15. November 2020

Die Sprachlosigkeit gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft

Wer nicht richtig Deutsch kann, wird zum Mörder. Wie der Wirt, der sich des Virus wegen kürzlich genötigt sah, seine Gäste zur Bekanntgabe ihrer persönlichen Angaben anzuhalten. Das entsprechende Formular versah er mit dem grammatikalisch verunglückten Nachsatz: «Wir sind verpflichtet diese Daten 4 Wochen aufzubewahren danach werden Sie vernichtet.»

Lernt endlich Deutsch! NZZaS, 31.10. von Peer Teuwsen

Nun mag man schmunzeln angesichts der Harmlosigkeit dieses Beispiels. Zu Recht. Es gibt schlimmere, viel schlimmere Belege dafür, was passiert, wenn man sich nicht ausdrücken kann. Wer keine Worte hat, der greift eher zum Ausdrucksmittel der physischen Gewalt. Und dann kann wiederum nur Reden den Zyklus der Gewalt brechen. Wer mit einem anderen Menschen spricht, wer versucht, sich verständlich zu machen, befriedet in der Regel die zwischenmenschlichen Verhältnisse.

Bloss, die Realität ist eine andere. Das ge­genseitige Unverständnis, mit dem wir täglich konfrontiert sind, ist eine grassierende Seuche. Und die Ursachen liegen oft in der mangelnden Beherrschung der eigenen Sprache. Dabei gefährdet diese allgemeine Sprachlosigkeit nicht weniger als den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.

Wir riskieren viel, wenn wir die Sprache, die wir als Kommunikationsmittel unter uns deutschsprachigen Menschen verwenden, nicht gründlich erwerben.

Der deutsche Künstler und Journalist Michel Abdollahi, der mit fünf Jahren von Teheran nach Hamburg kam, schreibt in seinem neuen Buch «Deutschland schafft mich»: «Mangelnde Sprachkenntnis führt oft zu Angst, weil immer die Sorge besteht, im Gespräch grobe Fehler zu machen. Diese Angst führt oft zu Frustration, weil man sich erst gar nicht traut, das, was man sagen will, zu sagen. Letztlich entsteht daraus entweder eine partielle oder eine grundsätzliche Fehlkommunikation, die schliesslich in einer beidseitig wahrgenommenen Ausgrenzung gipfelt, weil man sich nicht richtig verständigen kann.

Dieses Problem besteht insbesondere da, wo es auf die Feinheiten der Sprache ankommt, bei Themen wie Politik, Gesellschaft und Religion. So entstehen Parallelgesellschaften, die wiederum denen Angst machen, die nicht verstehen, warum solche gesellschaftlichen Gebilde entstehen, und am Ende haben alle Angst voreinander.» Wir riskieren also viel, wenn wir die Sprache, die wir als Kommunikationsmittel unter uns deutschsprachigen Menschen verwenden, nicht gründlich erwerben.

Auch wenn wir in so vielem uneins sind, auf eine Gemeinsamkeit können wir Hiesigen uns sicherlich verständigen: Nur wer die deutsche Sprache beherrscht, kann aktiv an unserer Gesellschaft teilhaben, an ihrer Geschichte, ihrer Gegenwart, ihrer Zukunft. Die deutsche Sprache ist der Schlüssel zu fast allem. Nur wer Deutsch spricht, kann sich umfassend einbringen und engagieren. Nur wer Deutsch spricht, kann sich sozial mit einiger Eleganz bewegen. Nur wer Deutsch spricht, hat überhaupt eine Chance, eine gesellschaftlich bedeutende Rolle zu spielen (in der Schweiz kommt erschwerend dazu, dass erst die Beherrschung des Schweizerdeutschen Einlass ins Innerste der Gesellschaft gewährt).

Viele Eingewanderte haben dies begriffen und nehmen die zuhauf angebotenen Deutschkurse wahr. Anders sieht es bei denen aus, die von sich behaupten, schon Deutsch zu können. Sie benehmen sich, als hätten sie nicht nötig, ihre Deutschkenntnisse zu pflegen und zu verfeinern.

