Wer nicht richtig Deutsch kann, wird zum Mörder. Wie der Wirt, der sich des Virus wegen kürzlich genötigt sah, seine Gäste zur Bekanntgabe ihrer persönlichen Angaben anzuhalten. Das entsprechende Formular versah er mit dem grammatikalisch verunglückten Nachsatz: «Wir sind verpflichtet diese Daten 4 Wochen aufzubewahren danach werden Sie vernichtet.»
Lernt endlich Deutsch! NZZaS, 31.10. von Peer Teuwsen
Nun mag man schmunzeln angesichts der Harmlosigkeit dieses Beispiels. Zu
Recht. Es gibt schlimmere, viel schlimmere Belege dafür, was passiert, wenn man
sich nicht ausdrücken kann. Wer keine Worte hat, der greift eher zum
Ausdrucksmittel der physischen Gewalt. Und dann kann wiederum nur Reden den
Zyklus der Gewalt brechen. Wer mit einem anderen Menschen spricht, wer
versucht, sich verständlich zu machen, befriedet in der Regel die
zwischenmenschlichen Verhältnisse.
Bloss, die Realität ist eine andere. Das gegenseitige Unverständnis,
mit dem wir täglich konfrontiert sind, ist eine grassierende Seuche. Und die
Ursachen liegen oft in der mangelnden Beherrschung der eigenen Sprache. Dabei
gefährdet diese allgemeine Sprachlosigkeit nicht weniger als den Zusammenhalt
unserer Gesellschaft.
Wir riskieren viel, wenn wir die Sprache, die wir
als Kommunikationsmittel unter uns deutschsprachigen Menschen verwenden, nicht
gründlich erwerben.
Der deutsche Künstler und Journalist Michel Abdollahi, der mit fünf
Jahren von Teheran nach Hamburg kam, schreibt in seinem neuen Buch «Deutschland
schafft mich»: «Mangelnde Sprachkenntnis führt oft zu Angst, weil immer die
Sorge besteht, im Gespräch grobe Fehler zu machen. Diese Angst führt oft zu
Frustration, weil man sich erst gar nicht traut, das, was man sagen will, zu
sagen. Letztlich entsteht daraus entweder eine partielle oder eine
grundsätzliche Fehlkommunikation, die schliesslich in einer beidseitig
wahrgenommenen Ausgrenzung gipfelt, weil man sich nicht richtig verständigen kann.
Dieses Problem besteht insbesondere da, wo es auf die Feinheiten der
Sprache ankommt, bei Themen wie Politik, Gesellschaft und Religion. So
entstehen Parallelgesellschaften, die wiederum denen Angst machen, die nicht
verstehen, warum solche gesellschaftlichen Gebilde entstehen, und am Ende haben
alle Angst voreinander.» Wir riskieren also viel, wenn wir die Sprache, die wir
als Kommunikationsmittel unter uns deutschsprachigen Menschen verwenden, nicht
gründlich erwerben.
Auch wenn wir in so vielem uneins sind, auf eine Gemeinsamkeit können
wir Hiesigen uns sicherlich verständigen: Nur wer die deutsche Sprache
beherrscht, kann aktiv an unserer Gesellschaft teilhaben, an ihrer Geschichte,
ihrer Gegenwart, ihrer Zukunft. Die deutsche Sprache ist der Schlüssel zu fast
allem. Nur wer Deutsch spricht, kann sich umfassend einbringen und engagieren.
Nur wer Deutsch spricht, kann sich sozial mit einiger Eleganz bewegen. Nur wer
Deutsch spricht, hat überhaupt eine Chance, eine gesellschaftlich bedeutende
Rolle zu spielen (in der Schweiz kommt erschwerend dazu, dass erst die
Beherrschung des Schweizerdeutschen Einlass ins Innerste der Gesellschaft
gewährt).
Viele Eingewanderte haben dies begriffen und nehmen die zuhauf
angebotenen Deutschkurse wahr. Anders sieht es bei denen aus, die von sich
behaupten, schon Deutsch zu können. Sie benehmen sich, als hätten sie nicht
nötig, ihre Deutschkenntnisse zu pflegen und zu verfeinern.
