Eigentlich klingt es einleuchtend: Die meisten von uns besitzen eine bestimmte Vorliebe, um neuen Stoff zu lernen. Daraus hat sich die Theorie entwickelt, dass Lernstoff möglichst in der vom Lerner bevorzugten Art dargeboten werden sollte. Auf die Schule bezogen heisst dies, dass die Schüler besser lernen, wenn wir ihre individuellen Lernstile kennen und den Unterricht darauf einstellen. Soweit die Theorie – sie hat nur einen Haken: Sie stimmt nicht.
Totgesagte leben länger: Wie der Mythos der Lernstile überlebt. 8.2. von Urs Kalberer
Wir alle haben bevorzugte Lernstile, z.B. lieber einen Film
schauen als ein Buch lesen. Es stimmt auch, dass wir bestimmte Arten von
Informationen besser oder schlechter verarbeiten können. Es gibt halt
unterschiedlich gute Leser oder Schüler mit einem besser entwickelten
räumlichen Vorstellungsvermögen. Alle diese Unterschiede sind unbestritten und
jeder, der eigene Kinder hat oder im Unterricht vor einer Klasse steht, weiss
davon. Doch die Theorie der unterschiedlichen Lernstile geht einen Schritt
weiter: Sie behauptet, dass wenn wir mit unserem bevorzugten Stil unterrichtet
werden, wir auch besser lernten. Das ist nachweislich falsch (1).
Dennoch glaubt immer noch eine satte Mehrheit von Lehrern an
diese Lerntypen-Unterrichtstheorie, auch wenn sie längst als pädagogischer
Irrglaube entlarvt worden ist. In einer kürzlich im Fachmagazin «Frontiers in
Education» (1) veröffentlichten Untersuchung wurden Daten von weltweit über
15'000 Pädagogen analysiert. Insgesamt glaubten 89,1% der Teilnehmer,
dass Menschen besser lernen, wenn der Unterricht auf ihren Lernstil abgestimmt
ist. 95,4% der angehenden Pädagogen glaubten an Lernstile - etwas höher als die
87,8% der qualifizierten Pädagogen, die ähnliche Überzeugungen zeigten.
Warum sind Lernstile so beliebt?
Der Mythos der individuellen Lernstile, die im Unterricht
berücksichtigt werden sollten, scheint nach wie vor allgegenwärtig zu sein.
Aber warum Pädagogen weiterhin an sie glauben, ist weniger klar. Immerhin
verlängern sie die Unterrichtsvorbereitung markant. Es kann sein, dass dieser
in der Ausbildung implantierte Glaube so tief verankert wurde, dass er der
Kritik noch immer standhält. Es könnte sein, dass Lehrer so mit ihren Schülern
arbeiten, wie sie seinerzeit selbst von ihren Lehrern unterrichtet wurden. Oder
es könnte sein, dass Versuche, den Mythos zu entlarven, einfach nicht bis zu
den Pädagogen gelangten.
Wir lieben es, die Menschen in Schubladen zu verstauen und
so zu kategorisieren. Das hilft uns, die oft komplexere Wirklichkeit zu
ertragen. Ein weiterer Grund, warum die Idee des Lernstils so beliebt ist,
ergibt sich aus dem sogenannten Barnum-Effekt. Dies ist die Idee, dass
Menschen, die vage, verallgemeinerte Informationen – z.B. in einem Horoskop –
erhalten, diese als persönlich bedeutsam interpretieren, wenn sie eintreffen.
Im Normalfall, d.h., wenn sie nicht eintreffen, erinnern wir uns einfach nicht
mehr daran. Schliesslich eignet sich die Theorie der Lernstile ausgezeichnet
dazu, um allfällige Misserfolge auf die Schule, bzw. auf den Lehrer,
abzuwälzen. «Wie soll denn mein auditives Kind mit der Menge an visuellen
Informationen klarkommen?»