Die Politik hat vor lauter Befriedigung von Partikularinteressen den Fokus auf den Kern jeder Bildung verloren: die Ausdrucksfähigkeit.

Ja, wenn wir um den Wert einer gemeinsamen Sprache wissen, warum tun wir dann so vieles, um sie zu verlernen? Seit Jahren ist an den Schulen die Stärkung von Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (der sogenannten MINT-Fächer) politischer Wille. Pisa sei Undank. Aber offenbar hat diese Begeisterung für das Messbare überhandgenommen. Abgesehen davon, dass, wer nur Naturwissenschaften kann, auch diese nicht wirklich beherrscht, beklagen die Hochschulen seit mindestens ebenso vielen Jahren lautstark die schwindenden Deutschkenntnisse ihrer Studentinnen und Studenten. Und auch Firmen stellen laut Studien finanzielle Einbussen fest, weil ihre Belegschaft nicht gut genug Deutsch spricht.

Aber die Fakten scheinen wenig zu bewirken. Derzeit werden beispielsweise an den Zürcher Gymnasien die Stundentafeln fürs Untergymnasium überarbeitet. Das Fach Deutsch wird auch weiterhin weniger Wochenstunden haben als das Fach Mathematik. Ungeachtet der Tatsache, dass man zuvorderst durch Sprache zum Denken, also zum Verstehen gelangt. Und um das sollte es eigentlich heutzutage gehen. Der Rest steht ja im Internet.

Stattdessen führt man neue Allerweltsfächer wie Religion, Kulturen und Ethik ein und überfrachtet seit Jahren die Primarschule mit Frühfranzösisch und -englisch – obwohl die Resultate gelinde gesagt zweifelhaft sind. An den Gymnasien fangen die meisten Fremdsprachenlehrer jedenfalls nochmals bei null an. Die Politik hat vor lauter Befriedigung von Partikularinteressen den Fokus auf den Kern jeder Bildung verloren: die Ausdrucksfähigkeit.

Und warum lassen wir es zu, dass die deutsche Sprache schleichend vom Englischen verdrängt wird? Der berühmte Sprachwissenschafter Jürgen Trabant schreibt in seinem 2008 erschienenen Standardwerk «Was ist Sprache?»: «Kaum eine andere Sprache wird derzeit so mit englischen Wörtern voll­geschüttet wie das Deutsche, von Werbeagenturen, Politikern, flotten Wissenschaftern und Journalisten, also von den Sprechern, die das Sagen haben und die ganz offensichtlich diese Sprache hassen oder zumindest verachten.»

Derzeit verwenden wir englische Wörter wie «Contact-Tracing» oder «Lockdown», als seien sie die unsrigen. So ein Englisch oder so ein «Globalesisch», wie es Trabant genannt hat, kann für deutsche Muttersprachler nicht mehr als eine Behelfssprache sein. Erstens kann man sie nie so gut erlernen, dass eine vertiefte Verständigung möglich ist. Und zweitens ist Englisch ein «Sprachenkiller», und zwar in mehrfacher Hinsicht. Es verhindert den Erwerb anderer Fremdsprachen und bedroht durch Anglizismen «die anderen Sprachen in ihrem Innern».

Viele haben den Kampf für die deutsche Sprache aufgegeben oder gar nie angetreten. Das kann und darf aber nicht das Ende der Geschichte sein. Es geht um Vielfalt, es geht um Identität, und es geht um unser Zusammenleben. Das kann niemandem egal sein. Wer sich damit bescheidet, seine Sprachkenntnisse auf eine Bierbestellung zu reduzieren, hat sich von einem Miteinander verabschiedet. Wer kann das wollen, ausgerechnet in Zeiten, die uns dazu zwingen, sogar das Instrument unserer Sprachfähigkeit, den Mund, zu verhüllen?

 

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