5. Oktober 2020

Sorgloser Umgang mit der Sprache hinterlässt Spuren

An eine kleine Begebenheit erinnere ich mich noch gut: Da hatte ich einem meiner Studierenden mit der Bemerkung, der Text enthalte zu viele sprachliche Fehler, eine Seminararbeit zurückgewiesen, worauf sich dieser mit dem Satz rechtfertigte: «Aber Sie haben meine Darlegungen doch verstanden.» Warum ich diese Begebenheit hier erzähle? Ganz einfach: Weil sie typisch ist für die Haltung vieler der Sprache gegenüber – einer Haltung, bei der es fast nur noch um Inhalte und nicht mehr um die formale Korrektheit der Sprache geht. Sie zeigt sich zunehmend auch im Unterricht an unseren Schulen. Wie äussert sich das konkret?

Wer unklar schreibt, denkt nicht klar - Wie geht die Schule mit der deutschen Sprache um? Mario Andreotti, Schweizer Familie, 41/2020 

Das Verhältnis zur Sprache wandelt sich

Die bindende Haltung der Sprache gegenüber, bei der feste grammatische Regeln und eine korrekte Rechtschreibung ein absolutes Muss waren, wurde, zunächst in der Linguistik, danach auch in der Alltagssprache, in den letzten drei Jahrzehnten mehr und mehr aufgebrochen und durch eine rein beschreibende, nicht regulierende Sprachbetrachtung ersetzt. Selbst der Duden, der sprachliche Einzelfälle einst nach klaren Regeln entschied, lässt heute Formen zu, die vor einigen Jahrzehnten noch als falsch galten. Das zeigt sich unter anderem in der neuen Rechtschreibung, wo der Duden, indem er sich an Veränderungen des Schreibgebrauchs anpasst, häufig verschiedene Schreibweisen von Wörtern zulässt, so dass bei vielen, vor allem bei Schülerinnen und Schülern, der Eindruck entstand, eine korrekte Rechtschreibung sei gar nicht so wichtig.

Der sorglose Umgang mit der Sprache hat die Schule erreicht

Dieser Wandel von einem Verhältnis zur Sprache, bei der die sprachliche Korrektheit im Zentrum steht, zu einer Haltung, die von einer wertungsfreien Sprachbetrachtung ausgeht und demzufolge sprachlichen Normierungen eher ablehnend gegenübersteht, hat sich auch auf die Schule ausgewirkt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die andauernden Schulreformen der letzten Jahrzehnte das Schwergewicht im Deutschunterricht zu wenig auf gründliches Erlernen von Grammatik, Stilistik und Rechtschreibung gelegt haben. Der Deutschunterricht wurde im Gegenteil zunehmend mit allen möglichen sachfremden Themen überfrachtet, so dass für das Kerngeschäft, das Einüben von Sprachkompetenz, der Fähigkeit, sich in Wort und Schrift korrekt und verständlich auszudrücken, kaum mehr Zeit bleibt. So sind Jugendliche mündlich oft bewandert, aber schriftliche Texte, etwa Aufsätze oder Bewerbungen, bekommen sie nur fehlerhaft hin. Um die Erwachsenen ist es diesbezüglich auch nicht besser bestellt: Jeder sechste unter ihnen, also weit über eine Million Menschen in der Schweiz, scheitern selbst an sehr einfachen Texten, wie die «Sonntagszeitung» kürzlich schrieb.

Und die Lehrkräfte? Wirft man als Prüfungsexperten oder als Eltern einen Blick in korrigierte Aufsätze, so lässt sich immer wieder feststellen, dass so manche Lehrkräfte grammatische Fehler übersehen haben oder zumindest ungeahndet liessen. Der Schlendrian scheint längst auch auf Unterrichtende übergegriffen zu haben. Entweder beherrschen sie gewisse Grammatikregeln selber nicht oder befürchten, zu viel Rotstift könnte Jugendliche in ihrer Kreativität hemmen.

Sprachpflege verpönt

Sprachpflege, wie sie eine lange Tradition hat, ist heute mehr oder weniger verpönt. Und das im Zuge der Reformpädagogik auch in unseren Schulen, die täglich mit und an der Sprache arbeiten sollten. Selbst unter den Deutschlehrern finden sich Leute, die Grammatik für einen vernachlässigbaren Aspekt ihres Fachs halten. Sie argumentieren dann gerne, Sprache sei ein Mittel der Kommunikation und als solches halt dem Wandel unterworfen. Sprachverhunzung wird dann nur allzu oft mit Sprachwandel verwechselt.

