Wer gehört werden will, muss laut schreien. An diesen Grundsatz
halten sich schon Kleinkinder instinktiv. Dies gilt nicht selten auch für
politische Lobbyisten. So sah der Zürcher Bankenverband diese Woche die Zeit
für einen öffentlichen Alarmschrei gekommen. «Steht die Banklehre vor dem
Aus?», fragt der Verband provokativ im Titel seiner Medienmitteilung vom
Montag. Stein des Anstosses ist die geplante Reform der kaufmännischen Lehre
unter dem Titel «Kaufleute 2022». Bankenvertreter befürchten eine Senkung des
Leistungsniveaus und die Infragestellung des Anschlusses an die
Berufsmaturität. Wenn die Reform die Befürchtungen bestätige, werde der
Einstieg in die Finanzbranchen über kurz oder lang «nur noch über die Mittel-
und Hochschulen möglich sein».
Stresstest für die KV-Lehre, NZZ, 19.5. von Hansueli Schöchli
Das ist starker Tobak in einem Land, das die Berufslehre als Teil seiner
Identität sieht. 2018 hatten im Landesdurchschnitt knapp 64% der jungen
Erwachsenen bis zum 25. Altersjahr einen Berufslehrabschluss nach der
obligatorischen Schule. Mit Abstand am populärsten unter den Berufslehren ist
die kaufmännische Lehre (KV-Lehre). In den letzten drei Jahren entfiel je fast
ein Fünftel aller Lehrstellenantritte auf die KV-Lehre.
Luftige Sprache
Zur Hauptstossrichtung der
Reform zählt eine Verschiebung von klassischen Fächern zu
«Handlungskompetenzen». Bisherige Fächer wie Deutsch, Wirtschaft und Recht
sowie Fremdsprachen sollen laut Kritikern in diffusen Themenblöcken wie etwa
«Handeln in agilen Arbeits- und Organisationsformen» oder «Interagieren in
einem vernetzten Arbeitsumfeld» aufgehen. Das klingt luftig und mag zu Satire
einladen. Nicht zuletzt Lehrerkreise hatten sich dazu ätzend geäussert.
Die Sache ist zumindest gut
gemeint: Das Gelernte soll einen stärkeren Bezug zur Betriebspraxis haben. Die
vermehrte Orientierung an Kompetenzen statt Fächern entspricht einem
internationalen Trend der letzten zwanzig Jahre. Konkrete Befunde über die
Wirkungen solcher Reformen scheinen aber Mangelware zu sein. Weder eine Suche
via Internet noch Rückfragen bei Bildungsforschern förderten eine breite
empirische Forschungsliteratur zutage.
Aus dem Schweizer
Bankensektor sind vor allem vier Kritikpunkte an der geplanten KV-Reform zu
hören. Erstens: Die Integration der Berufsmatur in die Lehre sei im Unterschied
zur bestehenden Verordnung nicht mehr erwähnt. Zweitens: Die Wahlmöglichkeit
der Vertiefungsrichtung sei durch die «starre» Verknüpfung mit den
Handlungsfeldern im Lehrbetrieb stark eingeschränkt – so dass die auf
Buchhaltung und Rechnungswesen bezogene Vertiefungsrichtung «Finanzen» mangels
praktischer Buchhaltungstätigkeiten während der Lehre kurioserweise für viele
Banklehrlinge nicht infrage komme. Damit fehle Banklehrlingen eine
Vertiefungsmöglichkeit bei wirtschaftlichem Grundlagenwissen. Drittens: Der
Wegfall der Unterscheidung zwischen Typus B (Basis) und E (erweitert) führe zu
einer Verwässerung des Niveaus. Und viertens: Künftig sei nur noch eine
Fremdsprache für alle obligatorisch, was ebenfalls das Niveau senke.
Von der Nachfrage getrieben
Der Treiber der Reform waren
nicht weltfremde Theoretiker, sondern Vertreter der betroffenen Branchen, wie
ein beteiligter Reformbefürworter betont. Es war zwar der Bund, der die
entsprechende Revision der massgebenden Verordnung für die KV-Lehre diesen
Januar in die Anhörung geschickt hatte. Doch der
Antrag dazu kam von der Trägerorganisation der KV-Lehre – der Schweizerischen
Konferenz der kaufmännischen Ausbildungs- und Prüfungsbranchen. Diesem Verein
gehören 21 ausbildende Branchen an. Im Vorstand sitzt unter anderem die
Schweizerische Bankiervereinigung. Diese hatte die Reform unlängst noch «begrüsst».
Diesen Montag meldete sie aber dieselben Einwände an, wie dies gleichentags der
Zürcher Bankenverband tat. Der Tonfall des nationalen Branchendachverbands war
allerdings deutlich zurückhaltender.
