Das im März 2020 vom
Bundesrat angeordnete und nach der Aufhebung im April 2020 von vielen Seiten
wiederholt geforderte Verbot von Präsenzunterricht an sämtlichen Schulen ist
verfassungswidrig. Es verstösst gegen den grundrechtlichen Anspruch jedes Kindes
auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht (Art. 19 BV). Denn
ein solches Verbot erfasst flächendeckend gesamtschweizerisch den Unterricht
der obligatorischen Schule auf der Primarstufe und der Sekundarstufe I.
Das Verbot von Präsenzunterricht an Primarschulen ist verfassungswidrig, NZZ, 9.2. von Andreas Glaser
Anspruch auf
Grundschulunterricht
Der von den
Lehrpersonen häufig mithilfe elektronischer Informationstechnik unterstützte
Fernunterricht der Kinder an deren privatem Aufenthaltsort ist nicht
ausreichend im Sinne der Verfassungsbestimmung. Wie das Bundesgericht in
ständiger Rechtsprechung urteilt, muss der Grundschulunterricht «die Schüler
sachgerecht auf ein selbstverantwortliches Leben im modernen Alltag
vorbereiten». Mit Blick auf das vor der Pandemie noch verbrämte Homeschooling
hielt das Bundesgericht fest, dass ein ausreichender Grundschulunterricht nicht
nur schulisches Wissen vermitteln, sondern entwicklungsspezifisch auch die
Fähigkeit zum Zusammenleben in der Gesellschaft fördern muss.
Der Anspruch auf
Grundschulunterricht wird daher verletzt, wenn dem Kind nicht die Fähigkeiten
vermittelt werden, die ihm erlauben, an der Gesellschaft und am demokratischen
Gemeinwesen teilzuhaben. Ausserdem dient der obligatorische Schulbesuch laut
Bundesgericht der Wahrung der Chancengleichheit aller Kinder und fördert die
Integration. Durch Homeschooling kann jedoch gerade die Integration der Kinder
geschmälert werden. Verschiedene neue Studien vonseiten der
Erziehungswissenschaft im Zusammenhang mit dem Fernunterricht während der
Pandemie bestätigen diesen Befund.
Fernunterricht für
bestimmte Klassen oder auch Schulhäuser während des begrenzten Zeitraums einer
Quarantäne lässt sich im öffentlichen Interesse der Pandemiebekämpfung
rechtfertigen. Auch Massnahmen, die im Vergleich zu Fernunterricht milder sind,
wie die Aussetzung des Schwimmunterrichts oder die Pflicht zum Maskentragen,
lassen sich bei hinreichend belegter Gefahr und Wirksamkeit der Massnahmen
unter Umständen rechtfertigen. Das Verbot von Präsenzunterricht auf dem
gesamten Kantonsgebiet oder gar schweizweit erweist sich dagegen in jedem Fall
als nicht erforderliche Einschränkung des Anspruchs auf Grundschulunterricht.
Arsenal der
Epidemiologie
Dies gilt umso mehr,
als Kinder und Jugendliche gemäss Verfassung Anspruch auf besonderen Schutz
ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung haben. Solange andere
Massnahmen, die im Arsenal der Epidemiologie noch vorgeschlagen werden, nicht
ergriffen wurden, beispielsweise die Schliessung von Skigebieten oder die
Testpflicht bei der Einreise in die Schweiz, verbietet sich die Einschränkung
des verfassungsrechtlich geschützten Präsenzunterrichts in der obligatorischen
Schule ohnehin.
Bundesrat und
Kantonsregierungen setzen den Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht
in der zweiten Welle der Covid-19-Pandemie bis jetzt zwar konsequent durch,
massgebliche Gründe wurden bisher aber nicht genannt. Sollte die Forderung nach
Schulschliessungen lauter werden, können sich Bundesrat und Kantonsregierungen
in ihrer Entgegnung ausdrücklich auf die Verfassung berufen: Art. 19 der Bundesverfassung
verbietet die kantons- oder schweizweite Umstellung auf Fernunterricht in der
Primarschule und auf der Sekundarstufe I.
Andreas Glaser ist Professor
für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht an der Universität Zürich und
Direktoriumsmitglied des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA).
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