Die Folgen?

Dieser sorglose Umgang mit unserer Sprache blieb nicht ohne Folgen. Was die jahrelange Erfahrung von Examinatoren, Lehrern, aber auch von Eltern zeigt und Studien längst belegt haben, muss uns vermehrt zu denken geben: Die formale Korrektheit schulischer Texte, etwa von Aufsätzen, nimmt deutlich ab. So lässt sich denn in den letzten dreissig Jahren eine spürbare Zunahme an Fehlern sowohl im Satzbau und im Ausdruck als auch in der Rechtschreibung und vor allem in der Interpunktion feststellen. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Fehler weniger mit mangelnder Sprachbeherrschung zusammenhängen als vielmehr mit einer gewissen Sorglosigkeit der Sprache gegenüber, mit der Auffassung nämlich, der Inhalt sei wichtiger als die Form. Besonders schön zeigt sich dies an den auffallend vielen Rechtschreibfehlern in Wörtern, die eigentlich einfach zu schreiben sind.

Selbstverständlich darf hier die Rolle der neuen Medien nicht ausser Acht gelassen werden. Sehen wir uns an, wie Jugendliche SMS, E-Mails oder auf Twitter schreiben, so fällt auf, dass es sich häufig um ein spontanes und vor allem dialogisches Schreiben handelt. Mit anderen Worten: Jugendliche verfassen digitale Texte meist so, als befänden sie sich in einem Gespräch. Das bleibt für das Schreiben in der Schule nicht ohne Folgen. Sie äussern sich in einer Angleichung der geschriebenen an die gesprochene Sprache, wie sich das etwa in Aufsätzen leicht nachweisen lässt. Ob aber die Zunahme an Fehlern in Texten von Jugendlichen vor allem auf die Mediennutzung zurückzuführen ist, wie immer wieder behauptet wird, kann mit Recht bezweifelt werden. Jugendliche wissen die beiden Schreibwelten, die private und die schulische, durchaus zu trennen. Und vergessen wir zum Schluss eines nicht: Die sprachlichen Anforderungen sind heute in einem Masse gestiegen, dessen wir uns erst allmählich bewusst sind. Was früher nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung zu leisten war, wird heute von vielen gefordert.

Wer unklar schreibt, denkt nicht klar

Keine Frage: Die Sprache ist unser wichtigstes Instrument. Über sie soll ja Information transportiert und verständlich gemacht werden. Wenn die Sprache versagt, versagt die Kommunikation. In verschiedenen Studien liess sich nachweisen, dass Menschen, die sich sprachlich nicht oder nur ungenügend ausdrücken können, vermehrt zu körperlicher Gewalt oder zu Formen verbaler Gewalt neigen, mit denen andere diffamiert, herabgesetzt werden. Dass Sprache ein wichtiges Medium zur Verhinderung von Gewalt ist, das wird von Schule und Öffentlichkeit noch viel zu wenig beachtet. Es dürfte zudem unbestritten sein, dass durch den sorglosen Umgang mit der Sprache, ja durch Sprachverhunzung auch Unschärfe in das Denken und damit in die Kommunikation dringt. Wer unklar schreibt, denkt nicht klar, beeinflusst die Sprachkompetenz doch die Denk- und Wahrnehmungsfähigkeit erheblich. Schwierigkeiten in Schule und Studium – auch das haben Studien gezeigt – entpuppen sich bei näherem Betrachten nur allzu oft als mangelnde Sprachbeherrschung. Besonders deutlich wird das Problem mangelnder Sprachkompetenz in der Lehrlingsausbildung. Lehrmeister beklagen selten, dass ihre Lehrlinge zu wenig Englisch können, sondern dass es ihnen vielmehr an grundlegenden Kenntnissen in Deutsch fehle, dass sie häufig nicht in der Lage seien, einfache Texte zu verstehen oder fehlerfrei zu schreiben. Daher ist konsequente Sprachbildung gerade in der Schule heute dringender denn je.

 

Mario Andreotti, Prof. Dr., 1947; ehemals Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen. Heute Dozent für Neuere deutsche Literatur an zwei Pädagogischen Hochschulen und Buchautor («Die Struktur der modernen Literatur», 5.Aufl., bei Haupt/UTB; «Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache» bei FormatOst).

 

 

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