10. Oktober 2016

Das teuerste und blödsinnigste Lehrmittel

Im Interview spricht der Bieler Lehrer und Politiker Alain Pichard über Politik, Schule und Migranten. 
"Die Linken sollen Farbe bekennen", Bieler Tablatt, 8.10. von Lotti Teuscher


Alain Pichard, haben Sie ein schlechtes Gewissen?
Alain Pichard: Weshalb sollte ich ein schlechtes Gewissen haben?

Sie sind das Zugpferd der Grünliberalen. Vor den Bieler Wahlen haben Sie Ihren Rücktritt bekannt gegeben und prompt hat die Partei zwei von sechs Sitzen verloren.
Man kann nicht sagen, dass die beiden Sitze wegen mir verloren gingen, denn wir hatten mit dem Sitzverlust gerechnet.

Weshalb?
Die GLP hat sehr unpopuläre Entscheide mitgetragen und damit Leute vor den Kopf gestossen, die uns vor vier Jahren gewählt hatten. Wir waren zum Beispiel während der Spardebatte der Meinung, dass das Tobs Biel-Solothurn ebenfalls einen Sparbeitrag leisten müsse.

Und das bereuen Sie jetzt?
Keineswegs, wir betreiben keine Klientelpolitik. Wir sehen das Ganze. Auch wenn es unpopulär ist.

Sie machen den Eindruck eines Vollblutpolitikers. Dennoch treten Sie nach nur zwei Legislaturen zurück. Warum?
Keine Angst, ich gehe ja der Politik ja nicht verloren. Politisch handeln ist nicht nur an das Ausüben eines Mandats gebunden, es gibt viele andere politischen Mitwirkungsformen. Allerdings bin ich jetzt 61-jährig und es ist Zeit, Jüngeren Platz zu machen. Mit ein Grund ist auch, dass ich merkte, dass mein Engagement im Stadtrat zu Lasten des Unterrichts gegangen ist: Die Rückmeldungen meiner Schüler waren nicht mehr so gut.

Aktiv bleiben werden Sie in Bezug auf Harmos, denn Sie bekämpfen die Schulreform.
Ich befürwortete es, dass die Schweizer Schulen gemeinsame Strukturen haben, dass sie sich bezüglich Lehrplaninhalten absprechen... Aber? Harmos ist keine Harmonisierungsvorlage mehr, sondern strebt eine Steuerung und eine Kontrolle des Unterrichts an. Eine Allianz von Politik, Verwaltung und Wissenschaft versucht, die Schule auf Output zu trimmen und sorgt damit auch für eine Auftragssicherheit für sich selber, denn die Vorlage spült riesige Geldmengen in die Kasse der Verantwortlichen.

Sie erheben harte Vorwürfe. Haben Sie Beweise?
Allein die Einführung von Frühfranzösisch kostet die fünf Passepartout-Kantone etwa 100 Millionen Franken. Passepartout ist das teuerste und übrigens auch das blödsinnigste Lehrmittel, das je auf den Markt kam. Auch die Weiterbildungskosten für Lehrer werden Millionen kosten; der Kanton Bern wird für alle Anpassungen etwa 30 Millionen ausgeben müssen. Dies sind gewaltige Summen, die in der Praxis fehlen werden.

Die Berufswelt wird komplexer. Deshalb sind Investitionen in die Schulbildung sinnvoll.
Nicht jede Investition in die Bildung ist per se gut. Gut ist sie nur, wenn sie erfolgreich ist und die Bildungsqualität fördert. Im Gegensatz zu dem Geschwätz vom Bildungsabbau müssen wir feststellen, dass die Kosten für die Bildung massiv steigen. Aber nicht alle Mittel kommen dort an, wo es sie dringendst bräuchte!

Sie waren ursprünglich bei den Grünen und empfanden den Wechsel zur GLP als befreiend. Weshalb?
Die Grünliberalen politisieren nach folgendem Grundsatz: Wenn ein Problem auftaucht und es liegt ein Lösungsvorschlag auf dem Tisch, wird zuerst gefragt, ob der Vorschlag etwas bringt. Danach wird gefragt: Steht der Aufwand einigermassen im Verhältnis zum Ertrag? Weiter wird untersucht, ob die Lösung eventuell positive oder negative Nebenwirkungen hat. Danach ist die GLP entweder für oder gegen eine Lösung – egal, aus welcher politischen Ecke sie kommt. Diese Art an ein Problem heranzugehen, ist intellektuell und gedanklich befreiend und befruchtend.

