sprachenstreit befindet. Dort muss jede Partei zwei Abteilungen führen – eine französisch- und eine flämischsprachige.
Keller: Belgien ist ein sehr gutes Beispiel: Das ist ein zentralisiertes oder eben «harmonisiertes» Land, das seinen Landesteilen viel zu wenig Freiheiten lässt. Genau darin liegt die Ursache dieser kulturellen Konflikte. Deshalb kann ich es nicht begreifen, dass man nun auch in der Schweiz beginnt, solche sensiblen Fragen von oben herab zu diktieren. Mit diesem Vorgehen wird es nur Verlierer geben.


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