Die Geschichte wiederholt sich, aber ist sie auch wahr?
Seit
Jahren berichten Medien über die Buben als «Bildungsverlierer». Buben könnten
nicht mehr Buben sein, lautet der Vorwurf, bubenfeindlich und ungerecht sei die
Schule. «Schlaue Mädchen, dumme Jungen», titelte der «Spiegel» schon 2004.
«Buben sind die Dummen», stand 2009 im «Beobachter». Das Schweizer Fernsehen
fragte 2019: «Braucht es reine Buben-Klassen?»
Auch
«Das Magazin» ging dem nach, 2008 in einem Interview mit Remo Largo. Der
Kinderarzt sagte: «Der gute Schüler von heute ist ein Mädchen. Das liegt aber
nicht an seiner Kompetenz, sondern an seinem Verhalten.»
Werden Buben in der Schule benachteiligt? Tages Anzeiger Magazin, 13.3. von Christoph Gertsch
«Von
der Mädchendiskriminierung zur Knabendiskriminierung», hiess 2010 eine
Interpellation im Gemeinderat des Berner Vororts Zollikofen. 2018 richtete ein
Grossrat des Kantons Basel-Stadt eine Anfrage mit dem Titel «Benachteiligung
von Buben/Männern im Schulsystem» an den Regierungsrat. 2020 diskutierte der
Grosse Rat des Kantons Thurgau die Interpellation «Knaben an der Volksschule
Thurgau im Abseits?»
«Vieles,
was über das Thema berichtet wird, ist verfälscht oder gar völliger Unsinn.»
Beat A. Schwendimann,
Erziehungswissenschaftler
Tatsächlich
finden sich leicht Statistiken, die solche Äusserungen untermauern. In der
Schweiz machen 25,9 Prozent aller Schülerinnen die gymnasiale Matura, aber nur
17,9 Prozent aller Schüler. Nur 3,3 Prozent der Schülerinnen benötigen
sonderpädagogische Massnahmen, aber 6,1 Prozent der Schüler. Schüler schwänzen
häufiger, müssen häufiger eine Klasse wiederholen, brechen die Schule häufiger
ab.
Doch
liegt das an einer systematischen Benachteiligung?
Ja,
sagt Allan Guggenbühl, einer der bekanntesten Jugendpsychologen des Landes. Ihn
spreche ich als erstes, weil die Medien ihn zu dem Thema besonders häufig
zitieren.
Guggenbühl
forscht zu Konfliktmanagement und Gewaltprävention. Die Benachteiligung von
Buben hält er für eine Tatsache, über die sogar zu wenig geredet wird. «Ich
stelle nicht in Frage, dass zu lange für die Gleichbehandlung von Mädchen
gekämpft werden musste. Doch jetzt haben wir ein Ungleichgewicht zulasten der
Buben, und das muss diskutiert werden, auch wenn es nicht zum Zeitgeist passt.»
Viele
Buben, so Guggenbühl, würden in der Schule gern etwas leisten, doch die heutige
Pädagogik demotiviere sie. Sie müssten stillsitzen, bekämen Sanftheit statt
Widerstand. «Die Unruhe vieler Buben wird als Problem empfunden, ihr
Provozieren als soziale Inkompetenz. Dabei zeigt das nur ihr Anschlussbedürfnis.»
Die
schlechten Schulleistungen seien ja nur ein Symptom der Schwierigkeiten der
Buben. «Ebenso wichtig wären ihre Selbsteinschätzungen. Buben erleben die
Schule oft als langweilig und haben das Gefühl, man gehe nicht auf sie ein. Das
betrifft auch schulisch Erfolgreiche.»
Mädchen
hatten schon immer bessere Schulnoten
Anruf
beim Erziehungswissenschaftler Beat A. Schwendimann, der die pädagogische
Arbeitsstelle des Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer leitet.
Schwendimann beginnt mit einer Medienkritik: «Vieles, was über das Thema
berichtet wird, ist verfälscht oder gar völliger Unsinn.»
Dann
sagt er, was ich von nun an von allen Gesprächspartner*innen hören werde, vom
Leiter eines schulpsychologischen Dienstes, der täglich mit abgehängten Kindern
zu tun hat, bis zur Pädagogik-Dozentin, die sich wundert, warum sich schon
wieder alles um das männliche Geschlecht dreht: «Es ist wichtig, dass wir
differenzieren.»