Sie waren Mitglied der Grünen, was bedeutet, dass es Ihnen auch dort gefallen hat.
Damals engagierte ich mich stark für den Naturschutz, deshalb lag mir die grüne Partei am nächsten. Ich weiss nicht, ob ich mich mit der Zeit verändert habe oder die Grünen. Ich stelle einfach fest, dass meine ehemaligen Weggefährten immer sektiererischer werden, immer mehr auf Weltuntergangsstimmung machen und mit Regulierungen und Verboten den Menschen umerziehen wollen. Ausserdem sind sie grauenhaft etatistisch, versuchen wo immer möglich Geld aus dem Staat zu holen und vergraulen damit die Mittelschicht.

Initialzündung für den Wechsel der Partei war Ihr Artikel in der «Weltwoche» vor zehn Jahren über Probleme mit Immigrantenkinder an einer Bieler Schule. Wie kam es dazu?
Damals kam das Ausländergesetz von Bundesrat Christoph Blocher aufs Tapet. Laut der Gegenkampagne war das Gesetz fremdenfeindlich und bausche Probleme auf. Viele linke Lehrkräfte, wie auch ich, sahen in diesem Gesetz auch vernünftige Aspekte. Deshalb schrieben drei linke Lehrerkollegen und ich einen Artikel über die Schwierigkeiten mit Migrantenkindern an den Bieler Schulen. Den Artikel wollte ich in meiner eigenen Gewerkschaftszeitung publizieren, die ich mitgegründet hatte. Dies wurde abgelehnt. Auch die «WOZ» druckte den Artikel nicht ab. Schliesslich schickte ich den Artikel der «Weltwoche». Das löste dann eine riesige und zum Teil bedrückende Reaktion aus, die mein Verbleiben bei den Grünen unmöglich machte.

Sie haben in diesem Artikel nicht nur die Probleme mit Migrantenkindern benannt, sondern auch deren Nationalitäten genannt.
An den Schulen gibt es nicht einfach Probleme mit Ausländerkindern, sondern mit Kindern gewisser Nationalitäten und Kulturen. Mit Russen, Spaniern, Kindern aus der EU oder Vietnam hatten wir nicht mehr Probleme als mit unseren eigenen Kids. Es waren vor allem muslimische Schüler, mitunter auch Brasilianer, Dominikaner und Schwarzafrikaner, die uns und vor allem sich selber zu schaffen machten. Dies wollte ich benennen, denn man darf nicht alle Ausländer über eine Leiste scheren.

Wie gravierend sind die Probleme von Immigrantenkindern heute?
Damals besuchten im Schnitt etwa 60 Prozent aller Kinder die Sekundarschule. Dieses Verhältnis stimmt auch für Spanier, Portugiesen oder Deutsche; die Kinder der Vietnamesen besuchten sogar fast alle die Sekundarschule. Aber 80 bis 90 Prozent der Türken, Brasilianer, Dominikaner und Albaner besuchen die Realschule. In meinen Augen war dies extrem unbefriedigend. Meine Motivation als Lehrer ist, dass auch diese Kinder Erfolg haben. Ich bin nicht gegen die Albaner oder Brasilianer, im Gegenteil ich empfinde mich als deren Anwalt. Ich will, dass sie Erfolg haben. Aber dies bedingt, ab und zu Klartext zu reden.

Werden Kritiker auch heute noch in die rassistische Ecke gestellt?
Überhaupt nicht. Heute reden Bundesrätin Sommaruga, Stadtpräsident Fehr und viele Linke genau gleich. Man hat erkannt, dass auch etwas gefordert werden darf und dass Integration keine Einbahnstrasse ist.

