25. Januar 2021

Stadt Zürich will Ernährungsvorbild sein

Ein Cervelat, eine Packung Chips, saure Gummi-Apfelringe und eine Feldflasche mit gesüsstem Früchtetee: Was noch bis mindestens in die neunziger Jahre als klassischer Proviant für Schulreisen galt, ist heute verpönt. Zucker und falsches Fett sind böse: Das soll Kindern – und ihren Eltern – heute schon möglichst früh vermittelt werden.

Böse Bananen, nützliche Nüsse: Warum die Zürcher Schulen beim Essen zwischen Gut und Böse unterscheiden, NZZ, 25.1. von Lena Schenkel und Nils Pfändler

Längst warnt nicht nur die «Zahnfrau» mit dem grossen Gebissmodell und der überdimensionierten Zahnbürste wegen der Kariesgefahr vor Bananen zum Znüni, sondern auch ein Flyer, der zumindest in der Stadt Zürich schon Kindergartenkindern mit nach Hause gegeben wird.

Die grösste Gemeinde im Kanton liefert sogar «Ideen für gesunde Geburtstagsznünis». Darunter fallen etwa Popcorn, Butterbrezel oder Rosinenbrötchen. Auf einem anderen Informationsblatt für Eltern listet der Schulärztliche Dienst auf, wie Feste in Kindergarten, Schule und Hort «mit Phantasie, Genuss und erst noch gesund» gefeiert werden können – ohne Süssigkeiten in der Hauptrolle.

Kampf gegen das Übergewicht

Dass es sich die Schule zur Aufgabe gemacht hat, Kinder zu einem solchen Essverhalten zu erziehen, hat mehrere Gründe. Der erste ist gesundheitlicher Natur. Laut einer repräsentativen Schweizer Studie aus dem Schuljahr 2017/18 weisen rund 10 Prozent der 6- bis 12-Jährigen Übergewicht auf. Etwa 5 Prozent gelten als adipös, also fettleibig. Jungen sind davon stärker betroffen als Mädchen.

Bei den 9- bis 12-Jährigen sieht es nicht anders aus. Kinder mit Migrationshintergrund und solche von Eltern mit tieferer Schulbildung haben häufiger Übergewicht und Adipositas als Schweizer Kinder und solche von Eltern mit höherer Schulbildung. Das erklärt auch, warum die Tipps und Vorschläge in der Stadt Zürich in zwölf Sprachen abgegeben werden.

Während sie an die Eltern explizit nur Empfehlungen richtet, legt die Stadt Zürich seit 2009 verbindliche Ernährungsrichtlinien für ihre Schulen und Betreuungseinrichtungen fest. Laut Angaben des Schulgesundheitsdienstes waren solche Regeln von der Lehrerschaft explizit gewünscht worden.

So ist etwa festgeschrieben, dass das Frühstück im Hort aus einem Getreide- und einem Milchprodukt, einer Frucht oder einem Gemüse sowie einem ungesüssten Getränk wie Tee oder Hahnenwasser bestehen soll. Gesüsste Frühstückscerealien, Nuss-Nougat-Aufstriche oder Gipfeli gehörten dagegen nicht auf den Morgentisch. Vom Mittagstisch werden Süssgetränke verbannt; Salzstreuer und Aromat sowie Ketchup und Mayonnaise sollen dort nur in Ausnahmefällen stehen.

Schulen als zweites Zuhause

Dass sich die Stadt Zürich im Gegensatz zu anderen Gemeinden im Kanton derart stark engagiert, begründet sie damit, dass immer mehr Kinder ganztags betreut werden. Dereinst sollen hier sämtliche Schulen als Tagesschulen geführt werden.

