11. Januar 2021

Nur ja keinen Fernunterricht

Eigentlich sei sie eine «grenzenlose Optimistin», sagt Silvia Steiner (CVP). Aktuell beschreibt die Zürcher Bildungsdirektorin und Präsidentin der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) ihre Gemütslage als «verhalten optimistisch». Aufgrund knapper Impfstoffe und angesichts mutierter Virenstämme und noch unklarer Auswirkungen der vergleichsweise hohen Bewegungsfreiheiten während der Festtage sei abzuwarten, ob die Zahlen nicht wieder in die Höhe schnellten. Sie sei selbst gespannt.

Doch was bedeutet das nun für die Zürcher Schulen?

"Fernunterricht ist der letzte Ausweg", Tages Anzeiger, 9.1. von Anielle Peterhans

Frau Steiner, welches sind Ihre Erinnerungen an die Schulschliessung im Frühling?
Rückblickend kann man sagen, dass wir wertvolle Erfahrungen sammeln konnten mit Fernunterricht. Die Schulen meisterten diese Aufgabe gut. Es zeigte sich aber auch, wo Optimierungspotenzial besteht in Bezug auf die technische Ausrüstung, die Unterrichtsmaterialien und die Ausbildung. Digitale Plattformen, die teils zum ersten Mal genutzt wurden, fanden vielfach Eingang in den schulischen Alltag. Auf der anderen Seite sahen wir aber auch, welche Auswirkungen der Fernunterricht auf die Schülerinnen und Schüler, auf ihr Lernverhalten, ihren Lernerfolg und ihre Psyche hat. Gerade der letzte Punkt bringt die EDK als Gesamtgremium zur Überzeugung, dass wir alles tun müssen, um Schulschliessungen und die Umstellung auf Fernunterricht zu verhindern.

Warum ist das so wichtig?
Ein Teil der Schülerinnen und Schüler auf der Stufe Sek I befindet sich im Berufswahlverfahren. Die Schülerinnen und Schüler der Berufsfachschulen und der Mittelschulen sind im Qualifikationsverfahren. Eine Umstellung auf Fernunterricht just zu diesem Zeitpunkt könnte einen Knick in der Bildungslaufbahn zur Folge haben. Es könnte den Kindern und Jugendlichen schaden, wenn ein Corona-Jahrgang entsteht. Ihr Recht auf Bildung jetzt einzuschränken, bedeutet, dass sie allenfalls Nachteile hätten bei der Eingliederung in den Arbeitsprozess oder dem weiteren Verlauf ihrer Bildungskarriere. 

Welche Konsequenzen hat eine Schliessung ausserhalb der Schule?
Ich sehe vor allem im sozialen Bereich Probleme: Bei den psychiatrischen Notfallinstitutionen für Jugendliche und Kinder zeigt sich nämlich eine Zunahme der Notfallkontakte von rund 40 Prozent. Häusliche Gewalt hat im Kanton Zürich um 10 Prozent zugenommen. Das heisst: Schülerinnen und Schüler erleiden durch Schulschliessungen nicht nur einen Bildungsnachteil, sie sind auch potenziell in ihrer Integrität gefährdet. Ein solcher Eingriff in die Freiheitsrechte kann nur Ultima Ratio sein. Wir müssen alles daran setzen, mögliche Kollateralschäden zu vermeiden - also eine Güterabwägung vorzunehmen zwischen Nutzen in der Pandemiebekämpfung und Beeinträchtigung durch die Massnahmen.

Ist Zürich heute nicht besser auf diese Situation vorbereitet?
Wir verfügen über verschiedene Eskalationsszenarien, die bereits ausgearbeitet sind. Für uns ist es massgebend, wie sich die epidemiologische Lage weiterentwickelt und ob die Zahlen weitere Massnahmen für die Schulen nahelegen.

Was ist, wenn sich die Lage deutlich verschlechtert?
Wir könnten auf Fernunterricht umstellen und mit klugen organisatorischen Ausnahmeregelungen wohl das Schlimmste verhindern. Aber es muss der letzte Ausweg sein und nur Bestandteil eines kompletten Lockdown. Wenn die Schülerinnen und Schüler nicht mehr in die Schulen müssen, weil sie im Fernunterricht sind, aber die Läden offen sind, dann gehen sie - plakativ gesagt - einfach ins Shoppingcenter. Dort mischen sich dann Personengruppen, die sonst unter sich blieben. Und dann haben wir einen Effekt, der noch schädlicher ist, als wenn sie in die Schulen gehen. In der Schule wissen wir, welche Personengruppen zusammen sind.

Der Bundesrat bestätigte am Mittwoch, dass die Kantone auch weiterhin über den Bildungsbereich entscheiden. Arbeiten Sie zusammen?
Unter den Kantonen herrscht ein starker Konsens. Gerade in den Volksschulämtern gibt es interkantonale Absprachen, um Massnahmen anzugleichen. Der Bundesrat wird der EDK demnächst einen Prüfauftrag erteilen: Die Kantone sollen überlegen, welche zusätzlichen Massnahmen in obligatorischen Schulen getroffen werden können, falls solche unumgänglich sind.

Welche wären das?
Ich will nicht auf Details eingehen, aber wir halten die Eskalationskonzepte in der Schublade bereit. Man darf nicht vergessen, wir haben schon heute gute Schutzkonzepte: Es gibt ausgedehnte Maskenpflicht, Einschränkungen im Sportunterricht, Hygieneauflagen und Unterricht auf Distanz. Die Bildungsdirektion hat darum für die Schulen ein spezialisiertes Contact-Tracing aufgebaut. Es ergänzt das kantonale Contact-Tracing, um vertieft die schulische Situation zu klären und die Schulen zu beraten. So kann man auf lokale Ausbrüche rasch reagieren. Derzeit ist die Infektionszahl bei den unter 18-Jährigen relativ tief.

Sind im Eskalationskonzept auch Entlastungsvorschläge für Lehrpersonen vorgesehen?
Das Wohl der Lehrpersonen liegt mir am Herzen. Ich glaube nicht, dass der Fernunterricht viel Druck von ihnen wegnehmen würde. Wir müssen sehr genau schauen, wo es Entlastungsmöglichkeiten gibt und wie man reagieren kann, wenn wir nicht mehr genügend Lehrkräfte haben, weil sie krankheitsbedingt ausfallen. Das ist aber eine Führungsaufgabe der Schulleitungen, die das bisher gut gehandhabt haben. Und es ist ein laufender Prozess.

1 Kommentar:

  1. Auch der LCH will ja den Fernunterricht wenn immer möglich vermeiden. Und wie die EDK begründet dies auch der LCH mit der Chancengerechtigkeit. Seltsam, da weist z.B. PISA seit 20 Jahren auf die schlechten Bildungschancen von bestimmten Bevölkerungsgruppen hin und jetzt, ausgerechnet während einer Pandemie, entdeckt man plötzlich den Notstand bei der Chancengerechtigkeit.

    Auch seltsam: Als wir im Mai wieder in die Schule gehen durften, war man des Lobes voll für den so wunderbar umgesetzten Fernunterricht. Jetzt will niemand mehr etwas davon wissen.

    Und nochmals etwas Seltsames: Deutschland, Italien und Österreich schlossen die Schulen trotz deutlich tieferen Zahlen als die Schweiz. Sind diese Länder einfach blöd?

    AntwortenLöschen