Als Sie 2006 den Artikel schrieben, gab es in Biel Klassen mit 80 Prozent ausländischen Kindern, heute gibt es solche mit 100 Prozent. Dennoch hört man selten von Problemen. Funktioniert das Unterrichten jetzt besser?
Richtig ist, dass die Schulen heute Mittel zur Hand haben, die das Unterrichten erleichtern. Dazu gehört zum Beispiel der Schulausschluss. Die Lehrer lassen sich nicht mehr auf der Nase herumtanzen, sie wollen einen Bildungserfolg. Die Schulen sind geleitet, die Schulleitungen sehr erfahren. Die Zusammenarbeit zwischen Schulleitung und Behörden hat sich massiv verbessert. All dies trägt eindeutig Früchte. Niemand – vor allem auch die Kinder unserer ausländischen Mitbürger – wollen ein Unterrichtschaos!

Disziplinarisch hat sich somit einiges verbessert. Aber wie steht es mit dem schulischen Erfolg?
Was wir nicht im Griff haben, und dies ist ein grosses Problem, ist die erodierende Bildungsqualität. Zwischen 16 und 20 Prozent der Schulabgänger sind Illetristen: Sie könne zwar ihren Namen und ein paar Sachen schreiben. Wenn sie nicht sofort einen Anschluss an die Schule finden, vergessen sie alles und sind nach einem Jahr nicht mehr in der Lage, einfache Texte zu lesen. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt beschränkt vermittelbar sind. Dies ist auch der Grund, weshalb die Stadt Biel im Vergleich zur Bevölkerungszahl verhältnismässig wenige Lehrabschlüsse aufweist.

Was steckt hinter diesem Phänomen?
Nach zwei bis drei Jahren in der Schweiz leben 80 Prozent der aufgenommenen Asylbewerber von der Sozialhilfe. Das ist eine Zeitbombe!

50 Prozent aller Bieler Schüler und Schülerinnen sprechen zu Hause weder Deutsch noch Französisch. Wie gross ist die Belastung dieser Kinder?
Sie müssen eine riesige Anpassungsarbeit leisten. Ich sage immer, sie müssen sich mehr anstrengen als ihre Schweizer Mitkameraden. Für unsere Italiener in den 60er-Jahren war das immer klar. Wenn sie es schaffen und ihre Chancen packen, dann beherrschen sie nach dem Absolvieren der obligatorischen Schule Deutsch, Französisch und Englisch sowie ihre eigene Muttersprache. Damit haben sie einen grossen Vorteil auf dem Arbeitsmarkt. Aber leider passiert viel zu oft Folgendes: Die Kinder lernen ihre eigene Muttersprache nicht richtig, und können trotz Unterricht aber am Schluss weder Deutsch, Französisch noch Englisch sprechen.

Deutschsprachige Bauernkinder im Berner Jura sprechen ab der vierten Klasse so gut französisch, dass der Klassenlehrer nicht mehr merkt, dass sie eine andere Muttersprache haben. Weshalb schaffen dies viele Immigrantenkinder nicht?
Dies hat damit zu tun, dass es Parallelgesellschaften gibt. Wenn zum Beispiel ein türkisches Kind nach Hause kommt, redet es leider viel zu oft ausschliesslich Türkisch, schaut türkisches Fernsehen und spielt mit Kindern der gleichen Nationalität. Und wenn es in der Klasse ebenfalls keine deutschsprachige, sondern nur fremdsprachige Kinder gibt, wird es sehr schwierig.

Lange galt, dass Immigranten nach zwei, spätestens nach drei Generationen integriert waren. Dies gilt heute nicht mehr?
Es gilt mehrheitlich immer noch. Integration war in der Schweiz während langer Zeit eine Erfolgsgeschichte – kaum ein Land hat besser integriert als wir. Diese Erfolgsgeschichte gerät aber nun ins Stottern. Wir stellen fest, dass bei gewissen Immigranten, die zweite Generation keinen Fortschritt, sondern eher einen Rückschritt macht. Diese Tendenz beobachten wir Lehrer mit grosser Sorge.