Die Politik hat vor lauter Befriedigung von
Partikularinteressen den Fokus auf den Kern jeder Bildung verloren: die
Ausdrucksfähigkeit.
Ja, wenn wir um den Wert einer gemeinsamen Sprache wissen, warum tun wir
dann so vieles, um sie zu verlernen? Seit Jahren ist an den Schulen die
Stärkung von Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (der
sogenannten MINT-Fächer) politischer Wille. Pisa sei Undank. Aber offenbar hat
diese Begeisterung für das Messbare überhandgenommen. Abgesehen davon, dass,
wer nur Naturwissenschaften kann, auch diese nicht wirklich beherrscht,
beklagen die Hochschulen seit mindestens ebenso vielen Jahren lautstark die
schwindenden Deutschkenntnisse ihrer Studentinnen und Studenten. Und auch
Firmen stellen laut Studien finanzielle Einbussen fest, weil ihre Belegschaft
nicht gut genug Deutsch spricht.
Aber die Fakten scheinen wenig zu bewirken. Derzeit werden
beispielsweise an den Zürcher Gymnasien die Stundentafeln fürs Untergymnasium
überarbeitet. Das Fach Deutsch wird auch weiterhin weniger Wochenstunden haben
als das Fach Mathematik. Ungeachtet der Tatsache, dass man zuvorderst durch
Sprache zum Denken, also zum Verstehen gelangt. Und um das sollte es eigentlich
heutzutage gehen. Der Rest steht ja im Internet.
Stattdessen führt man neue Allerweltsfächer wie Religion, Kulturen und
Ethik ein und überfrachtet seit Jahren die Primarschule mit Frühfranzösisch und
-englisch – obwohl die Resultate gelinde gesagt zweifelhaft sind. An den
Gymnasien fangen die meisten Fremdsprachenlehrer jedenfalls nochmals bei null
an. Die Politik hat vor lauter Befriedigung von Partikularinteressen den Fokus
auf den Kern jeder Bildung verloren: die Ausdrucksfähigkeit.
Und warum lassen wir es zu, dass die deutsche Sprache schleichend vom
Englischen verdrängt wird? Der berühmte Sprachwissenschafter Jürgen Trabant schreibt
in seinem 2008 erschienenen Standardwerk «Was ist Sprache?»: «Kaum eine andere
Sprache wird derzeit so mit englischen Wörtern vollgeschüttet wie das
Deutsche, von Werbeagenturen, Politikern, flotten Wissenschaftern und
Journalisten, also von den Sprechern, die das Sagen haben und die ganz
offensichtlich diese Sprache hassen oder zumindest verachten.»
Derzeit verwenden wir englische Wörter wie «Contact-Tracing» oder
«Lockdown», als seien sie die unsrigen. So ein Englisch oder so ein
«Globalesisch», wie es Trabant genannt hat, kann für deutsche Muttersprachler
nicht mehr als eine Behelfssprache sein. Erstens kann man sie nie so gut
erlernen, dass eine vertiefte Verständigung möglich ist. Und zweitens ist
Englisch ein «Sprachenkiller», und zwar in mehrfacher Hinsicht. Es verhindert
den Erwerb anderer Fremdsprachen und bedroht durch Anglizismen «die anderen
Sprachen in ihrem Innern».
Viele haben den Kampf für die deutsche Sprache aufgegeben oder gar nie
angetreten. Das kann und darf aber nicht das Ende der Geschichte sein. Es geht
um Vielfalt, es geht um Identität, und es geht um unser Zusammenleben. Das kann
niemandem egal sein. Wer sich damit bescheidet, seine Sprachkenntnisse auf eine
Bierbestellung zu reduzieren, hat sich von einem Miteinander verabschiedet. Wer
kann das wollen, ausgerechnet in Zeiten, die uns dazu zwingen, sogar das
Instrument unserer Sprachfähigkeit, den Mund, zu verhüllen?
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