Klingt langweilig. Doch der Satz ist möglicherweise der Schlüssel. Schule, Gender, Kinder: Es vermischen sich in dieser Debatte Themen, die schon für sich genommen komplex und emotional sind. Schwendimann: «Zweifellos gibt es Buben, die sich in unserem Schulsystem schwertun. Aber die Gründe sind vielfältig. Und die generalisierte Aussage, Buben seien Bildungsverlierer, ist einfach nicht haltbar.»
Er
rät mir, Margrit Stamm zu kontaktieren, die Grande Dame der Schweizer
Erziehungswissenschaft. Ich erreiche sie in den Ferien, von wo aus sie mir
einen Termin ein paar Tage später vorschlägt.
In
der Zwischenzeit spreche ich mit Mitarbeitenden der Koordinationsstelle für
Bildungsforschung, die alle vier Jahre den Schweizer Bildungsbericht
herausgibt. Wenn man irgendwo den Überblick hat, was über
Geschlechtergerechtigkeit an Schulen schon alles geforscht wurde, dann dort.
Hier drei Erkenntnisse aus Studien, auf die man mich dort aufmerksam macht:
1 — Viele
glauben, Buben würden benachteiligt, weil männliche Lehrpersonen auf der
Primarstufe massiv untervertreten sind. Doch dass weibliche Lehrpersonen
Mädchen bevorzugen, wurde x-fach widerlegt: Lehrerinnen benoten nicht anders
als Lehrer, auch hat das Geschlecht der Lehrperson weder bei Buben noch bei
Mädchen einen Einfluss auf die schulische Leistung.
2 — Schwieriger
verhält es sich mit der Frage, ob das Geschlecht des Kindes bei der Benotung
eine Rolle spielt. Die Studien widersprechen sich. Am ehesten werden Mädchen in
stereotyp weiblichen Fächern bevorteilt (Sprachen), Buben in stereotyp
männlichen Fächern (Mathematik).
3 — Das
Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung wertete 42 Untersuchungen mit
Daten zu 2,4 Millionen Schüler*innen aus 41 Ländern aus – und fand keinen Beleg
dafür, dass sich die Schulleistungen von Buben über die Zeit verschlechtert
hätten. «Mädchen bekamen schon immer bessere Schulnoten als Jungen», schreibt
der Studienautor Marcel Helbig, zwischen 1914 und 2011 habe es keine
Veränderung der Notenunterschiede zwischen den Geschlechtern gegeben. Das würde
bedeuten, dass sich Mädchen seit jeher besser im Schulsystem zurechtfinden, sie
ihre Fähigkeiten lange nur nicht in entsprechende Abschlüsse ummünzen konnten
(oder durften).
Aber
wann hat man eigentlich damit begonnen, Buben als Bildungsverlierer zu
bezeichnen?
Stefan
Wolter ist Direktor der Koordinationsstelle für Bildungsforschung und Professor
für Bildungsökonomie an der Universität Bern. Er sagt, die Frage sei ziemlich
exakt zu beantworten: Die Wahrnehmung verändert sich Mitte der 1990er-Jahre,
als das Geschlechterverhältnis an Schweizer Gymnasien kippt.
«Eine
systematische Benachteiligung kann ich nicht erkennen.»
Stefan Wolter,
Professor für Bildungsökonomie Uni Bern
Wolter
erzählt von Bildungsbürgereltern mit ganz spezifischen Bildungserwartungen. «Um
Geschlechtergerechtigkeit geht es ihnen nicht, sie wollen nur, dass ihr Kind
eine akademische Laufbahn einschlägt. Als nun die Mädchen die Buben überholen,
bekommen diese Eltern Angst um ihre Söhne. Sie glauben plötzlich, in der
Maturitätsquote eine Benachteiligung der Buben zu erkennen und suchen nach
Gründen. Warum sie sich nicht um ihre Mädchen sorgten, als an den Gymnasien
noch die Buben in der Mehrheit waren? Weil Mädchen nicht als Familienernährer
vorgesehen waren.»
Er
ist der Ansicht, dass es natürlich schulische Settings gebe, die eher
mädchengerecht seien. Es gebe aber auch solche, die eher bubengerecht seien.