Luzia Müller ist Ernährungsberaterin beim Schulärztlichen Dienst der Stadt Zürich. Sie sagt: «Dort, wo an der Schule gegessen wird, steht die Schule in der Verantwortung, eine kindergerechte und ausgewogene Verpflegung anzubieten.» Das sei im Sinne der Schule und der Eltern: Sie verbessere – insbesondere kombiniert mit Bewegung – das Wohlbefinden sowie die Lern- und Leistungsfähigkeit der Kinder. Die Richtlinien hätten sich mittlerweile bei allen Beteiligten gut etabliert, sagt Müller. «Vieles ist zur Selbstverständlichkeit geworden.»

Berücksichtigt werden dabei neben gesundheitlichen (und zahnschonenden) auch ökologische Aspekte. Schliesslich will die Stadt Zürich dereinst eine 2000-Watt-Gesellschaft sein. So sollen zum Beispiel Früchte und Gemüse saisonal und regional sein sowie «möglichst aus fairem Handel» stammen.

Es wird empfohlen, Fleisch nur zurückhaltend zu konsumieren. Zwei- bis viermal pro Woche soll es vegetarische Gerichte geben, Fisch nur ein- bis zweimal pro Monat. Mit dem Flugzeug transportierte Nahrungsmittel gilt es zu vermeiden. Dasselbe gilt für Food-Waste. Fallen doch einmal Speisereste an, sollen diese möglichst als Bioabfall entsorgt werden.

Esswaren und Getränke für die Pausen werden in ein Ampelsystem eingeteilt. Als grün und uneingeschränkt empfehlenswert sind etwa Nüsse und «saisonale, regionale Früchte» aufgeführt. Orange und damit nur ab und an empfohlen sind zum Beispiel exotische Früchte wie Bananen und Mango, Fruchtsäfte oder Weissbrot.

Rot und laut den Stadtzürcher Ernährungsrichtlinien ungeeignet sind Süssgetränke – ob mit Zucker oder Süssstoff – wie Milchdrinks oder Cola, aber auch Getreideriegel mit Zucker- oder Honigzusatz sowie Schokolade.

Die Stadt Zürich will ein Ernährungsvorbild sein

len./nil. Auch ausserhalb der Schulen setzt sich die Stadt Zürich für eine gesunde und ausgewogene Ernährung ein. Basierend auf einer Volksabstimmung von 2017 verpflichtet sie sich in der Gemeindeordnung, quasi ihrer Verfassung, eine umweltschonende Ernährung zu fördern und über den Einfluss der Ernährung auf das globale Klima zu informieren.

Der Zürcher Stadtrat hat deshalb eine Ernährungsstrategie bis 2030 verabschiedet, an der sich auch die Schulgesundheitsdienste orientieren. Ziel ist eine «genussvolle, gesunde, sichere und ressourcenschonende Ernährung». So sollen etwa die 450 städtischen Verpflegungsbetriebe den Food-Waste verringern, eine ausgewogene Ernährung anbieten und nachhaltige Produkte bevorzugen. 

Noch weiter gehen wollten letzten Herbst zwei junge Gemeinderätinnen. Elena Marti (gp.) und Anjushka Früh (sp.) warfen die Frage auf, ob die Stadtzürcher Spitäler und Altersheime nur noch vegetarisches und veganes Essen anbieten sollen. Der Stadtrat stellte sich jedoch entschieden dagegen. Zum einen würden dort kranke und schwerstkranke Personen mit erhöhtem Proteinbedarf behandelt, deren Appetit oft reduziert sei. Zum anderen bedeute Essen nicht nur Ernährung, sondern auch Genuss. Gerade ältere Personen bevorzugten häufig Speisen, die sie kennten.

Der Umgang der Zürcher Schulen mit dem Thema Ernährung passt nicht allen. Die FDP-Gemeinderätin und Primarlehrerin Yasmine Bourgeois begrüsst zwar, dass in der Betreuung auf gesunde Ernährung geachtet wird. Ihr stösst aber sauer auf, wenn dies darüber hinaus – zum Beispiel im Unterricht – mit ideologischer Aufklärungsarbeit vermischt wird. «Es ist nicht Aufgabe der Schule, den Kindern zu sagen, was sie essen dürfen und was nicht», sagt Bourgeois. «Die Schulen sollen sich nicht ins Private einmischen.»

