22. Januar 2021

Fehlende Digitalstrategie

Wenn es in dieser Pandemie einen Konsens gab, dann diesen: Schulschliessungen müssen um jeden Preis vermieden werden. Am Mittwoch bekräftigte der Bundesrat diese Haltung, nachdem die kantonalen Erziehungsdirektoren und die Corona-Task-Force dringend von einer zweiten Schulschliessung abgeraten hatten. Vom Tisch ist die Massnahme aber nicht. Der Kanton Aargau schickt per 25. Januar alle Mittel- und Berufsschüler in den Fernunterricht. Breiten sich die neuen Virusvarianten weiter aus, könnte in Sekundar-, Gymnasial- und Berufsschulen landesweit Fernunterricht verordnet werden. Die Primarschüler und Kindergärtler soll es nur im äussersten Notfall treffen. Denn seit der nationalen Schliessung der Schulen im Frühling gilt das Credo, dass die negativen Folgen für Kinder auf dieser Stufe am stärksten sind.


"Jugendliche weinen mittlerweile gleich viel wie Kinder im Vorschulalter", NZZ, 22.1. von Andri Rostetter
Bis jetzt bleibt indes nur beschränkt nachvollziehbar, warum die älteren Schüler von den Schliessungen weniger betroffen sein sollen. Zwar sind Jugendliche selbständiger als jüngere Kinder, der Betreuungsaufwand für die Eltern hält sich in Grenzen. Kaum diskutiert wurde bis jetzt aber, wie stark Jugendliche mit den Folgen von Schulschliessungen zu kämpfen haben.

Gleichaltrige als wichtige Bezugspersonen

«Wir unterschätzen, dass Jugendliche ohnehin in einer schwierigen Phase ihres Lebens sind – auch ohne Pandemie», sagt Stefanie Schmidt, Assistenzprofessorin für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Bern. Für Schmidt ist klar: «Das ganze Ausmass werden wir erst überblicken, wenn die Pandemie vorüber ist.»

Dass Schulschliessungen nicht spurlos an den Jugendlichen vorübergehen, zeigt sich allerdings schon jetzt. Schmidt beobachtet deutlich mehr Fälle von Ängstlichkeit, depressiven Zuständen und anderen psychischen Problemen. «Jugendliche weinen mittlerweile gleich viel wie Kinder im Vorschulalter», sagt sie. Ein erheblicher Stressfaktor sei der Verlust des Kontakts zu Gleichaltrigen. «Jugendliche sind angewiesen auf diesen Austausch, die Gespräche, die gegenseitige Bestätigung und Unterstützung.»

Gleichzeitig habe die Zeit, die Jugendliche vor dem Bildschirm verbringen, merklich zugenommen. Die James-Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), die im April 2020 durchgeführt wurde, zeichnet ein klares Bild: Ein Drittel aller 12- bis 19-Jährigen in der Schweiz besitzt ein eigenes Abo, um Filme und Serien oder Musik zu streamen. 90 Prozent der Jugendlichen haben ein Konto bei Instagram oder Snapchat, über vier Fünftel nutzen diese Plattformen mehrmals pro Woche. 99 Prozent verfügen über ein eigenes Smartphone, das sie im Schnitt 3 Stunden und 47 Minuten pro Wochentag nutzen – am Wochenende sind es über 5 Stunden.

Beschränkte Macht über das eigene Nutzungsverhalten

«Viele digitale Medienangebote sind ‹addictive by design›: Sie sind durch Nudging so aufgebaut, dass die Nutzerinnen und Nutzer fast nicht mehr abschalten können und Ängste entwickeln, etwas zu verpassen, wenn sie offline sind», sagt Daniel Süss, Professor für Medienpsychologie an der ZHAW und Mediensozialisation und -kompetenz an der Universität Zürich als Co-Leiter der James-Studie. Es liegt also nicht in erster Linie an den Jugendlichen, wenn sie nicht mehr von Tiktok, Fortnite, Netflix und Co. wegkommen – sie haben schlicht nur eine beschränkte Macht über ihr eigenes Nutzungsverhalten, wenn sie nicht über hohe Medienkompetenz, Selbstreflexion und -disziplin verfügen.

Wie sich Schulschliessungen auf die Mediennutzung auswirken, zeigt ein Blick ins Ausland. In der «New York Times» berichten Suchtexperten von einem alarmierenden Anstieg der Mediennutzung von Jugendlichen weltweit, der nach der Pandemie in einen «epischen Entzug» münden werde. 14-Jährige, die vor dem Lockdown ein normales Leben geführt hätten, sässen heute bis zu 40 Stunden pro Woche vor ihrer Xbox. In Deutschland verbrachten die Jugendlichen im Corona-Frühling 2020 werktags im Durchschnitt knapp 140 Minuten mit Computerspielen, wie die Längsschnittstudie der deutschen Krankenkasse DAK zeigt. Im Vergleich zum Herbst 2019 entspricht das einem Anstieg von 75 Prozent. Die Nutzung von Social Media stieg im gleichen Zeitraum um 66 Prozent. Für die Schweiz existieren abgesehen von der James-Studie noch keine vergleichbaren Daten, die Zahlen dürften sich aber etwa im gleichen Rahmen bewegen.

