11. Februar 2021

"Streitgespräch" über Hausaufgaben

Lange galten Hausaufgaben als unverzichtbar. Jetzt schaffen immer mehr Schulen sie ab. Doch einig sind sich die Fachleute nicht: Markus Buholzer (56) hat erwachsene Kinder und ist Rektor an der Volksschule Kriens LU, die die Hausaufgaben 2018 abschaffte. Samuel Zingg (40) vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz hat zwei Kinder im Primarschulalter. Er unterrichtet Mathematik und Französisch an der Oberstufe in Mollis GL, wo Hausaufgaben noch verteilt werden.

Die Qual nach der Schule - Hausaufgaben sind je länger je umstrittener, St. Galler Tagblatt, 11.2. von Stefan Müller

Herr Buholzer, seit zwei Jahren hat Ihre Schule in Kriens die Hausaufgaben aufgegeben. Warum?

Markus Buholzer: Wir wollten das Lernen der Schülerinnen und Schüler besser fördern, was ja ein wichtiger Auftrag der Schule ist. Wir sind zur Auffassung gelangt, dass die klassischen Hausaufgaben hierfür nichts bringen. Hausaufgaben unterstützen das Lernen ungenügend. Wir bieten stattdessen «Lernzeiten» an, wo selbstständiges Lernen möglich ist, während des Unterrichts und auch ausserhalb.

Herr Zingg, Sie sind Verfechter von Hausaufgaben…

Samuel Zingg: Ja, aber von «guten». Hausaufgaben sollen einen Wert haben, indem sie im Unterricht wieder aufgenommen werden. Wenn es um das Üben von neuem Stoff geht, will ich dabei sein. Dafür bin ich ausgebildet. Hingegen «Automatisierungen» wie zum Beispiel Fremdsprachen-Vokabeln oder Kopfrechnungen wie Reihen einprägen, können gut zu Hause stattfinden, täglich fünf Minuten für Vokabeln und zehn Minuten für Mathe. Oder dem Grossmami einen Französischtext vorlesen oder für die Geometrie zylindrische Gegenstände in der Wohnung suchen.

Herr Buholzer, wie geht das ohne Hausaufgaben?

Markus Buholzer: Kinder lernen immer und überall! Unsere Aufgaben haben wir eben in unsere «Lernzeiten» verlagert. Wir bieten Lernphasen an, wo die Kinder selbstständig an ihren Themen arbeiten können. In jenen Lernzeiten ausserhalb des Unterrichts, die freiwillig sind, werden sie ebenfalls begleitet. Gedacht sind diese für alle, aber insbesondere für Kinder, die zu Hause kein passendes Lernumfeld haben. Das fördert die Chancengleichheit. Die Kinder lernen so auch ohne «Ufzgi», an einer Sache dranzubleiben und sich die Zeit selber einzuteilen.

Schafft das nicht wieder neue Ungerechtigkeiten, weil die einen die Lernzeiten nutzen müssen, um weiterzukommen?

Markus Buholzer: Nein, die Lernzeiten werden von vielen intensiv genutzt und empfinden sie nicht als Last.

Samuel Zingg: Sind das dann aber nicht auch wieder eine Art Hausaufgaben? Mir stellt sich ausserdem die Frage, ob diese Lernzeiten für die Schülerinnen und Schüler auch Druck schaffen könnte im Sinne von: «Wenn du das Angebot nicht nutzest, bist du selbst schuld!»

Markus Buholzer: Druck machen eher die Eltern! Die Kinder können gut damit umgehen.

Prüfungsvorbereitungen sind traditionell meist Teil der Hausaufgaben. Wie bereiten sich Kinder vor in einer Schule ohne Hausaufgaben?

Markus Buholzer: Die Prüfungen werden bei uns ebenfalls in den Lernzeiten vorbereitet. Wir räumen jedoch mehr Vorbereitungszeit als früher ein. So kündigen wir die Prüfungen und Tests schon zum Beginn einer Lerneinheit an. Mit Erfolg, ein Leistungseinbruch trat nicht ein mit dem Wegfall der Hausaufgaben.

Samuel Zingg: Und jene Kinder, die die freiwilligen Lernzeiten nicht nutzen, bereiten sich wohl wie früher zu Hause auf die Prüfungen vor, nehme ich an? Das sind dann im Prinzip auch wieder Hausaufgaben, man nennt es einfach nicht mehr so.

Markus Buholzer: Aber sie müssen nicht. Sie können die von einer Lehrerin oder Lehrer begleitete Lernzeit dafür nutzen.

Samuel Zingg: Begleitete Zeit für Hausaufgaben und um für Prüfungen zu lernen, bieten wir auch.

Die Hausaufgaben-Diskussion gewinnt auch im Zusammenhang mit dem wegen der Pandemie erneut drohenden Fernunterricht an Aktualität. Kann man sagen, dass eine Schule mit Hausaufgaben generell besser für den Fernunterricht gewappnet ist?

Samuel Zingg: Nein. Es sind mehrere Faktoren, die da hineinspielen, und die Hausaufgabenpraxis hat da sicher keinerlei Einfluss. Anhand der Hausaufgaben kann man aber zum Teil darauf schliessen, bei welchen Schülerinnen und Schülern es eher klappen könnte und wo nicht.

Markus Buholzer: Entscheidend ist doch, dass Schülerinnen und Schüler eine Lernstrategie haben. Wir haben klare Hinweise, dass Kinder mit Lernzeiten, aber ohne Hausaufgaben organisierter und selbstständiger unterwegs sind als vorher. Darum gehen wir davon aus, dass sie während des Fernunterrichts gut arbeiten können.

Und was ist mit den leistungsschwachen Kindern?

Markus Buholzer: Für solche Kinder ist der Fernunterricht zweifellos ein Problem. Ihre Lernstrategien sind zu Hause oft zu wenig tragfähig.

Samuel Zingg: Das sehe ich auch so! Vor allem aber auch, wenn Kinder zu Hause keine ruhige Ecke zum Arbeiten finden, weil etwa daneben noch kleine Geschwister betreut werden müssen. Vielleicht gibt es auch nur einen Laptop im Haus. Dann bringt der beste Videochat nichts.

Wie macht man guten Fernunterricht?

Markus Buholzer: Die Inhalte müssen lebensnah und interessant sein – egal ob im Schulzimmer oder zuhause. Wichtig ist es, dass die Kinder die Aufgaben möglichst ohne elterliche Hilfe erledigen können.

Samuel Zingg: Es braucht auch einen abwechslungsreichen, rhythmisierter Unterricht mit Aufgaben, die nicht nur abgehakt oder abgeschrieben werden können. Und die Beziehung zum Lehrer ist zum Lernen zentral. Dem Videochat oder dem Telefon kommt deshalb grosse Bedeutung zu. Und das ist auch der anspruchsvollste Teil am Fernunterricht.

 

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