19. Mai 2021

Aufschrei der Banken zur KV-Reform

Wer gehört werden will, muss laut schreien. An diesen Grundsatz halten sich schon Kleinkinder instinktiv. Dies gilt nicht selten auch für politische Lobbyisten. So sah der Zürcher Bankenverband diese Woche die Zeit für einen öffentlichen Alarmschrei gekommen. «Steht die Banklehre vor dem Aus?», fragt der Verband provokativ im Titel seiner Medienmitteilung vom Montag. Stein des Anstosses ist die geplante Reform der kaufmännischen Lehre unter dem Titel «Kaufleute 2022». Bankenvertreter befürchten eine Senkung des Leistungsniveaus und die Infragestellung des Anschlusses an die Berufsmaturität. Wenn die Reform die Befürchtungen bestätige, werde der Einstieg in die Finanzbranchen über kurz oder lang «nur noch über die Mittel- und Hochschulen möglich sein».

Stresstest für die KV-Lehre, NZZ, 19.5. von Hansueli Schöchli

Das ist starker Tobak in einem Land, das die Berufslehre als Teil seiner Identität sieht. 2018 hatten im Landesdurchschnitt knapp 64% der jungen Erwachsenen bis zum 25. Altersjahr einen Berufslehrabschluss nach der obligatorischen Schule. Mit Abstand am populärsten unter den Berufslehren ist die kaufmännische Lehre (KV-Lehre). In den letzten drei Jahren entfiel je fast ein Fünftel aller Lehrstellenantritte auf die KV-Lehre.


Luftige Sprache

Zur Hauptstossrichtung der Reform zählt eine Verschiebung von klassischen Fächern zu «Handlungskompetenzen». Bisherige Fächer wie Deutsch, Wirtschaft und Recht sowie Fremdsprachen sollen laut Kritikern in diffusen Themenblöcken wie etwa «Handeln in agilen Arbeits- und Organisationsformen» oder «Interagieren in einem vernetzten Arbeitsumfeld» aufgehen. Das klingt luftig und mag zu Satire einladen. Nicht zuletzt Lehrerkreise hatten sich dazu ätzend geäussert.


Die Sache ist zumindest gut gemeint: Das Gelernte soll einen stärkeren Bezug zur Betriebspraxis haben. Die vermehrte Orientierung an Kompetenzen statt Fächern entspricht einem internationalen Trend der letzten zwanzig Jahre. Konkrete Befunde über die Wirkungen solcher Reformen scheinen aber Mangelware zu sein. Weder eine Suche via Internet noch Rückfragen bei Bildungsforschern förderten eine breite empirische Forschungsliteratur zutage.


Aus dem Schweizer Bankensektor sind vor allem vier Kritikpunkte an der geplanten KV-Reform zu hören. Erstens: Die Integration der Berufsmatur in die Lehre sei im Unterschied zur bestehenden Verordnung nicht mehr erwähnt. Zweitens: Die Wahlmöglichkeit der Vertiefungsrichtung sei durch die «starre» Verknüpfung mit den Handlungsfeldern im Lehrbetrieb stark eingeschränkt – so dass die auf Buchhaltung und Rechnungswesen bezogene Vertiefungsrichtung «Finanzen» mangels praktischer Buchhaltungstätigkeiten während der Lehre kurioserweise für viele Banklehrlinge nicht infrage komme. Damit fehle Banklehrlingen eine Vertiefungsmöglichkeit bei wirtschaftlichem Grundlagenwissen. Drittens: Der Wegfall der Unterscheidung zwischen Typus B (Basis) und E (erweitert) führe zu einer Verwässerung des Niveaus. Und viertens: Künftig sei nur noch eine Fremdsprache für alle obligatorisch, was ebenfalls das Niveau senke.


Von der Nachfrage getrieben

Der Treiber der Reform waren nicht weltfremde Theoretiker, sondern Vertreter der betroffenen Branchen, wie ein beteiligter Reformbefürworter betont. Es war zwar der Bund, der die entsprechende Revision der massgebenden Verordnung für die KV-Lehre diesen Januar in die Anhörung geschickt hatte. Doch der Antrag dazu kam von der Trägerorganisation der KV-Lehre – der Schweizerischen Konferenz der kaufmännischen Ausbildungs- und Prüfungsbranchen. Diesem Verein gehören 21 ausbildende Branchen an. Im Vorstand sitzt unter anderem die Schweizerische Bankiervereinigung. Diese hatte die Reform unlängst noch «begrüsst». Diesen Montag meldete sie aber dieselben Einwände an, wie dies gleichentags der Zürcher Bankenverband tat. Der Tonfall des nationalen Branchendachverbands war allerdings deutlich zurückhaltender.


