Aebischer und Keller streiten sich um die Fremdsprachen an der Primarschule, Bild: Béatrice Devènes
"Haben Sie eigentlich Latein gelernt, Herr Aebischer?", Tages Anzeiger, 24.3. von Anja Burri
In sieben Kantonen laufen Bestrebungen, die zweite Fremdsprache
aus der Primarschule zu kippen. Sind diese Vorstösse oder Volksinitiativen
erfolgreich, werden viele Deutschschweizer Primarschüler nur noch Englisch
lernen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Matthias Aebischer: Das geht gar nicht. Die Sprachen halten unsere Nation zusammen. Eine Sprache lernen heisst auch, eine Kultur kennen zu lernen. Wenn sich die Bewohner aus dem Tessin, der Romandie und der Deutschschweiz nicht mehr verständigen können, verstehen wir uns gar nicht mehr.
Matthias Aebischer: Das geht gar nicht. Die Sprachen halten unsere Nation zusammen. Eine Sprache lernen heisst auch, eine Kultur kennen zu lernen. Wenn sich die Bewohner aus dem Tessin, der Romandie und der Deutschschweiz nicht mehr verständigen können, verstehen wir uns gar nicht mehr.
Peter Keller: Das war nun eine typische Politiker-Antwort, Herr Aebischer. Sie
stilisieren die Fremdsprachenfrage zur nationalen Überlebensfrage. Das finde
ich den Schülerinnen und Schülern gegenüber unfair. Denn es sollte um
pädagogische, um sachliche Argumente gehen. Ich habe selber am Gymnasium
unterrichtet. Dort sagten mir die Französischlehrer, nach vier Wochen
Unterricht merke man den Siebtklässlern nicht mehr an, ob sie zuvor
Frühfranzösisch hatten oder nicht.
Aebischer: Es ist aber auch wissenschaftlich erwiesen, dass Kinder
möglichst früh damit beginnen sollten, Fremdsprachen zu lernen. Zwei
Fremdsprachen in der Primarschule sind möglich. Guter Unterricht kostet aber
Geld. Wenn Sie als Lehrer nur eine halbe Klasse mit zehn Schülern unterrichten,
können Sie auch Kinder mit Lernschwierigkeiten abholen.
Keller: Genau mit dieser
romantischen Vorstellung haben sich die kantonalen Erziehungsdirektoren vor ein
paar Jahren darauf geeinigt, zwei Fremdsprachen in die Primarschule zu packen.
Dabei hätten Primarschüler schon genügend zu tun mit der deutschen Sprache: Was
ist ein Subjekt, ein Objekt oder ein Verb? Wie ist ein Satz aufgebaut? Erst wer
die eigene Grammatik verstanden hat, kann eine Fremdsprache lernen.
Aebischer: Sie drücken sich um eine
Antwort, Herr Keller. Finden Sie es nun gut, dass Englisch den Landessprachen
vorgezogen wird?
Keller: Ich bin strikt dagegen,
dass wir Politiker den Kantonen dreinreden. Wir leben in einem föderalistischen
Land.
Aebischer: Das heisst, wenn die Primarschüler in einem Kanton nur noch
Englisch lernen, ist das für Sie o.k.?
Keller: Ja, das ist o.k. Sie
benutzen übrigens gerade ein englisches Wort. Haben Sie eigentlich Latein
gelernt?
Aebischer: Nein.
Keller: Sehen Sie: Latein war
während 2000 Jahren die europäische Kultursprache. Wenn Sie das nicht können,
verstehen Sie Europa nicht, und Sie gefährden den europäischen Zusammenhalt.
Aebischer: Tipps von einem SVPler zum europäischen Zusammenhalt sind zum
jetzigen Zeitpunkt herzlich willkommen.
Bundesrat Berset droht, den Französisch- oder
Italienischunterricht in der Primarschule durchzusetzen.
Keller: Das ist eine Drohung ohne jede Grundlage. Denn das Harmonisierungskonkordat Harmos kam nicht zustande. Zudem gibt es nicht zuletzt von den Lehrern einen enormen Widerstand gegen den Lehrplan 21, der die Harmonisierung ebenfalls vorantreiben sollte. Diese ganzen Harmonisierungsbemühungen sind gescheitert. Punkt.
Keller: Das ist eine Drohung ohne jede Grundlage. Denn das Harmonisierungskonkordat Harmos kam nicht zustande. Zudem gibt es nicht zuletzt von den Lehrern einen enormen Widerstand gegen den Lehrplan 21, der die Harmonisierung ebenfalls vorantreiben sollte. Diese ganzen Harmonisierungsbemühungen sind gescheitert. Punkt.