«Eine systematische Benachteiligung kann ich nicht erkennen.»
Das
klingt nach einer abschliessenden Bemerkung, doch das Gespräch ist noch nicht
zu Ende. Stefan Wolter fragt: «Wer sagt denn, Buben seien im Nachteil, wenn sie
nicht das Gymnasium machen?» Sei ein akademischer Abschluss das Ziel, würden
sich die Mädchen schon richtig entscheiden.
Gehe
es aber darum, einen Beruf zu finden, in dem man Karriere machen und viel Geld
verdienen kann, sei der Weg der Buben vielversprechender. «Das zeigt jede
Statistik der Welt: Männer haben bessere Löhne, bekleiden mehr
Führungspositionen, geniessen im Job höheres Ansehen.»
Die
Mädchen übernehmen an den Gymnasien denn auch just in jener Phase die Mehrheit,
als die Schweiz den tertiären Bildungsbereich massiv stärkt: Mit der
Berufsmatura, die 1994 eingeführt wird, und dem Ausbau der Fachhochschulen ab
1995 eröffnen sich völlig neue Wege.
Vor
allem für Buben?
Man
wisse aus Untersuchungen, so Wolter, dass Mädchen, die in Mathematik schlecht
sind, Nachhilfeunterricht nehmen, um es ans Gymnasium zu schaffen. Buben, die
in Sprachen schlecht sind, tun das viel seltener. «Lieber machen sie eine Lehre
mit Berufsmatura, gehen an eine Fachhochschule, haben mit einundzwanzig den
Bachelor und verdienen in all den Jahren auch noch ihr eigenes Geld. Je nach
Sichtweise wird so aus einem vermeintlichen Nachteil schnell ein Vorteil.»
Wolter
hält es deshalb auch für falsch, bei der Diskussion über benachteiligte Buben
immer bloss die gymnasiale Maturitätsquote zu betrachten. Tatsächlich
entschärft sich die Geschlechterdiskrepanz ein wenig, wenn man die Lehr- und Berufsmaturitätsabschlüsse
einbezieht. Einen solchen Abschluss erreichen 92 Prozent aller Schülerinnen.
Und 89 Prozent aller Schüler.
Lehre,
Berufsmatura, Gymnasium: 95 Prozent aller 25-Jährigen sollen über mindestens
einen dieser Abschlüsse verfügen – das ist das von Bund und Kantonen
formulierte Bildungsziel. Was es über die wirkliche Ungerechtigkeit des
Schweizer Bildungssystems aussagt, dass dieses Ziel bei weitem nicht erreicht
ist, erklärt mir nun Margrit Stamm.
«Die
soziale Herkunft beeinflusst den Schulerfolg viel eher als das Geschlecht.»
Margrit Stamm,
emeritierte Professorin für pädagogische Psychologie
Zuerst
will die emeritierte Professorin für pädagogische Psychologie und
Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg aber noch etwas Grundsätzliches
festhalten: «Es gibt nicht DIE Buben, und es gibt nicht DIE Mädchen. Die
Unterschiede innerhalb der Geschlechter sind grösser als zwischen den
Geschlechtern.»
Sie
hält die Debatte über Geschlechterungerechtigkeit im Bildungssystem für ein
Ablenkungsmanöver: eine Elitediskussion, die das wahre Problem ignoriere. «Ein
beträchtlicher Teil dessen, was wir als Geschlechterungerechtigkeit wahrnehmen,
ist in Wirklichkeit eine durch soziale Herkunft bedingte Benachteiligung. Die
soziale Herkunft beeinflusst den Schulerfolg viel stärker als das Geschlecht.
Es ist frustrierend, geht das immer wieder vergessen.»
Kurze
Begriffserklärung: Soziale Herkunft meint das soziokulturelle Erbe, also etwa
die finanzielle Lage der Familie, deren Vernetzung oder angelernte
Verhaltensmuster. Sie ist massgeblich von der Schicht bestimmt, in die man
hineingeboren wird.
Ich
betrachte die Statistik etwas genauer. Es stimmt: Dem 95-Prozent-Ziel am
nächsten kommen die in der Schweiz geborenen Schweizer*innen – 93 Prozent von
ihnen haben im Alter von 25 Jahren mindestens eine solche Ausbildung
erfolgreich absolviert. Es folgen mit 87 Prozent die in der Schweiz geborenen
Ausländer*innen und mit 85 Prozent die im Ausland geborenen Schweizer*innen.
