An eine kleine Begebenheit erinnere ich mich noch gut: Da hatte ich einem meiner Studierenden mit der Bemerkung, der Text enthalte zu viele sprachliche Fehler, eine Seminararbeit zurückgewiesen, worauf sich dieser mit dem Satz rechtfertigte: «Aber Sie haben meine Darlegungen doch verstanden.» Warum ich diese Begebenheit hier erzähle? Ganz einfach: Weil sie typisch ist für die Haltung vieler der Sprache gegenüber – einer Haltung, bei der es fast nur noch um Inhalte und nicht mehr um die formale Korrektheit der Sprache geht. Sie zeigt sich zunehmend auch im Unterricht an unseren Schulen. Wie äussert sich das konkret?
Wer unklar schreibt, denkt nicht klar - Wie geht die Schule mit der deutschen Sprache um? Mario Andreotti, Schweizer Familie, 41/2020
Das Verhältnis zur Sprache wandelt sich
Die bindende Haltung der Sprache gegenüber, bei der feste grammatische
Regeln und eine korrekte Rechtschreibung ein absolutes Muss waren, wurde, zunächst
in der Linguistik, danach auch in der Alltagssprache, in den letzten drei
Jahrzehnten mehr und mehr aufgebrochen und durch eine rein beschreibende, nicht
regulierende Sprachbetrachtung ersetzt. Selbst der Duden, der sprachliche
Einzelfälle einst nach klaren Regeln entschied, lässt heute Formen zu, die vor
einigen Jahrzehnten noch als falsch galten. Das zeigt sich unter anderem in der
neuen Rechtschreibung, wo der Duden, indem er sich an Veränderungen des
Schreibgebrauchs anpasst, häufig verschiedene Schreibweisen von Wörtern
zulässt, so dass bei vielen, vor allem bei Schülerinnen und Schülern, der
Eindruck entstand, eine korrekte Rechtschreibung sei gar nicht so wichtig.
Der sorglose Umgang mit der Sprache hat die Schule erreicht
Dieser Wandel von einem Verhältnis zur Sprache, bei der die sprachliche
Korrektheit im Zentrum steht, zu einer Haltung, die von einer wertungsfreien
Sprachbetrachtung ausgeht und demzufolge sprachlichen Normierungen eher
ablehnend gegenübersteht, hat sich auch auf die Schule ausgewirkt. Es ist ein
offenes Geheimnis, dass die andauernden Schulreformen der letzten Jahrzehnte
das Schwergewicht im Deutschunterricht zu wenig auf gründliches Erlernen von
Grammatik, Stilistik und Rechtschreibung gelegt haben. Der Deutschunterricht wurde
im Gegenteil zunehmend mit allen möglichen sachfremden Themen überfrachtet, so
dass für das Kerngeschäft, das Einüben von Sprachkompetenz, der Fähigkeit, sich
in Wort und Schrift korrekt und verständlich auszudrücken, kaum mehr Zeit
bleibt. So sind Jugendliche mündlich oft bewandert, aber schriftliche Texte,
etwa Aufsätze oder Bewerbungen, bekommen sie nur fehlerhaft hin. Um die
Erwachsenen ist es diesbezüglich auch nicht besser bestellt: Jeder sechste
unter ihnen, also weit über eine Million Menschen in der Schweiz, scheitern
selbst an sehr einfachen Texten, wie die «Sonntagszeitung» kürzlich schrieb.
Und die Lehrkräfte? Wirft man als Prüfungsexperten oder als Eltern einen
Blick in korrigierte Aufsätze, so lässt sich immer wieder feststellen, dass so
manche Lehrkräfte grammatische Fehler übersehen haben oder zumindest ungeahndet
liessen. Der Schlendrian scheint längst auch auf Unterrichtende übergegriffen
zu haben. Entweder beherrschen sie gewisse Grammatikregeln selber nicht oder
befürchten, zu viel Rotstift könnte Jugendliche in ihrer Kreativität hemmen.
Sprachpflege verpönt
Sprachpflege, wie sie eine lange Tradition hat, ist heute mehr oder
weniger verpönt. Und das im Zuge der Reformpädagogik auch in unseren Schulen,
die täglich mit und an der Sprache arbeiten sollten. Selbst unter den Deutschlehrern
finden sich Leute, die Grammatik für einen vernachlässigbaren Aspekt ihres
Fachs halten. Sie argumentieren dann gerne, Sprache sei ein Mittel der
Kommunikation und als solches halt dem Wandel unterworfen. Sprachverhunzung
wird dann nur allzu oft mit Sprachwandel verwechselt.