Sie selber habe einmal erlebt, wie eine Kindergärtnerin eingeschritten sei, als ein Kind ein Fruchtpüree als Znüni mitgebracht habe. «Das kannst du gleich wieder einpacken, das hat Zucker drin», habe sie ihm gesagt – obwohl das Püree gemäss den Verpackungsangaben gar nicht gesüsst war. Das Kind musste auf seinen Znüni verzichten.

Ähnlich wie Bourgeois sieht es der SVP-Gemeinderat Stefan Urech. Der 33-Jährige ist Sekundarlehrer in Mettmenstetten. Auch ihm ist eine gesunde Ernährung ein Anliegen. Wenn er zum Beispiel einen Schüler regelmässig mit Chips und Cola auf dem Pausenplatz sehe, dann suche er das Gespräch mit den Eltern.

Lebensmittel wie Gipfeli und Süssgetränke ganz vom Menuplan zu verbannen, gehe aber zu weit, findet Urech. Das sei auch aus pädagogischer Sicht wenig sinnvoll: «Es wäre doch eine wichtige Aufgabe, den Schülerinnen und Schülern einen massvollen Konsum beizubringen.»

Urech hat auch Mühe damit, wenn vorgeschrieben wird, wievielmal pro Woche Fleisch auf den Teller kommt. Die zunehmende Verbotskultur könnte darauf hinauslaufen, dass tierische Produkte irgendwann ganz vom Speisezettel der Schulen verschwänden. «Wenn ich mir die Mehrheitsverhältnisse im Zürcher Stadtparlament anschaue, dann kann ich mir vorstellen, dass solche Forderungen früher oder später aufkommen.»

«Vegi-Menu sollte zur Norm werden»

Damit könnte Urech recht haben. Im linken Lager finden solche Vorschläge nämlich durchaus Anklang. Selina Walgis, Gemeinderätin der Grünen, spricht sich zwar ebenfalls gegen Verbote aus. Die bestehenden Richtlinien gehen der Primarlehrerin in Bezug auf die tierischen Produkte aber zu wenig weit. «Die Mahlzeiten in den Schulen müssen nicht ausschliesslich vegetarisch oder vegan sein», sagt Walgis. «Aber das Vegi-Menu sollte zur Norm werden.» Ein solches Vorgehen würde auch dem Umstand gerecht werden, dass viele Kinder aus religiösen Gründen bestimmtes Fleisch nicht essen.

Die Ernährung und die Gesundheit seien politische Themen, sagt die 28-Jährige – besonders wegen der Umwelt. «Die Stadt, die Schulen und die Politik tragen eine grosse Verantwortung. Hier könnte Zürich eine Vorreiterrolle einnehmen.»

Der SP-Fraktionspräsident Davy Graf teilt diese Meinung. Das Essen in den Schulen müsse nicht nur ausgewogen sein, sondern auch dem Klimaschutz Rechnung tragen. «Fleisch- und Milchprodukte sorgen für eine viel grössere Umweltbelastung. Das ist ein Fakt», sagt Graf.

Vegetarische Essen sollten deshalb als vollwertige Mahlzeiten anerkannt werden. Das entspreche auch dem Trend in der Bevölkerung, der Fleischkonsum gehe immer mehr zurück. «Darum ist es richtig, wenn auch die Volksschule diese Richtung weiterverfolgt.»

Die Entwicklung hin zu strikteren Essensregeln dürfte in Zukunft nicht abreissen. Auch in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sind eine «ausgewogene Ernährung» sowie «genussvolles Essen und Trinken» als Teil eines «gesundheitsförderlichen Lebensstils» ein fester Bestandteil des Unterrichts.

Die Zeiten von Cervelat, Chips und Cola im Schulhaus, sie dürften gezählt sein.

 

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