24. Januar 2021

Es braucht ein klares Bekenntnis zur Gesundheit von Schülern und Lehrern

Über zwei Millionen Menschen in der Schweiz arbeiten seit Montag im Homeoffice. Informatiker, Beamtinnen, Ingenieure. Das Infektionsgeschehen verfolgen sie vom Computer auf dem Küchentisch aus. 

Andere Arbeitnehmende haben es gerade weniger wohlig. Pflegerinnen, Kassierer oder Lehrerinnen sind täglich dort im Einsatz, wo trotz Lockdown noch immer viele Menschen zusammenkommen. In Spitälern, in Läden, in Schulzimmern. Von Angst und Erschöpfung berichteten bisher vor allem die Pflegenden. Ihr öffentlicher Appell löste in der ersten Corona-Welle Solidarität aus und befeuerte in der zweiten schärfere Massnahmen. 

So wird der Erfolg des Lockdown torpediert, Tages Anzeiger, 23.1. von Raphaela Birrer

Jetzt schlagen die Lehrer Alarm. Sie könnten die Schutzkonzepte in den Klassenzimmern mit über 20 Schülern nicht einhalten, kritisieren sie. Als «Kanonenfutter» fühlen sie sich im Kampf gegen das mutierte Virus, das sich zunehmend auch in Schulhäusern ausbreitet. Sogar Schulschliessungen sind für die Lehrerschaft kein Tabu mehr - wenn Bund und Kantone ihre Gesundheit nicht besser schützten. Tatsächlich meldeten diese Woche Schulgemeinden in der ganzen Schweiz im Stundentakt neue Covid-Fälle und neue Massnahmen. 

Ist das noch zu verantworten? Müssten die Schulen wie im Frühling geschlossen werden? Komplexe Fragen. Aber die Antwort wird klar, wenn man in einer Gesamtabwägung die Situation aller Beteiligten berücksichtigt. 

Die Lehrer

Lange galten Kinder nicht als Pandemie-Treiber. Ob das auch für die mutierten Viren gilt, ist noch unklar. Fakt ist: In Grossbritannien hat sich die ansteckendere Variante stark in den Schulzimmern verbreitet. Die Sorgen der Lehrer sind deshalb ernst zu nehmen. Sie gehen uns alle an: 94’000 Personen sind allein in Schweizer Primar- und Oberstufen tätig. 955’000 Kinder und Jugendliche besuchen die obligatorische Schule. Kommen sich also täglich nur schon in der Primar- und der Sekundarschule über eine Million Menschen unter unzureichenden Schutzbedingungen nahe, haben wir ein Problem. Dann bleibt auch das wohlige Homeoffice wirkungslos, weil die Lehrerinnen und die Kinder das Virus an den Küchentisch tragen. Damit torpedieren wir den sehr teuer erkauften Lockdown selber. 

Die Schüler

Beim Fernunterricht im Frühling öffnete sich bereits nach kurzer Zeit die Schere: Gemäss einer Studie hat etwa ein Drittel der Schüler wenig bis fast nichts gelernt. Diese Kinder arbeiteten nicht an ihren Aufgaben. Sie spielten Playstation oder sahen fern. Im digitalen Unterricht wurden jene Schüler abgehängt, deren Lernverhalten zu Hause ohnehin zu wenig kontrolliert wird. Die Forschung ist eindeutig. Besonders bei kleinen Kindern wirken sich Bildungsversäumnisse langfristig aus. Sie können ganze berufliche Laufbahnen negativ beeinflussen. Auch die Erfahrungen im sozialen Gefüge einer Klasse sind einzigartig, sie lassen sich angesichts der raschen kindlichen Entwicklung nicht nachholen. Und schliesslich leidet neben der Betreuung der Kinder auch die Produktivität der Eltern im Homeoffice, wenn die Schulen geschlossen sind. 

Die Politik

Schaffen wir also eine verlorene jüngere Generation, wenn wir die Schulen schliessen? Oder opfern wir letztlich eine ältere Generation, wenn wir dem Virus in den Schulen die Ausbreitung gewähren? 

Die Politik fällt erneut in das Muster zurück, das ihr Handeln in der Corona-Krise kennzeichnet: Sie beschwichtigt - und verliert damit wertvolle Zeit. «Die Schulen auf allen Stufen sind heute aufgrund ihrer strengen Schutzkonzepte Orte von hoher Sicherheit», resümierten die kantonalen Erziehungsdirektoren letzte Woche. Eine eigenwillige Interpretation der Zustände in den Klassenzimmern.

Dabei wäre ihr Eskalationsmodell sinnvoll: Es sieht strengere Maskenpflicht und Quarantänevorschriften an Schulen vor, wenn sich die Lage verschlechtert. Vielerorts ist Stufe sieben von zehn erreicht - die letzte Stufe, ehe ein Wechsel in den Fernunterricht erfolgt. 

Doch diese Massnahmen reichen nicht. Jetzt ist Koordination statt Kakofonie nötig. Die Kantone müssen alles daransetzen, dass sich der hilflose Regelbasar des Spätherbsts nicht wiederholt. Statt Schulschliessungen bräuchte es jetzt vor allem ein klares Bekenntnis zur Gesundheit der Schüler und Lehrerinnen. Dichtere Masken, grosszügigere Corona-Tests, verbindlichere Quarantäneregeln, prioritär geimpfte Lehrer: Diese Elemente müssten zwingend ins schulische Corona- Repertoire kommen. Denn wir dürfen hier nicht die Bildungschancen gegen die Gesundheit abwägen. Unser Ehrgeiz muss es sein, beides möglich zu machen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen