18. November 2020

Studie zu Schulschliessungen

Wie gut haben Schülerinnen und Schüler im Lockdown gelernt? - Eine Frage, die Bildungsfach leute, Lehrpersonen und Eltern nach wie vor umtreibt. Bisherige Studien dazu basierten lediglich auf Umfragen. Jetzt belegen Forscher der britischen Universität Oxford erstmals anhand tatsächlicher Leistungen von Primarschülern vor und nach dem Lockdown: Der Lernfortschritt blieb rund 20 Prozent unter dem erwarteten Wert.

Primarschüler leiden unter Schulschliessungen, Tages Anzeiger, 18.11. von Simone Luchetta
«Das ist alarmierend. Die meisten Kinder lernten so gut wie nichts», sagt die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. Sie war Professorin an der Universität Freiburg und führt heute ein eigenes Forschungsinstitut in Aarau. Stamm sagt, die Ergebnisse seien auch auf die Schweiz übertragbar. 

Ähnliche Befunde in der Schweiz

Die Studie basiert auf Daten aus den Niederlanden, wo alle Primarschülerinnen und -schüler im Januar und vor Schuljahresende im Sommer in den Fächern Mathematik, Lesen und Schreiben einem landesweiten Test unterzogen werden: «Wir haben die Testergebnisse von über 100’000 Schulkindern zwischen dem 7. und 11. Altersjahr vor und nach dem Lockdown untersucht und deren Noten mit den Ergebnissen in den vorherigen Jahren verglichen», sagt Mitautor Arun Frey im Videogespräch.

Die Autoren konnten messen, dass die Schüler im Vergleich zu den vorherigen Jahren rund drei Prozentpunkte schlechter abgeschnitten haben; der Lernfortschritt blieb demnach rund 20 Prozent unter dem erwarteten Wert: «Das heisst, dass die Schüler im Schnitt etwa ein Fünftel weniger gelernt haben als in einem normalen Schuljahr - was genau der Zeit entspricht, während der die Schulen geschlossen waren», sagt Frey. 

Mit anderen Worten: Praktisch jede Stunde, die die Kinder nicht in der Schule verbrachten, war eine verlorene Stunde.

Noch besorgniserregender ist laut dem Studienautor der zweite Befund, dass nämlich nicht alle Kinder gleich schlecht lernten. Vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien seien ins Hintertreffen geraten: «Bei Kindern mit Eltern ohne Studium fällt der Lernverlust nochmals um 50 Prozent höher aus als bei anderen Schülern.» 

Dieses Ergebnis deckt sich teilweise mit den Resultaten von Untersuchungen wie dem «Schulbarometer» der Pädagogischen Hochschule Zug, die jedoch lediglich auf Befragungen von Schülern, Eltern oder Lehrpersonen basieren. Demnach hat ein Drittel der Schüler während der Schulschliessungen in der Schweiz wenig gelernt, rund 20 Prozent gar nichts, wie sich Studienleiter Stephan Huber im August gegenüber SRF äusserte.

Wie Margrit Stamm ist auch Mitautor Frey, der an der Universität Harvard forscht, der Ansicht, «dass sich die Ergebnisse sehr gut auf die Situation in der Schweiz übertragen lassen». Wie in der Schweiz verfügen auch in den Niederlanden fast alle Haushalte über einen Breitband-Internetzugang. In beiden Ländern waren die Schulen mit acht Wochen verhältnismässig kurze Zeit geschlossen, und in den Niederlanden wie bei uns verlief die erste Pandemie-Welle eher mild. 

Erneute Schulschliessungen verhindern

Die Niederlande seien eigentlich gut auf die Pandemie vorbereitet gewesen, sagt Frey. Da es trotz dieser guten Voraussetzungen zu so einem starken Lernverlust kam, müsse man davon ausgehen, dass in Ländern, die weniger gut vorbereitet waren, die Kinder noch weniger gelernt haben. 

Die Erkenntnisse aus den Niederlanden bestätigen laut Margrit Stamm, was in der Wissenschaft als «Sommerloch-Effekt» bekannt ist. Gemeint ist die Tatsache, dass Kinder aus sozial benachteiligten Milieus nach mehrwöchigen Ferien viel Gelerntes vergessen haben: «Weil ihnen ohne Unterricht die Strukturen fehlten, sie auf sich allein gestellt waren, keine Bücher da waren, dafür die Playstation - wie während des Lockdown», sagt Stamm. Viele hätten ihn als Ferien empfunden. Andere Kinder dagegen hätten vom Heimunterricht profitiert, weil sie Ruhe hatten, von ihren Eltern unterstützt wurden oder weil sie ohnehin gut selbstständig lernen können. 

Angesichts der Zahlen aus den Niederlanden plädiert Margrit Stamm dafür, es in den obligatorischen Schulen hierzulande zu keiner zweiten Schliessung kommen zu lassen: «Das wäre sehr, sehr ungünstig und würde den Gap zwischen sozial benachteiligten Kindern und solchen aus gut situierten Kreisen nochmals deutlich vergrössern.» 

Studien-Mitverfasser Frey gibt zu bedenken, dass nach wie vor unklar sei, ob Schüler und Lehrpersonen diese Lernlücken langfristig überhaupt je kompensieren könnten. Frey: «Es liegt an uns als Gesellschaft, das bei Debatten über zukünftige Schulschliessungen zu bedenken, wenn wir nicht eine ganze Generation im Stich lassen wollen.»


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