Die Banken stehen mit ihrer
Haltung in der Wirtschaft nicht allein da. Man teile die Kritik und die
Befürchtungen der Banken, sagt ein Personalexperte eines grösseren
Versicherungsbetriebs. Er warnt vor Illusionen: Es sei nicht möglich, jeden
sinnvollen Lerninhalt der Berufsschule direkt mit einer Tätigkeit während der
Lehre zu verbinden. Als Beispiel nennt er das Thema Buchhaltung: Gewisse
Betriebe hätten die Buchhaltung ausgelagert, weshalb die Lehrlinge keine
Buchhaltungstätigkeiten verrichten könnten – und dennoch sei ein allgemeines
Verständnis von Bilanzen und Rechnungslegungsprinzipien für viele Lehrlinge in
ihren künftigen Tätigkeiten wichtig. Der Schweizerische Versicherungsverband
sagte dagegen am Dienstag auf Anfrage, dass er «hinter der Denkweise und
Stossrichtung» der Reform stehe.
Eine Generalistenlehre
Zu den wichtigen Akteuren in
der Trägerorganisation der KV-Lehre gehört der Gewerbeverband, der die Reform
unterstützt. Man könne schon verstehen, dass die Banken an ihre Lehrlinge
höhere schulische Anforderungen stellten als andere Branchen, sagt Christine
Davatz, Bildungsexpertin des Gewerbeverbands. Aber angesichts der
unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Branchen brauche es für die
KV-Lehre Kompromisse, und Zusatzbedürfnisse liessen sich zum Beispiel via
überbetriebliche Kurse abdecken.
Die Kontroverse illustriert einen klassischen Zielkonflikt der KV-Lehre: Sie
ist als Generalistenlehre konzipiert und soll den Jugendlichen damit ein
breites Einstiegsportal öffnen, doch im Gegenzug muss der Lehrplan
verschiedenste Branchenbedürfnisse unter einen Hut bringen. Aus Sicht der
meisten Akteure überwiegen weiterhin die Vorteile des Generalistenkonzepts. Die
Schaffung einer spezialisierten Lehre etwa für die Bankkauffrau oder den
Versicherungskaufmann wie in Deutschland will nach wie vor kaum jemand.
Diverse befragte
Reformbefürworter zeigten sich irritiert über den Inhalt wie über den Zeitpunkt
der jüngsten Verlautbarungen aus dem Bankensektor. Die Diskussion über diese
Reform ist laut den Befürwortern schon seit vier Jahren am Laufen, und die
Bankenvertreter seien jederzeit im Bilde gewesen – doch erst jetzt, kurz vor
der geplanten Einführung, komme der grosse Aufschrei. Das Gesamtbild habe man
erst mit dem Start der Anhörung von diesem Jahr gesehen, sagen dazu
Bankenvertreter. Und zurzeit sehe es danach aus, dass die Branchenanliegen
nicht gehört würden.
Fehlalarm?
Doch zumindest in einem
Punkt scheinen die Bankenvertreter offene Türen einzurennen. Es sei völlig
unbestritten, dass während der KV-Lehre auch die Berufsmatur möglich bleiben
solle, betonen diverse Beteiligte unisono. Das konkrete Konzept zur
Verheiratung der neuen Anforderungen für die Berufslehre mit den Anforderungen
der Berufsmaturität solle innerhalb der nächsten Wochen vorliegen. Die Sache
mit den Fremdsprachen ist derweil noch offen. Der Bund hat am 6. Mai in
Absprache mit der Trägerorganisation eine neue Variante mit zwei
obligatorischen Fremdsprachen in die Anhörung geschickt.
Das Fachwissen soll laut den Reformern weiterhin eine zentrale Rolle spielen.
Letztlich wird hier aber viel von der konkreten Umsetzung der
«Handlungskompetenzen» in Lerninhalte abhängen. So stellt sich unter anderem
die Frage, ob der Bezug zu betrieblichen Tätigkeiten wie von den Kritikern
befürchtet nur die Tätigkeiten während der Lehre umfassen wird oder auch die
Berufsjahre danach berücksichtigen kann. Zudem gibt es für die Definition des
Bezugs zur Betriebstätigkeit engere und breitere Interpretationsmöglichkeiten.
Der Bankensektor will zur
Förderung des Grundlagenwissens eine zusätzliche Vertiefungsrichtung
«Wirtschaft und Recht». Die Beurteilung dieser Idee hänge davon ab, inwieweit
man diese Option im Arbeitsalltag abbilden könne, sagt Michael Kraft vom
Kaufmännischen Verband Schweiz, der in der Trägerorganisation ebenfalls eine
wichtige Rolle spielt: «Wenn es mit einer solchen Vertiefungsrichtung nur darum
geht, zusätzliches schulisches Wissen zu vermitteln, dann gibt es für solche
Bedürfnisse die Berufsmaturität.»
Der Bund wertet zurzeit die zahlreichen Rückmeldungen aus. Wegen
der hochpolitischen Sprachenfrage geht das Geschäft in den Gesamtbundesrat. Der
Entscheid über das Projekt und den Einführungszeitraum (2022 oder 2023) ist für
Ende Juni zu erwarten.
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