Das beliebteste Lernstilmodell ist VAK, das für visuell,
auditiv und kinästhetisch steht. Geschmackliche und olfaktorisch Lernende
werden, wie viele andere Lerndimensionen, ignoriert. Coffield und seine
Kollegen (3) fanden beispielsweise 71 unterschiedliche Lernstile. Die
Beschränkung auf bloss deren drei bei VAK hat also etwas Willkürliches. Ein
weiteres Problem mit VAK ist, dass es die Funktionsweise des Gehirns falsch
darstellt. Wir speichern Informationen nicht nach einem „dominanten Stil“. Wir
tun es, indem wir sie so speichern, wie sie uns präsentiert wurden. Wenn wir
also aufgefordert werden, uns an ein Gesicht zu erinnern, erhalten wir ein Bild
von diesem Gesicht. Ein sogenannter visueller Lernender, der über sein
Lieblingslied nachdenkt, sieht kein mentales Bild des Liedes. Er wird das Lied
wie alle anderen in seinem Kopf hören!
Für den Lehrer ist es eine Herkulesaufgabe, Materialien
zusammenzustellen, die unterschiedlichsten Lernbedürfnissen entsprechen. Die
Folge davon – unzählige kopierte Aufgabenblätter, digitale Lernangebote und
greifbare haptische Erlebnisse – kommen auf Kosten der Instruktion. Die
Anforderung, jedem Kind möglichst gerecht zu werden, führte zur
Vernachlässigung des Kernelements von Unterricht, der Instruktion und damit zur
Vernachlässigung aller Kinder. Ganz zu schweigen vom Ausbrennen von Lehrkräften.
Wenn ein Lehrer auf die individuellen Bedürfnisse eines Kindes in einer Klasse
von 20 eingeht, bedeutet dies, dass 19 Kinder vernachlässigt werden und mit
Behelfsbeschäftigungen wie Gruppenarbeiten, individuellem Lesen oder
Arbeitsblättern hingehalten werden.
Dazu kommt, dass der Unterricht mit Lernstilen auch direkt
schädliche Auswirkungen aufs Lernen haben kann. Nehmen wir an, wir müssten die
Länder Afrikas lernen. Am besten dazu eignet sich eine Karte Afrikas. Es wäre
nun fahrlässig, würde man dem auditiven Lerner die Karte vorenthalten und ihm
die Lage der Länder mündlich beizubringen versuchen. Der Fokus auf Lernstile
tut genau dies: Er verwehrt den Kindern wichtige Ressourcen aufgrund einer oft
oberflächlichen Diagnose.
Eine weitere Gefahr besteht darin, dass durch die
Konzentration auf einen bestimmten Lerntyp andere wichtige Lernwege
vernachlässigt werden. Ein schwacher Leser, der lieber Filme schaut wird somit
darin unterstützt, das Lesen zu vernachlässigen.
Was bedeutet das für den Unterricht?
Die gute Nachricht ist, dass Lehrer sich weniger Sorgen
machen müssen. Beim Lernen kommt es nicht auf den persönlichen Lernstil an,
sondern ob der Lernstil zum Inhalt passt. Lehrer können Zeit bei der
Vorbereitung sparen, indem sie sich nicht mehr um genug Aktivitäten für
kinästhetische Lernende kümmern müssen. Dies ist jedoch keine Lizenz zum
Unterrichten ohne Bildmaterial, Töne oder Aktivitäten. Für den Schüler gilt es,
sich nicht durch eine voreilige und oberflächliche Kategorisierung in seinen
verschiedenartigen Lernpotenzialen einschränken zu lassen. Für den Unterricht
gilt: Die Methode auf den Inhalt auszurichten und nach der möglichst idealen
Art der Vermittlung zu suchen. Ist dies der Fall, lernen alle besser,
unabhängig von ihren subjektiv wahrgenommenen Lernvorlieben. Auf die Produktion
von sinnlosen VAK-Fragebögen kann getrost verzichtet werden.
Quellen:
1 Polly R. Husmann, Valerie Dean O’Loughlin “Another Nail in the Coffin for Learning Styles? Disparities among Undergraduate Anatomy Students’ Study Strategies, Class Performance, and Reported VARK Learning Styles”. 2018, Anatomical Sciences Education
2 Philip M. Newton, Atharva Salvi “How Common Is Belief in the Learning Styles Neuromyth, and Does It Matter? A Pragmatic Systematic Review”, 2020, Frontiers in Education. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/feduc.2020.602451/full
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