Die Folgen?
Dieser sorglose Umgang mit unserer Sprache blieb nicht ohne Folgen. Was
die jahrelange Erfahrung von Examinatoren, Lehrern, aber auch von Eltern zeigt
und Studien längst belegt haben, muss uns vermehrt zu denken geben: Die formale
Korrektheit schulischer Texte, etwa von Aufsätzen, nimmt deutlich ab. So lässt
sich denn in den letzten dreissig Jahren eine spürbare Zunahme an Fehlern
sowohl im Satzbau und im Ausdruck als auch in der Rechtschreibung und vor allem
in der Interpunktion feststellen. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Fehler
weniger mit mangelnder Sprachbeherrschung zusammenhängen als vielmehr mit einer
gewissen Sorglosigkeit der Sprache gegenüber, mit der Auffassung nämlich, der
Inhalt sei wichtiger als die Form. Besonders schön zeigt sich dies an den
auffallend vielen Rechtschreibfehlern in Wörtern, die eigentlich einfach zu
schreiben sind.
Selbstverständlich darf hier die Rolle der neuen Medien nicht ausser
Acht gelassen werden. Sehen wir uns an, wie Jugendliche SMS, E-Mails oder auf
Twitter schreiben, so fällt auf, dass es sich häufig um ein spontanes und vor
allem dialogisches Schreiben handelt. Mit anderen Worten: Jugendliche verfassen
digitale Texte meist so, als befänden sie sich in einem Gespräch. Das bleibt
für das Schreiben in der Schule nicht ohne Folgen. Sie äussern sich in einer
Angleichung der geschriebenen an die gesprochene Sprache, wie sich das etwa in
Aufsätzen leicht nachweisen lässt. Ob aber die Zunahme an Fehlern in Texten von
Jugendlichen vor allem auf die Mediennutzung zurückzuführen ist, wie immer
wieder behauptet wird, kann mit Recht bezweifelt werden. Jugendliche wissen die
beiden Schreibwelten, die private und die schulische, durchaus zu trennen. Und
vergessen wir zum Schluss eines nicht: Die sprachlichen Anforderungen sind
heute in einem Masse gestiegen, dessen wir uns erst allmählich bewusst sind.
Was früher nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung zu leisten war, wird
heute von vielen gefordert.
Wer unklar schreibt, denkt nicht klar
Keine Frage: Die Sprache ist unser wichtigstes Instrument. Über sie soll ja Information transportiert und verständlich gemacht werden. Wenn die Sprache versagt, versagt die Kommunikation. In verschiedenen Studien liess sich nachweisen, dass Menschen, die sich sprachlich nicht oder nur ungenügend ausdrücken können, vermehrt zu körperlicher Gewalt oder zu Formen verbaler Gewalt neigen, mit denen andere diffamiert, herabgesetzt werden. Dass Sprache ein wichtiges Medium zur Verhinderung von Gewalt ist, das wird von Schule und Öffentlichkeit noch viel zu wenig beachtet. Es dürfte zudem unbestritten sein, dass durch den sorglosen Umgang mit der Sprache, ja durch Sprachverhunzung auch Unschärfe in das Denken und damit in die Kommunikation dringt. Wer unklar schreibt, denkt nicht klar, beeinflusst die Sprachkompetenz doch die Denk- und Wahrnehmungsfähigkeit erheblich. Schwierigkeiten in Schule und Studium – auch das haben Studien gezeigt – entpuppen sich bei näherem Betrachten nur allzu oft als mangelnde Sprachbeherrschung. Besonders deutlich wird das Problem mangelnder Sprachkompetenz in der Lehrlingsausbildung. Lehrmeister beklagen selten, dass ihre Lehrlinge zu wenig Englisch können, sondern dass es ihnen vielmehr an grundlegenden Kenntnissen in Deutsch fehle, dass sie häufig nicht in der Lage seien, einfache Texte zu verstehen oder fehlerfrei zu schreiben. Daher ist konsequente Sprachbildung gerade in der Schule heute dringender denn je.
Mario Andreotti, Prof. Dr., 1947; ehemals Lehrbeauftragter für Sprach-
und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen. Heute Dozent für
Neuere deutsche Literatur an zwei Pädagogischen Hochschulen und Buchautor («Die
Struktur der modernen Literatur», 5.Aufl., bei Haupt/UTB; «Eine Kultur schafft
sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache» bei FormatOst).
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