Woran liegt dies?
Zum Teil, und das muss man eben sagen, liegt es an der Zahl. In Klassen, in der eine Mehrheit andere Sprachen spricht als Deutsch oder Französisch, wird es schwierig. Ausserdem muss man zielorientierter arbeiten. Frühfranzösisch oder eine Filière bilingue sind kontraproduktiv. Sicher müssen wir auch die Kinder früher erfassen und fördern.

Und das geschieht nicht?
Biel müsste viel, viel mehr Geld investieren. Denn es braucht hervorragende Lehrer an den Schulen, und es braucht das Vier-Augen-Prinzip in den Schulklassen. Von den Bieler Linken erwarte ich, dass sie nun Farbe bekennen. Denn sie waren stets für offene Grenzen und strichen das Wort «Aufnahmefähigeit» aus ihrem Vokabular. Jetzt sind sie alle da, und man muss ihnen eine Chance geben.

Biel muss an allen Ecken und Ende sparen. Woher soll das Geld kommen?
Statt für die 900 Senioren-Abonnenten des Tobs Millionen zu investieren oder überteuerte Öko-Label-Schulhäuser zu bauen, gilt es jetzt, Millionen für den Unterricht, für die Informatik und die Betreuung der Schüler freizumachen. Biel ist nicht mehr die Stadt der 60er Jahre, sie ist, was viele nicht ohne Stolz sagen: Eine «Multikulti-Stadt, farbig, kreativ zwar, aber mit gewaltigen sozialen Problemen. Jetzt müssen wir das Geld umleiten und teilweise in die Migranten investieren. Dies würde deren Kindern bessere Erfolge ermöglichen. Aber das Geld ist im Moment nicht vorhanden.

Massgeblich für den Erfolg der Schulkinder ist nicht nur Geld, verantwortlich sind auch die Eltern. Gelingt es den Schulen, den Eltern fremdsprachiger Kindern beizubringen, wie wichtig Bildung in der Schweiz ist?
Eine wichtige und gute Frage. Unser Schweizer Schulsystem basiert stark auf der Elternmitarbeit. Wenn diese mitziehen, wenn die Eltern die Schulanlässe besuchen und ihre Kinder fördern, führt dies meistens zum Erfolg. Eltern, die nicht mitmachen wollen, dazu zu bringen, ihre Kinder zu unterstützen, erfordert einen Kulturwandel. Denn die Schweiz wendet keinen Zwang an, damit die Eltern ihre Kinder zum Beispiel frühzeitig in Förderungsgruppen schicken. Es ist sehr schwierig, Massnahmen durchzusetzen, die die Hoheit der Eltern über die Erziehung ihrer Kinder einschränken.

Die Frage ist doch: Beschränkt man sich auf jene Eltern, die ihre Kinder nicht genügend unterstützen?
Genau, ich plädiere für eine solche Lösung. Das Problem ist, dass dies zu einer Ungleichbehandlung führt, was dem Schweizer Selbstverständnis widerspricht. Das Vordringlichste ist meiner Meinung jetzt: Wir müssen unbedingt die Quote der Illetristen senken! Doch statt dieses Problem anzugehen, wird ein idiotisches Frühfranzösischkonzept eingeführt und Biel investiert stattdessen in die Filière bilingue...

...die sehr beliebt ist bei den Eltern.
Genau, aber im Grunde genommen ist die Filière bilingue eine Privatschule für den Mittelstand, die mit öffentlichem Geld finanziert wird. Dass man damit die Restschulproblematik verschärft und fremdsprachige Kinder mit einem bilingualen Unterricht komplett überfordert, wird ausgeblendet!

Was denken Sie zu folgenden drei Stichworten: Erfolgreiche Integration fremdsprachiger Kindern?
Ist eines meiner grössten Anliegen.

Kopftuch tragen in der Schule?
Ist für mich kein Problem, wenn die Mädchen auch am Schwimmunterricht und an Lagern teilnehmen.

Burkaverbot?
Ich finde die Burka grässlich. Ich persönlich bin aber liberal und deshalb grundsätzlich gegen Kleidervorschriften. Doch wer wegen einer Burka in die Sozialhilfe gleitet, sollte massiv weniger Geld erhalten. In der Schule hat eine Vollverschleierung hingegen nichts verloren.


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