Mit 77 Prozent am geringsten ist die Abschlussquote bei den im Ausland
geborenen Ausländer*innen: Sie bleiben um fast 20 Prozentpunkte hinter dem
Bildungsziel zurück.
«In
der Schweiz ist die soziale Vererbung von Bildung besonders ausgeprägt.»
Margrit Stamm,
emeritierte Professorin für pädagogische Psychologie
Ich
stosse auf eine Auswertung der Pisa-Studie 2012 für den Kanton Bern: Von allen
Jugendlichen aus der sozial bestgestellten Schicht des Kantons besuchen 49
Prozent das Gymnasium, 35 Prozent die Sekundarschule, 16 Prozent die
Realschule. Von allen Jugendlichen, die der sozial schwächsten Schicht
zuzuordnen sind, besuchen 6 Prozent das Gymnasium, 32 Prozent die
Sekundarschule, 62 Prozent die Realschule.
Anders
gesagt: Aus der Oberschicht geht jedes zweite Kind aufs Gymnasium. Aus der
Unterschicht jedes sechzehnte.
Grundsätzlich
wäre es natürlich möglich, dass es am Gymnasium so wenig Jugendliche aus der
Unterschicht gibt, weil sie die schlechteren Leistungen erbringen. Aber wenn
man genauer hinschaut, erkennt man: Jugendliche aus der Oberschicht haben eine
mehr als dreimal höhere Chance, aufs Gymnasium zu kommen, als vergleichbar leistungsstarke
Jugendliche aus der Unterschicht.
Ähnlich
sieht es auf tiefem Leistungsniveau aus: Jugendliche aus der Oberschicht, deren
Leistung dem Realschuldurchschnitt entspricht, haben eine mehr als zweimal
grössere Chance, trotzdem das Sekundarschulniveau oder sogar das Gymnasium zu
erreichen, als Jugendliche aus der Unterschicht mit vergleichbaren Leistungen.
«Kinder
aus bildungsfernen und/oder armen Schichten haben es in allen deutschsprachigen
Ländern schwer», sagt Margrit Stamm. «Aber in der Schweiz ist die soziale
Vererbung von Bildung besonders ausgeprägt. Das gilt für Buben ebenso wie für
Mädchen.»
Die
Biologie erklärt lange nicht alles
Aber
woran liegt das? Und bedeutet es, dass an Schweizer Schulen keinerlei
Geschlechterungerechtigkeit existiert?
Auf
der Suche nach Antworten erlebe ich etwas Erstaunliches: Die
Erziehungswissenschaftlerin Christa Kappler, die ein Forschungszentrum der PH
Zürich leitet, die Soziologinnen Simone Marti und Simone Suter, die an der PH
Bern als Dozentinnen arbeiten, der Kinder- und Jugendpsychologe Georges
Steffen, der dem schulpsychologischen Dienst des Kantons Graubünden vorsteht
und zudem Vorstandsmitglied von Schulpsychologie Schweiz ist, die
Entwicklungspsychologin Christine Neresheimer Mori, die an der PH Zürich die
Abteilung Primarstufe führt, und Moritz Daum, Professor für
Entwicklungspsychologie an der Universität Zürich – sie alle ringen um
Worte.
Und
ich wundere mich, wie es sein kann, dass die Öffentlichkeit immer wieder diese
einseitige und pauschalisierende Benachteiligte-Buben-Debatte führt, während
weite Teile der Wissenschaft derart um Differenziertheit bemüht sind. Hier die
acht Erkenntnisse aus den Gesprächen:
1 — Bloss
weil Mädchen im Lesen etwas besser abschneiden, kann man nicht sagen, Buben
müssten gar nicht erst versuchen, Schriftsteller zu werden. Ebenso wenig kann
man sagen, Mädchen müssten gar nicht erst versuchen, Ingenieurin zu werden,
bloss weil Buben in Mathematik etwas besser abschneiden. Im Gegenteil: Viele
Mädchen sind viel besser in Mathematik als der Durchschnittsbub, und viele
Buben sind viel besser im Lesen als das Durchschnittsmädchen. Man kann sich
zwei Gauss’sche Glocken vorstellen, die sehr nah beeinander liegen: Der
Überlappungsbereich ist riesig, den Unterschied machen die Ränder. Dort gibt es
eine Gruppe Mädchen, die sich mit Mathematik tatsächlich wahnsinnig schwertut.