Aebischer: 15 Kantone sind Harmos beigetreten, und sie repräsentieren drei
Viertel aller Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Nun müssen wir
verhindern, dass ein Kanton vorprescht und die zweite Fremdsprache aus der
Primarschule verbannt. Solch ein eigenmächtiges Handeln haben wir schon einmal
erlebt, als der Kanton Zürich das Frühenglisch einführte. Das Resultat ist ein
Flickenteppich beim Fremdsprachunterricht. Ich fordere, dass alle Kantone das
Sprachengesetz und den Verfassungsartikel zur Harmonisierung der Bildung
einhalten.
Keller: Vorher sangen Sie das Loblied auf die Sprachenvielfalt der
Schweiz. Nun drehen Sie es plötzlich um und kritisieren den Flickenteppich.
Aebischer: Wir haben nun einmal ein Sprachengesetz, das bestimmt: Wer die
obligatorische Schule nach neun Jahren verlässt, muss mindestens eine zweite
Landessprache gelernt haben.
Keller: Richtig.
Aebischer: Wenn nun die Primarschüler
im Kanton Nidwalden nur noch Englisch lernen, dann ist das nicht
gesetzeskonform.
Keller: Sie irren. Die Kinder
müssen die zweite Landessprache erst nach der obligatorischen Schulzeit
beherrschen. Es reicht, wenn die Schüler erst in der siebten Klasse beginnen.
Sie und Herr Berset interpretieren das Gesetz um.
Aebischer: In gewissen Kantonen müssen die Schüler nur ein Jahr lang die
zweite Fremdsprache – nämlich Französisch oder Italienisch – lernen. Dann haben
sie die Möglichkeit, das Fach wieder abzuwählen. Das ist doch nur noch
Pseudo-Sprachenunterricht – und damit ein Gesetzesverstoss.
Keller: Auch ich bedaure diese Entwicklung. Aber die Kantone handeln aus
der Not heraus. Gehen Sie mal in die Schulen in Problemquartieren. Heute gibt
es Neuntklässler, die Mathematikaufgaben nicht lösen können, weil sie die auf
Deutsch gestellte Aufgabe nicht verstehen. So sieht die Realität aus.
Es gibt nicht nur das Sprachengesetz, sondern
auch einen Verfassungsartikel, der verlangt, dass die Kantone die
Bildungsinhalte einander angleichen. Gelingt dies bis 2015 nicht, ist der
Bundesrat verpflichtet, einzugreifen. Das Referendum gilt als sicher. Kann sich
die Schweiz eine solche Abstimmung leisten?
Aebischer: Das wäre eine Katastrophe. In 12 Kantonen lernen die Primarschüler heute zuerst eine Landessprache; in 14 Kantonen ist Englisch die erste Fremdsprache. Wir haben mit der Abstimmung über die SVP-Masseneinwanderungsinitiative einen Vorgeschmack erhalten, was es heisst, wenn sich die Hälfte der Bevölkerung missverstanden fühlt. Dann drohen Zustände wie in Belgien, einem Land, das sich in einem riesigen Sprachenstreit befindet. Dort muss jede Partei zwei Abteilungen führen – eine französisch- und eine flämischsprachige.
Aebischer: Das wäre eine Katastrophe. In 12 Kantonen lernen die Primarschüler heute zuerst eine Landessprache; in 14 Kantonen ist Englisch die erste Fremdsprache. Wir haben mit der Abstimmung über die SVP-Masseneinwanderungsinitiative einen Vorgeschmack erhalten, was es heisst, wenn sich die Hälfte der Bevölkerung missverstanden fühlt. Dann drohen Zustände wie in Belgien, einem Land, das sich in einem riesigen Sprachenstreit befindet. Dort muss jede Partei zwei Abteilungen führen – eine französisch- und eine flämischsprachige.
Keller: Belgien ist ein sehr gutes
Beispiel: Das ist ein zentralisiertes oder eben «harmonisiertes» Land, das
seinen Landesteilen viel zu wenig Freiheiten lässt. Genau darin liegt die
Ursache dieser kulturellen Konflikte. Deshalb kann ich es nicht begreifen, dass
man nun auch in der Schweiz beginnt, solche sensiblen Fragen von oben herab zu
diktieren. Mit diesem Vorgehen wird es nur Verlierer geben.
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