Die Banken stehen mit ihrer Haltung in der Wirtschaft nicht allein da. Man teile die Kritik und die Befürchtungen der Banken, sagt ein Personalexperte eines grösseren Versicherungsbetriebs. Er warnt vor Illusionen: Es sei nicht möglich, jeden sinnvollen Lerninhalt der Berufsschule direkt mit einer Tätigkeit während der Lehre zu verbinden. Als Beispiel nennt er das Thema Buchhaltung: Gewisse Betriebe hätten die Buchhaltung ausgelagert, weshalb die Lehrlinge keine Buchhaltungstätigkeiten verrichten könnten – und dennoch sei ein allgemeines Verständnis von Bilanzen und Rechnungslegungsprinzipien für viele Lehrlinge in ihren künftigen Tätigkeiten wichtig. Der Schweizerische Versicherungsverband sagte dagegen am Dienstag auf Anfrage, dass er «hinter der Denkweise und Stossrichtung» der Reform stehe.


Eine Generalistenlehre

Zu den wichtigen Akteuren in der Trägerorganisation der KV-Lehre gehört der Gewerbeverband, der die Reform unterstützt. Man könne schon verstehen, dass die Banken an ihre Lehrlinge höhere schulische Anforderungen stellten als andere Branchen, sagt Christine Davatz, Bildungsexpertin des Gewerbeverbands. Aber angesichts der unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Branchen brauche es für die KV-Lehre Kompromisse, und Zusatzbedürfnisse liessen sich zum Beispiel via überbetriebliche Kurse abdecken.


Die Kontroverse illustriert einen klassischen Zielkonflikt der KV-Lehre: Sie ist als Generalistenlehre konzipiert und soll den Jugendlichen damit ein breites Einstiegsportal öffnen, doch im Gegenzug muss der Lehrplan verschiedenste Branchenbedürfnisse unter einen Hut bringen. Aus Sicht der meisten Akteure überwiegen weiterhin die Vorteile des Generalistenkonzepts. Die Schaffung einer spezialisierten Lehre etwa für die Bankkauffrau oder den Versicherungskaufmann wie in Deutschland will nach wie vor kaum jemand.


Diverse befragte Reformbefürworter zeigten sich irritiert über den Inhalt wie über den Zeitpunkt der jüngsten Verlautbarungen aus dem Bankensektor. Die Diskussion über diese Reform ist laut den Befürwortern schon seit vier Jahren am Laufen, und die Bankenvertreter seien jederzeit im Bilde gewesen – doch erst jetzt, kurz vor der geplanten Einführung, komme der grosse Aufschrei. Das Gesamtbild habe man erst mit dem Start der Anhörung von diesem Jahr gesehen, sagen dazu Bankenvertreter. Und zurzeit sehe es danach aus, dass die Branchenanliegen nicht gehört würden.


Fehlalarm?

Doch zumindest in einem Punkt scheinen die Bankenvertreter offene Türen einzurennen. Es sei völlig unbestritten, dass während der KV-Lehre auch die Berufsmatur möglich bleiben solle, betonen diverse Beteiligte unisono. Das konkrete Konzept zur Verheiratung der neuen Anforderungen für die Berufslehre mit den Anforderungen der Berufsmaturität solle innerhalb der nächsten Wochen vorliegen. Die Sache mit den Fremdsprachen ist derweil noch offen. Der Bund hat am 6. Mai in Absprache mit der Trägerorganisation eine neue Variante mit zwei obligatorischen Fremdsprachen in die Anhörung geschickt.


Das Fachwissen soll laut den Reformern weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Letztlich wird hier aber viel von der konkreten Umsetzung der «Handlungskompetenzen» in Lerninhalte abhängen. So stellt sich unter anderem die Frage, ob der Bezug zu betrieblichen Tätigkeiten wie von den Kritikern befürchtet nur die Tätigkeiten während der Lehre umfassen wird oder auch die Berufsjahre danach berücksichtigen kann. Zudem gibt es für die Definition des Bezugs zur Betriebstätigkeit engere und breitere Interpretationsmöglichkeiten.


Der Bankensektor will zur Förderung des Grundlagenwissens eine zusätzliche Vertiefungsrichtung «Wirtschaft und Recht». Die Beurteilung dieser Idee hänge davon ab, inwieweit man diese Option im Arbeitsalltag abbilden könne, sagt Michael Kraft vom Kaufmännischen Verband Schweiz, der in der Trägerorganisation ebenfalls eine wichtige Rolle spielt: «Wenn es mit einer solchen Vertiefungsrichtung nur darum geht, zusätzliches schulisches Wissen zu vermitteln, dann gibt es für solche Bedürfnisse die Berufsmaturität.»


Der Bund wertet zurzeit die zahlreichen Rückmeldungen aus. Wegen der hochpolitischen Sprachenfrage geht das Geschäft in den Gesamtbundesrat. Der Entscheid über das Projekt und den Einführungszeitraum (2022 oder 2023) ist für Ende Juni zu erwarten.

 

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