Und eine Gruppe Buben, die dasselbe mit Lesen erlebt.
2 — Eine
Reihe von Eigenschaften, die den Schulerfolg erwiesenermassen beeinträchtigen,
sind bei Buben verbreiteter als bei Mädchen. Buben haben häufiger eine
kritische Grundeinstellung der Schule gegenüber, sind für die Schule seltener
intrinsisch motiviert, neigen häufiger zu Selbstüberschätzung.
3 — Einen
besonders direkten Einfluss auf den Schulerfolg hat die Freizeitbeschäftigung
eines Kindes, und die hängt stark von den elterlichen Ressourcen ab. Die grosse
World-Vision-Kinderstudie aus Deutschland zeigte 2010: Ob Mädchen oder Bub,
Unterschicht oder Oberschicht – jedes zweite Kind zwischen sechs und elf Jahren
(52 Prozent) hat ein «normales Freizeitverhalten». Aber deutlich mehr Mädchen
(37 Prozent) als Buben (11 Prozent) zählt die Studie zu den sogenannt
«vielseitigen Kids»: Ihre Freizeit ist geprägt von kulturellen, musischen und
kommunikativen Inhalten, dazu treffen sie Freund*innen und treiben Sport. Und
deutlich mehr Buben (37 Prozent) als Mädchen (11 Prozent) zählen zu den
«Medienkonsumenten»: Sie schauen fern, spielen Computergames, treffen aber auch
Freund*innen und treiben Sport. Allerdings werden die Verhältnisse noch
ungleicher, betrachtet man die Schichtzugehörigkeit: Fast jedes zweite
Oberschichtskind (43 Prozent) zählt zu den «vielseitigen Kids», aber nur eines
von zwanzig Unterschichtskindern (5 Prozent). Fast jedes zweite
Unterschichtskind (45 Prozent) zählt zu den «Medienkonsumenten», aber nur gut
eines von acht Oberschichtskindern (14 Prozent).
4 — Mädchen
und Buben sind biologisch verschieden. Das erklärt sich durch den
unterschiedlichen Pegel bestimmter Hormone und dem auch dadurch verursachten
unterschiedlichen Verhalten. So haben Buben tatsächlich von Geburt an gewisse
Vorteile im räumlichen Denken, und Mädchen verfügen über bessere verbale
Fähigkeiten. Zudem haben Mädchen bis nach der Pubertät einen Reifevorsprung,
weil bei ihnen der Wachstumsschub früher einsetzt. Da sich in dieser Zeit
entscheidet, ob ein Kind den Sprung ans Gymnasium schafft – wenn es denn will!
–, ist nicht auszuschliessen, dass Buben hier unter bestimmten Umständen
biologisch benachteiligt sind.
5 — Wichtig
ist aber, dass sich unterschiedliche Vorlieben, Stärken und Verhaltensweisen
trotzdem nur teilweise mit der Biologie erklären lassen. Vor allem sind die
biologischen Unterschiede nicht so gross, dass sie zwangsläufig zu
unterschiedlichen Schulleistungen führen. Entscheidend ist das Umfeld. Dass
Buben besser in Mathematik und Mädchen besser in Sprachen seien, steckt so tief
in unseren Köpfen, dass eine biologisch höchstens geringfügig unterschiedliche
Ausgangslage auf sozialer Ebene verstärkt werden kann. Beispielsweise ist
x-fach erwiesen, dass Eltern schon mit einem dreimonatigen Baby häufiger reden,
wenn es ein Mädchen ist. Ist es ein Bub, halten sie ihm die Rassel hin.
