27. September 2020

Fernunterricht überfordert Kinder und Jugendliche

Lieber mit Maske die Kollegen treffen, als ohne Maske allein zu Hause sitzen», sagte mir vor kurzem eine Schülerin der Allgemeinen Berufsschule Zürich – dies auf die Frage, ob Home-Schooling bei den derzeitigen Corona-Zahlen nicht viel vernünftiger wäre. «Auf keinen Fall zurück zum Fernunterricht!», meinte sie dezidiert. Warum denn? «Ich habe das Zusammensein mit der Klasse vermisst – und natürlich auch die Lehrer!», fügte sie verschmitzt bei. 

Das Zwischenmenschliche lässt sich nicht digitalisieren, NZZaS, 27.9. von Carl Bossard

Damit verweist die Berufsschülerin auf das wichtigste Fundament schulischen Lebens: das menschliche Miteinander und die soziale Interaktion – und mit ihrem Nachsatz auch auf die Bedeutung der Lehrperson. Eltern oder Geschwister sind eben keine Ersatzlehrer, ein Esstisch ist etwas anderes als ein Pult im Klassenzimmer und der Wohnraum kein Pausenplatz; der kleine Laptop-Bildschirm verkörpert keine menschlichen Beziehungen, und der Lebensrhythmus einer Familie folgt keinem Stundenplan. Darum ist der digitale Fernunterricht selbst für junge Erwachsene anspruchsvoll. Kinder und Jugendliche aber überfordert er vielfach. 

Und doch setzt die IT-Industrie auf die digitale Transformation unseres Bildungssystems und will Lehren und Lernen in den virtuellen Raum verlagern. Das bleibt vielen Eltern und Pädagogen unverständlich. Sie ahnen, was die Bildungsforschung nachweist: Der Online-Unterricht ist ein wertvolles Instrument; E-Learning erweitert und ergänzt die Lernformen. Doch der Präsenzunterricht im Klassenraum lässt sich nicht ohne Verluste in digitale Lernformate ­übertragen. Keine noch so raffinierte virtuelle Methode und kein noch so lebendiger Chat können den analogen Unterricht mit kooperativen Arbeitsformen und das gezielte Gespräch über komplexe Sach­verhalte aufwiegen. 

«Im Andern zu sich selbst kommen», so fasst der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel das Wesen der Bildung zusammen. Der Mensch wird am Menschen zum Menschen. Das meiste, was wir lernen, lernen wir von anderen. Darum kann auch das beste Digitalprogramm das menschliche Visavis nicht ersetzen. Das neue Setting benachteiligt vor allem lernleistungsschwächere und mit­telmässige Schüler, dazu Jugendliche aus sozial weniger privilegierten Familien. Der Einsatz digitaler Medien ist für die meisten Schülerinnen und Schüler zwar unproblematisch. Was sie für ein gutes Lernen aber brauchen, ist ein vital präsentes Gegenüber. Schule und Unterricht sind in vielem eben ein Resonanzprozess, ein Beziehungsgeschehen zwischen Menschen. Bildung entfaltet sich «in dichten Interaktionsprozessen mit Menschen und Dingen», analysiert der Soziologe Hartmut Rosa. Genau diese Dichte fehlt beim Distant Learning.

Die Digitalisierung geht davon aus, dass der Unterricht ein kontrollierbarer und damit planbarer Prozess sei – sozusagen ein linearer Start-Ziel-Lauf, präzis berechenbar und von Algorithmen steuerbar. Das Neben­hinaus, das Abweichende fehlt vielfach. Darum bringen nicht alle Kinder die notwendige Ausdauer auf, über längere Zeit einem digitalisierten Unterricht zu folgen. Sie langweilen sich bald einmal, weil keine Person wahrnehmbar ist und keine zwischenmenschliche Energie animiert. Es ist dieses «Dazwischen» – das Emotionale, das Beziehungshafte, das Dialogische –, das den jungen Menschen die unentbehrlichen analogen Resonanzerfahrungen vermittelt. Zudem erzielen diese Einflussgrössen überdurchschnittlich hohe Wirkwerte auf die Lernleistung.

Wissen und Können aufbauen, Verstehen und Verhalten fördern, das ist die vielschichtige Aufgabe von Lehrpersonen und ihrem Unterricht. Sie müssen da sein fürs kon­struktive Feedback, für einen heiteren Zwischenruf, für Anerkennung und Anregung, für Widerstand und Widerrede, fürs Üben und Vertiefen. Schülerinnen und Schüler brauchen die verstehende Zuwendung ihrer Lehrerin; sie müssen sich vom Lehrer wahr- und ernst genommen fühlen. 

Der Ort schulischer Bildung ist eben nie die Struktur allein, nie die Methode allein und auch nie das (digitale) Medium allein. Der Ort schulischer Bildung ist die Interaktion zwischen Menschen. Von Spitzbergen bis Feuerland ist heute alles abrufbar. Allein mit digitalen Plattformen zu arbeiten oder miteinander ein Phänomen durchzudenken, gemeinsam im Gewölbe einer ­imposanten Burgruine zu stehen – das sind zwei grundverschiedene Dinge. Im realen Dialog über Fragen und Impulse Zusam­menhänge erkennen erleichtert das Verstehen einer Sache. 

Ich habe die Klasse vermisst – und auch die Lehrer, bemerkte die Berufsschülerin in Zürich. In diesem menschlichen Zwischenraum geschieht Entscheidendes. Es ist ­vielleicht das, was uns zu Menschen macht. Diese Nische kann nicht durch Digitales ersetzt werden.

Carl Bossard

Carl Bossard, 70, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der Kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

 

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