Social Media – eine geschönte Welt

«Für die Jugendlichen wird es ein langer Weg zurück in die Normalität sein», sagt die Psychologieprofessorin Schmidt. Es sei zwar wichtig, dass sich die Jugendlichen während der Pandemie online austauschten. «Der Verlust der Kontakte lässt sich durch Social Media aber nur teilweise kompensieren. Im echten Leben funktioniert es eben doch ganz anders.» Von Social Media seien die Jugendlichen schnelle Likes und kurze, oft positive Nachrichten gewohnt. «Es ist eine geschönte Welt mit wenig Raum für negative Erlebnisse und psychische Probleme.»

Die Zeit, die Jugendliche mit Medien verbringen, sei allerdings noch kein abschliessender Indikator für problematisches Verhalten, sagt Cédric Stortz, Projektleiter beim Fachverband Sucht. «Die Frage ist, ob die Kontrolle über das eigene Verhalten noch da ist.» Wenn ein Jugendlicher nach wie vor seine Freunde treffe, Sport treibe und andere Hobbys habe, könne auch ein hoher Medienkonsum unproblematisch sein. Dafür sei bei Jugendlichen, die einen hohen Medienkonsum zeigten, sich aber von der Aussenwelt abkapselten, erhöhte Aufmerksamkeit geboten. Das Stereotyp des männlichen Jugendlichen, der seine Zeit mit Computergames verbringt, verstelle allerdings den Blick auf andere Risikogruppen. «Bei Mädchen geht es viel länger, bis man von einem problematischen Instagram-Konsum spricht.» Das zeige sich auch in der Politik der Weltgesundheitsorganisation (WHO). «Seit 2019 führt sie die Computerspielsucht (gaming disorder) als international anerkannte Krankheit. Von einer Social-Media-Sucht ist bis heute dagegen nirgends die Rede.» Eine grosse Schwierigkeit zeige sich auch bei der Vorbildfunktion der Eltern, sagt Stortz. «Sie arbeiten den ganzen Tag am Bildschirm, schauen abends Netflix und sagen gleichzeitig den Kindern, dass sie nicht so viel gamen sollen.»

Kritik wegen fehlender Digitalstrategie

Der deutsche Kinderpsychiater Karl Heinz Brisch hat den Satz «Bindung kommt vor Bildung» geprägt. Gemeint ist damit, dass Kinder und Jugendliche erst dann lernen können, wenn sie sich emotional sicher fühlen. Das bedeutet, dass sie eine sichere Bindung zur Lehrperson aufbauen müssen, bevor sie Lernstoff aufnehmen können. Der Fernunterricht erschwert nicht nur diese Bindung, er wirkt sich auch auf die Motivation aus – gemeinsames Lernen wirkt ansteckend. «Jugendliche gehen vor allem wegen des sozialen Austauschs gern in die Schule», sagt der Medienpsychologe Süss. Die Vorstellung, dass man in Zukunft grosse Teile der Schule als Fernunterricht gestalten kann, sei ein Trugschluss. «Es braucht die anregende räumliche und soziale Umgebung zum Lernen. Gute Schule ist mit allen Sinnen verbunden, der Fernunterricht am Laptop reduziert sie auf das Audiovisuelle.»

Neu ist das Problem nicht. Laut der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2017 zeigen 11,2 Prozent der 15- bis 24-Jährigen eine problematische Internetnutzung – keine andere Altersgruppe ist stärker betroffen. Die HBSC-Studie 2018 der Stiftung Sucht Schweiz kam zu dem Resultat, dass ein Viertel der 15-Jährigen Social Media zur Flucht vor Ängsten und Stress nutzt. Die Corona-Krise und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen begünstigten diesen Trend, schreibt Sucht Schweiz.

Olivier Steiner, Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz, sieht im Fernunterricht insbesondere für sozioökonomisch benachteiligte Jugendliche ein Problem. «Sie sind am stärksten gefährdet, im Fernunterricht den Anschluss zu verlieren, weil sie zum Teil schlechtere technische Voraussetzungen oder bereits ein problematisches Nutzungsverhalten haben. Statt dem Unterricht zu folgen, spielen sie jetzt erst recht Fortnite.»

Er wundere sich, dass die Schulen nach der ersten Schliessung im Frühling 2020 so wenig unternommen hätten, um dafür zu sorgen, dass gerade schwächere Schüler im Fernunterricht nicht abgehängt würden, sagt Steiner. «Es fehlte eine konsistente Digitalstrategie, die mit Medienpädagogik und Schulsozialarbeit abgestimmt ist.» Die Pandemie habe zwar längst überfällige Entwicklungen beschleunigt, etwa in Bezug auf neue Lernformen wie Blended Learning (die Kombination von Präsenzveranstaltungen und E-Learning). Aber jetzt verharrten die Schulen wieder in der Warteposition. Steiner zeigt sich überzeugt: Eine zweite längere Schulschliessung wird das Gefährdungspotenzial weiter steigern. «Die Kosten dafür wird die gesamte Gesellschaft tragen – in Form von mehr Schülern, die den Berufseinstieg verpassen und in der Arbeitslosigkeit und der Sozialhilfe landen.»


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