6 — Jahre
später droht an der Schule dann der Pygmalioneffekt: So heisst das
psychologische Phänomen, bei dem sich eine vorweggenommene Einschätzung durch
Lehrpersonen derart auf das Verhalten und die Leistung von Schüler*innen
auswirkt, dass sie sich bestätigen. Laut der Studie «Faule Jungs, strebsame
Mädchen?», der grössten Untersuchung über Geschlechterungerechtigkeit an
Schweizer Schulen, könnte es sich dabei um eine lange zu wenig beachtete
Erklärung für die Diskriminierungsempfindung von Schülern halten. Lehrpersonen
(Frauen und Männer) haben möglicherweise eine Art generelle – wenn auch unbewusste
– Angst, dass Schüler (aber nicht Schülerinnen) den geplanten, wohl geordneten
Fortgang ihres Unterrichts stören. Das hat zur Folge, dass Schülerinnen die
Erwartung spüren, sich unterrichtskonform zu verhalten, und Schüler die
Erwartung, sich unterrichtsstörend zu verhalten. Das kann dazu führen, dass man
sie rascher sanktioniert, sie so in ihrem Verhalten bestärkt und letztlich in
ihren Lernmöglichkeiten einschränkt.
«Wir
müssen über die Schule reden, aber vor allem müssen wir über Erziehung reden.»
Christine Neresheimer
Mori, Entwicklungspsychologin
7 — Die
Soziologinnen Simone Marti und Simone Suter, die sich in ihrer Arbeit besonders
mit Chancenungleichheit und Bildungsgerechtigkeit befassen, verweisen darauf,
dass der Pygmalioneffekt nicht nur zwischen Geschlechtern, sondern auch
zwischen sozialen Schichten spiele – zumal Buben aus sozial benachteiligten
Schichten häufig auf Lehrpersonen aus der Mittelschicht treffen, und viele
Lehrpersonen den eventuellen Männlichkeitspraktiken dieser Buben mit
Unverständnis begegnen. Simone Marti sagt: «Wird ein solches Verhalten mit
schlechten Noten sanktioniert, ist das nicht förderlich für ein professionelles
Arbeitsbündnis zwischen Lehrperson und Schüler.»
8 — Es
greift zu kurz, bloss die Schulen zur Verantwortung ziehen zu wollen. Christine
Neresheimer Mori sagt, Lehrpersonen würden in der Ausbildung intensiv auf die
Problematik von Geschlechterstereotypen sensibilisiert, «das Thema ist bei uns
seit zwanzig, dreissig, vierzig Jahren omnipräsent». Man könne das noch
verstärken, könne an der reflexiven Haltung der Lehrpersonen arbeiten, sich die
eigenen Stereotypen bewusst machen, könne noch intensiver darüber nachdenken,
welche Vorurteile man reproduziert. Dennoch: «Die Gesellschaft – die macht
weiter wie bisher. Wir müssen über die Schule reden, aber vor allem müssen wir
über Erziehung reden. Der Einfluss der Eltern und des ausserschulischen Umfelds
auf die Geschlechtsidentität eines Kindes wird zu wenig berücksichtigt.»
«Lehrpersonen
sind gezwungen, Kinder auch zu disziplinieren, statt Bildungsmöglichkeiten
schaffen zu dürfen.»
Simone Suter,
Soziologin
Das
Fazit? Zweifellos scheitern in der Schule etwas mehr Buben als Mädchen daran,
ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen. Gleichzeitig führt genau diese Aussage
bereits in die Irre. Die Benachteiligte-Buben-Debatte ist kontraproduktiv, weil
sie eine komplexe Situation übermässig vereinfacht. Nicht das Geschlecht ist
der entscheidende Faktor für schulische Benachteiligung, sondern die soziale
Herkunft. Soziale Herkunft steht am Ursprung, das Geschlecht – in diesem Fall
Männlichkeit – verstärken höchstens eine bereits existierende
Bildungsungleichheit.
Simone
Suter sagt: «Unser Bildungssystem ist hochgradig selektiv und von einem engen
Bildungsverständnis geprägt. Schulischer Unterricht ist zeitlich und räumlich
stark begrenzt, da fällt es schwer, auf Interessen und Voraussetzungen der
Kinder einzugehen. Lehrpersonen sind gezwungen, Kinder auch zu disziplinieren,
statt Bildungsmöglichkeiten schaffen zu dürfen. Darunter leiden Buben ebenso
wie Mädchen. Aber benachteiligt werden Kinder im aktuellen System vor allem
aufgrund ihrer sozialen Herkunft.»
Es
braucht an den Schulen keinen Geschlechterkampf, sondern einen Kampf für eine
bessere soziale Durchmischung der Klassen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen