Rudin denkt, dass individuellere Ansätze für die Schüler helfen könnten, der exzessiven Verschreibung von Ritalin einen Riegel vorzuschieben.
Rudin: Ritalinkonsum sollte massiv reduziert werden, Bild: Tomas Wüthrich
"Ritalin ist fast immer überflüssig", NZZaS, 30.3. von Sarah Nowotny
NZZ am Sonntag: Das
Medikament Ritalin und ähnliche Mittel werden Kindern mit ADHS - dem
Zappelphilipp-Syndrom - weit häufiger verschrieben als früher. Die Uno befasst
sich nun auch mit dem Thema Ritalin. Warum?
Pascal
Rudin: Das
Problem ist, dass Ritalin verwendet wird, um eine Störung zu behandeln. Die
Kernfrage lautet also: Was ist unser Verständnis von Störung? Klar ist, dass
ein Kind im schulischen Umfeld relativ schnell einmal stören kann. Aber das
heisst noch nicht, dass es eine Störung im medizinischen Sinn hat. Das
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS wird als Krankheit definiert, lässt sich
aber medizinisch kaum messen. Es werden also Kinder stigmatisiert, nur weil
Ritalin kurzfristig funktioniert und effizient ist. Die Uno dürfte in diesem
Zusammenhang auch auf grundlegende ethische Prinzipien verweisen: Ärzte sollten
uns therapieren, nicht unsere Leistung steigern.
Heisst
das, die Verschreibung von Ritalin ist nie berechtigt?
Doch,
Ritalin ist dann berechtigt, wenn man eine echte biologisch-medizinische
Grundlage für die Verschreibung hat. Dann kann es nützlicher Teil einer
umfassenden Therapie sein. Ich gehe davon aus, dass dies nur bei drei bis fünf
Prozent der Kinder, die heute Ritalin einnehmen, der Fall ist. Anders gesagt:
Ritalin ist in 95 Prozent der Fälle - fast immer - überflüssig.
Kinderärzte
und Kinderpsychiater arbeiten also komplett falsch, ja sogar fahrlässig?
Das
Problem ist, dass Kinderärzte - im Gegensatz zu Kinderpsychiatern - nicht
ausgebildet sind, um ADHS zu diagnostizieren und zu behandeln. Denn es ist eine
psychische Erkrankung. Allerdings liegt es mir fern, den Ärzten Schuld
zuzuweisen. Denn diese bekämpfen lediglich jene Symptome, die die Gesellschaft
bekämpft haben möchte. Was im Fall von ADHS übrigens ein relativ neues Phänomen
ist; abweichendes Verhalten wird bei Kindern erst seit etwa 20 Jahren in diesem
Ausmass medikamentös behandelt.
Vielleicht
kann man ADHS heute aber auch einfach besser diagnostizieren und somit
behandeln.
Vielmehr
ist es so, dass sich die Diagnosekriterien im Lauf der Zeit verändert haben,
die Schwelle für eine ADHS-Diagnose wurde laufend nach unten gesetzt. Früher
ging man davon aus, dass die Symptome mindestens ein Jahr lang akut vorkommen
und untragbar sein müssen, damit von ADHS gesprochen werden kann. Inzwischen reicht
ein halbes Jahr.
Unnötiger
Ritalin-Konsum ist ja noch nicht per se schädlich.
Das
Medikament kann starke Nebenwirkungen haben - zum Beispiel Wachstumsstörungen,
Appetitlosigkeit und Suizidgedanken. Man geht zudem davon aus, dass Ritalin
langfristig Parkinson begünstigen könnte.
Wird
die Uno der Schweiz empfehlen, den Ritalin-Konsum einzuschränken?
Wahrscheinlich
schon. Die Uno wird zwar sagen, dass es das Krankheitsbild ADHS gibt und
Ritalin deshalb seine Berechtigung hat. Aber der Konsum sollte massiv reduziert
werden. Ein erster Schritt, zu dem die Uno raten wird, ist die Erstellung von
detaillierten Statistiken, um die Lage zu erfassen. Auch zur Diagnose-Praxis
wird sie sich äussern. Es braucht nämlich seriöse Abklärungen. Heute
verschreiben manche Ärzte bereits nach einem halbstündigen Gespräch Ritalin.
Schliesslich wird sie an die Kinderrechte, etwa das Recht auf Selbstbestimmung,
appellieren.
Was
muss geschehen, damit der aus Ihrer Sicht exzessiven Verschreibung von Ritalin
ein Riegel geschoben werden kann?
Man
muss sicher bei der Schule ansetzen und diese vermehrt auf die Bedürfnisse der
Kinder ausrichten. Die vermeintlichen ADHS-Kinder sind oft in der Schule nicht
tragbar. Das kann aber viele Ursachen haben, ist oft sogar
entwicklungspsychologisch gesehen ganz normal. Früher wurde ein solches
Verhalten auch als normal angesehen. Aber heute wird es schnell einmal für
pathologisch erklärt, weil das Schulsystem zu stark die Erfordernisse der
Wirtschaft berücksichtigt, und zwar schon bei ganz jungen Kindern.
Was
müsste die Schule denn besser machen?
Es
braucht andere, individuellere Ansätze für die Schüler. Heute haben wir
sozusagen ein industrialisiertes Schulsystem. Alle Siebenjährigen werden
eingeschult, lernen nach demselben Plan dasselbe. Dort passen sogenannte
ADHS-Kinder nun einmal nicht dazu; oft sind sie ausgesprochen kreativ und
verspielt. Deshalb sollten wir die Schule mehr auf das gemeinsame Lernen
ausrichten. Kinder müssten stärker gemäss ihren Bedürfnissen und Interessen
lernen können. Natürlich muss das Ziel weiterhin sein, dass alle Schreiben,
Lesen und Rechnen lernen. Aber dorthin sollen sie auf individuellere Weise als
heute gelangen dürfen. Es gibt heute schon Schulmodelle, die in diese Richtung
gehen, zum Beispiel die Steiner-Schulen.
Warum
bekommen viel mehr Knaben als Mädchen Ritalin?
Entwicklungspsychologen
gehen davon aus, dass es für Kinder in Stresssituationen drei Arten von
Reaktionen gibt: Erstarren, Flucht und Angriff. Mädchen erstarren eher oder
ergreifen die Flucht. Knaben hingegen greifen an oder fliehen. Reagieren also
oft aggressiv. Der zweite Grund hat mit den Eltern zu tun. Oft entscheiden sich
ja diese für Ritalin. Und oft ist es eher die Mutter als der Vater, welche das
Medikament befürwortet. Gleichzeitig ist es auch eher die Mutter, die das
aggressive Benehmen des Sohns für abnormal hält.
Für
Diskussionen sorgt dieser Tage auch die Frage, ob die Schweiz Ohrfeigen und
ähnliche körperliche Züchtigungen per Gesetz verbieten soll. Was ist Ihre
Haltung dazu?
Aus
Sicht der Uno darf es keine körperliche Gewalt an Kindern geben, deshalb
befürwortet die Uno ein solches Gesetz. Allerdings dürfte es nicht darüber
hinwegtäuschen, dass es noch andere, vielleicht schlimmere Formen von Gewalt an
Kindern gibt. Beispielsweise Liebesentzug oder eben auch die unbedachte und
extensive Verabreichung von Medikamenten und Psychopharmaka. Interview: Sarah
Nowotny
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