30. März 2014

Industrialisiertes Schulsystem begünstigt Ritalin-Abgabe

Ritalin sei in 95 Prozent aller Fälle überflüssig, sagt Uno-Berater Pascal Rudin. ADHS werde als Krankheit definiert, lasse sich aber medizinisch kaum messen. Nun wird ein Eingreifen der Uno erwartet, die der Schweiz eine Einschränkung des Ritalin-Konsums empfehlen wird. 
Rudin denkt, dass individuellere Ansätze für die Schüler helfen könnten, der exzessiven Verschreibung von Ritalin einen Riegel vorzuschieben.



Rudin: Ritalinkonsum sollte massiv reduziert werden, Bild: Tomas Wüthrich


"Ritalin ist fast immer überflüssig", NZZaS, 30.3. von Sarah Nowotny



NZZ am Sonntag: Das Medikament Ritalin und ähnliche Mittel werden Kindern mit ADHS - dem Zappelphilipp-Syndrom - weit häufiger verschrieben als früher. Die Uno befasst sich nun auch mit dem Thema Ritalin. Warum?
Pascal Rudin: Das Problem ist, dass Ritalin verwendet wird, um eine Störung zu behandeln. Die Kernfrage lautet also: Was ist unser Verständnis von Störung? Klar ist, dass ein Kind im schulischen Umfeld relativ schnell einmal stören kann. Aber das heisst noch nicht, dass es eine Störung im medizinischen Sinn hat. Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS wird als Krankheit definiert, lässt sich aber medizinisch kaum messen. Es werden also Kinder stigmatisiert, nur weil Ritalin kurzfristig funktioniert und effizient ist. Die Uno dürfte in diesem Zusammenhang auch auf grundlegende ethische Prinzipien verweisen: Ärzte sollten uns therapieren, nicht unsere Leistung steigern.
Heisst das, die Verschreibung von Ritalin ist nie berechtigt?
Doch, Ritalin ist dann berechtigt, wenn man eine echte biologisch-medizinische Grundlage für die Verschreibung hat. Dann kann es nützlicher Teil einer umfassenden Therapie sein. Ich gehe davon aus, dass dies nur bei drei bis fünf Prozent der Kinder, die heute Ritalin einnehmen, der Fall ist. Anders gesagt: Ritalin ist in 95 Prozent der Fälle - fast immer - überflüssig.
Kinderärzte und Kinderpsychiater arbeiten also komplett falsch, ja sogar fahrlässig?
Das Problem ist, dass Kinderärzte - im Gegensatz zu Kinderpsychiatern - nicht ausgebildet sind, um ADHS zu diagnostizieren und zu behandeln. Denn es ist eine psychische Erkrankung. Allerdings liegt es mir fern, den Ärzten Schuld zuzuweisen. Denn diese bekämpfen lediglich jene Symptome, die die Gesellschaft bekämpft haben möchte. Was im Fall von ADHS übrigens ein relativ neues Phänomen ist; abweichendes Verhalten wird bei Kindern erst seit etwa 20 Jahren in diesem Ausmass medikamentös behandelt.
Vielleicht kann man ADHS heute aber auch einfach besser diagnostizieren und somit behandeln.
Vielmehr ist es so, dass sich die Diagnosekriterien im Lauf der Zeit verändert haben, die Schwelle für eine ADHS-Diagnose wurde laufend nach unten gesetzt. Früher ging man davon aus, dass die Symptome mindestens ein Jahr lang akut vorkommen und untragbar sein müssen, damit von ADHS gesprochen werden kann. Inzwischen reicht ein halbes Jahr.
Unnötiger Ritalin-Konsum ist ja noch nicht per se schädlich.
Das Medikament kann starke Nebenwirkungen haben - zum Beispiel Wachstumsstörungen, Appetitlosigkeit und Suizidgedanken. Man geht zudem davon aus, dass Ritalin langfristig Parkinson begünstigen könnte.
Wird die Uno der Schweiz empfehlen, den Ritalin-Konsum einzuschränken?
Wahrscheinlich schon. Die Uno wird zwar sagen, dass es das Krankheitsbild ADHS gibt und Ritalin deshalb seine Berechtigung hat. Aber der Konsum sollte massiv reduziert werden. Ein erster Schritt, zu dem die Uno raten wird, ist die Erstellung von detaillierten Statistiken, um die Lage zu erfassen. Auch zur Diagnose-Praxis wird sie sich äussern. Es braucht nämlich seriöse Abklärungen. Heute verschreiben manche Ärzte bereits nach einem halbstündigen Gespräch Ritalin. Schliesslich wird sie an die Kinderrechte, etwa das Recht auf Selbstbestimmung, appellieren.
Was muss geschehen, damit der aus Ihrer Sicht exzessiven Verschreibung von Ritalin ein Riegel geschoben werden kann?
Man muss sicher bei der Schule ansetzen und diese vermehrt auf die Bedürfnisse der Kinder ausrichten. Die vermeintlichen ADHS-Kinder sind oft in der Schule nicht tragbar. Das kann aber viele Ursachen haben, ist oft sogar entwicklungspsychologisch gesehen ganz normal. Früher wurde ein solches Verhalten auch als normal angesehen. Aber heute wird es schnell einmal für pathologisch erklärt, weil das Schulsystem zu stark die Erfordernisse der Wirtschaft berücksichtigt, und zwar schon bei ganz jungen Kindern.
Was müsste die Schule denn besser machen?
Es braucht andere, individuellere Ansätze für die Schüler. Heute haben wir sozusagen ein industrialisiertes Schulsystem. Alle Siebenjährigen werden eingeschult, lernen nach demselben Plan dasselbe. Dort passen sogenannte ADHS-Kinder nun einmal nicht dazu; oft sind sie ausgesprochen kreativ und verspielt. Deshalb sollten wir die Schule mehr auf das gemeinsame Lernen ausrichten. Kinder müssten stärker gemäss ihren Bedürfnissen und Interessen lernen können. Natürlich muss das Ziel weiterhin sein, dass alle Schreiben, Lesen und Rechnen lernen. Aber dorthin sollen sie auf individuellere Weise als heute gelangen dürfen. Es gibt heute schon Schulmodelle, die in diese Richtung gehen, zum Beispiel die Steiner-Schulen.
Warum bekommen viel mehr Knaben als Mädchen Ritalin?
Entwicklungspsychologen gehen davon aus, dass es für Kinder in Stresssituationen drei Arten von Reaktionen gibt: Erstarren, Flucht und Angriff. Mädchen erstarren eher oder ergreifen die Flucht. Knaben hingegen greifen an oder fliehen. Reagieren also oft aggressiv. Der zweite Grund hat mit den Eltern zu tun. Oft entscheiden sich ja diese für Ritalin. Und oft ist es eher die Mutter als der Vater, welche das Medikament befürwortet. Gleichzeitig ist es auch eher die Mutter, die das aggressive Benehmen des Sohns für abnormal hält.
Für Diskussionen sorgt dieser Tage auch die Frage, ob die Schweiz Ohrfeigen und ähnliche körperliche Züchtigungen per Gesetz verbieten soll. Was ist Ihre Haltung dazu?
Aus Sicht der Uno darf es keine körperliche Gewalt an Kindern geben, deshalb befürwortet die Uno ein solches Gesetz. Allerdings dürfte es nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch andere, vielleicht schlimmere Formen von Gewalt an Kindern gibt. Beispielsweise Liebesentzug oder eben auch die unbedachte und extensive Verabreichung von Medikamenten und Psychopharmaka. Interview: Sarah Nowotny



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