Über zwei Millionen Menschen in der Schweiz arbeiten seit Montag im Homeoffice. Informatiker, Beamtinnen, Ingenieure. Das Infektionsgeschehen verfolgen sie vom Computer auf dem Küchentisch aus.
Andere Arbeitnehmende haben es gerade weniger wohlig.
Pflegerinnen, Kassierer oder Lehrerinnen sind täglich dort im Einsatz, wo trotz
Lockdown noch immer viele Menschen zusammenkommen. In Spitälern, in Läden, in
Schulzimmern. Von Angst und Erschöpfung berichteten bisher vor allem die
Pflegenden. Ihr öffentlicher Appell löste in der ersten Corona-Welle
Solidarität aus und befeuerte in der zweiten schärfere Massnahmen.
So wird der Erfolg des Lockdown torpediert, Tages Anzeiger, 23.1. von Raphaela Birrer
Jetzt schlagen die Lehrer Alarm. Sie könnten die
Schutzkonzepte in den Klassenzimmern mit über 20 Schülern nicht einhalten,
kritisieren sie. Als «Kanonenfutter» fühlen sie sich im Kampf gegen das
mutierte Virus, das sich zunehmend auch in Schulhäusern ausbreitet. Sogar
Schulschliessungen sind für die Lehrerschaft kein Tabu mehr - wenn Bund und
Kantone ihre Gesundheit nicht besser schützten. Tatsächlich meldeten diese
Woche Schulgemeinden in der ganzen Schweiz im Stundentakt neue Covid-Fälle und
neue Massnahmen.
Ist das noch zu verantworten? Müssten die Schulen wie im
Frühling geschlossen werden? Komplexe Fragen. Aber die Antwort wird klar, wenn
man in einer Gesamtabwägung die Situation aller Beteiligten
berücksichtigt.
Die Lehrer
Lange galten Kinder nicht als Pandemie-Treiber. Ob das auch
für die mutierten Viren gilt, ist noch unklar. Fakt ist: In Grossbritannien hat
sich die ansteckendere Variante stark in den Schulzimmern verbreitet. Die
Sorgen der Lehrer sind deshalb ernst zu nehmen. Sie gehen uns alle an: 94’000
Personen sind allein in Schweizer Primar- und Oberstufen tätig. 955’000 Kinder
und Jugendliche besuchen die obligatorische Schule. Kommen sich also täglich
nur schon in der Primar- und der Sekundarschule über eine Million Menschen
unter unzureichenden Schutzbedingungen nahe, haben wir ein Problem. Dann bleibt
auch das wohlige Homeoffice wirkungslos, weil die Lehrerinnen und die Kinder
das Virus an den Küchentisch tragen. Damit torpedieren wir den sehr teuer
erkauften Lockdown selber.
Die Schüler
Beim Fernunterricht im Frühling öffnete sich bereits nach
kurzer Zeit die Schere: Gemäss einer Studie hat etwa ein Drittel der Schüler
wenig bis fast nichts gelernt. Diese Kinder arbeiteten nicht an ihren Aufgaben.
Sie spielten Playstation oder sahen fern. Im digitalen Unterricht wurden jene
Schüler abgehängt, deren Lernverhalten zu Hause ohnehin zu wenig kontrolliert
wird. Die Forschung ist eindeutig. Besonders bei kleinen Kindern wirken sich
Bildungsversäumnisse langfristig aus. Sie können ganze berufliche Laufbahnen
negativ beeinflussen. Auch die Erfahrungen im sozialen Gefüge einer Klasse sind
einzigartig, sie lassen sich angesichts der raschen kindlichen Entwicklung
nicht nachholen. Und schliesslich leidet neben der Betreuung der Kinder auch
die Produktivität der Eltern im Homeoffice, wenn die Schulen geschlossen sind.
Die Politik
Schaffen wir also eine verlorene jüngere Generation, wenn
wir die Schulen schliessen? Oder opfern wir letztlich eine ältere Generation,
wenn wir dem Virus in den Schulen die Ausbreitung gewähren?
Die Politik fällt erneut in das Muster zurück, das ihr
Handeln in der Corona-Krise kennzeichnet: Sie beschwichtigt - und verliert
damit wertvolle Zeit. «Die Schulen auf allen Stufen sind heute aufgrund ihrer
strengen Schutzkonzepte Orte von hoher Sicherheit», resümierten die kantonalen
Erziehungsdirektoren letzte Woche. Eine eigenwillige Interpretation der
Zustände in den Klassenzimmern.
Dabei wäre ihr Eskalationsmodell sinnvoll: Es sieht
strengere Maskenpflicht und Quarantänevorschriften an Schulen vor, wenn sich
die Lage verschlechtert. Vielerorts ist Stufe sieben von zehn erreicht - die
letzte Stufe, ehe ein Wechsel in den Fernunterricht erfolgt.
Doch diese Massnahmen reichen nicht. Jetzt ist Koordination statt Kakofonie nötig. Die Kantone müssen alles daransetzen, dass sich der hilflose Regelbasar des Spätherbsts nicht wiederholt. Statt Schulschliessungen bräuchte es jetzt vor allem ein klares Bekenntnis zur Gesundheit der Schüler und Lehrerinnen. Dichtere Masken, grosszügigere Corona-Tests, verbindlichere Quarantäneregeln, prioritär geimpfte Lehrer: Diese Elemente müssten zwingend ins schulische Corona- Repertoire kommen. Denn wir dürfen hier nicht die Bildungschancen gegen die Gesundheit abwägen. Unser Ehrgeiz muss es sein, beides möglich zu machen.
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