Lieber mit Maske die Kollegen treffen, als ohne Maske allein zu Hause sitzen», sagte mir vor kurzem eine Schülerin der Allgemeinen Berufsschule Zürich – dies auf die Frage, ob Home-Schooling bei den derzeitigen Corona-Zahlen nicht viel vernünftiger wäre. «Auf keinen Fall zurück zum Fernunterricht!», meinte sie dezidiert. Warum denn? «Ich habe das Zusammensein mit der Klasse vermisst – und natürlich auch die Lehrer!», fügte sie verschmitzt bei.
Das Zwischenmenschliche lässt sich nicht digitalisieren, NZZaS, 27.9. von Carl Bossard
Damit
verweist die Berufsschülerin auf das wichtigste Fundament schulischen Lebens:
das menschliche Miteinander und die soziale Interaktion – und mit ihrem
Nachsatz auch auf die Bedeutung der Lehrperson. Eltern oder Geschwister sind
eben keine Ersatzlehrer, ein Esstisch ist etwas anderes als ein Pult im
Klassenzimmer und der Wohnraum kein Pausenplatz; der kleine Laptop-Bildschirm
verkörpert keine menschlichen Beziehungen, und der Lebensrhythmus einer Familie
folgt keinem Stundenplan. Darum ist der digitale Fernunterricht selbst für
junge Erwachsene anspruchsvoll. Kinder und Jugendliche aber überfordert er
vielfach.
Und
doch setzt die IT-Industrie auf die digitale Transformation unseres
Bildungssystems und will Lehren und Lernen in den virtuellen Raum verlagern.
Das bleibt vielen Eltern und Pädagogen unverständlich. Sie ahnen, was die
Bildungsforschung nachweist: Der Online-Unterricht ist ein wertvolles
Instrument; E-Learning erweitert und ergänzt die Lernformen. Doch der
Präsenzunterricht im Klassenraum lässt sich nicht ohne Verluste in digitale
Lernformate übertragen. Keine noch so raffinierte virtuelle Methode und kein
noch so lebendiger Chat können den analogen Unterricht mit kooperativen
Arbeitsformen und das gezielte Gespräch über komplexe Sachverhalte
aufwiegen.
«Im
Andern zu sich selbst kommen», so fasst der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich
Hegel das Wesen der Bildung zusammen. Der Mensch wird am Menschen zum Menschen.
Das meiste, was wir lernen, lernen wir von anderen. Darum kann auch das beste
Digitalprogramm das menschliche Visavis nicht ersetzen. Das neue Setting
benachteiligt vor allem lernleistungsschwächere und mittelmässige Schüler,
dazu Jugendliche aus sozial weniger privilegierten Familien. Der Einsatz
digitaler Medien ist für die meisten Schülerinnen und Schüler zwar
unproblematisch. Was sie für ein gutes Lernen aber brauchen, ist ein vital
präsentes Gegenüber. Schule und Unterricht sind in vielem eben ein
Resonanzprozess, ein Beziehungsgeschehen zwischen Menschen. Bildung entfaltet
sich «in dichten Interaktionsprozessen mit Menschen und Dingen», analysiert der
Soziologe Hartmut Rosa. Genau diese Dichte fehlt beim Distant Learning.
Die
Digitalisierung geht davon aus, dass der Unterricht ein kontrollierbarer und
damit planbarer Prozess sei – sozusagen ein linearer Start-Ziel-Lauf, präzis
berechenbar und von Algorithmen steuerbar. Das Nebenhinaus, das Abweichende
fehlt vielfach. Darum bringen nicht alle Kinder die notwendige Ausdauer auf,
über längere Zeit einem digitalisierten Unterricht zu folgen. Sie langweilen
sich bald einmal, weil keine Person wahrnehmbar ist und keine
zwischenmenschliche Energie animiert. Es ist dieses «Dazwischen» – das
Emotionale, das Beziehungshafte, das Dialogische –, das den jungen Menschen die
unentbehrlichen analogen Resonanzerfahrungen vermittelt. Zudem erzielen diese
Einflussgrössen überdurchschnittlich hohe Wirkwerte auf die Lernleistung.
Wissen
und Können aufbauen, Verstehen und Verhalten fördern, das ist die
vielschichtige Aufgabe von Lehrpersonen und ihrem Unterricht. Sie müssen da
sein fürs konstruktive Feedback, für einen heiteren Zwischenruf, für
Anerkennung und Anregung, für Widerstand und Widerrede, fürs Üben und
Vertiefen. Schülerinnen und Schüler brauchen die verstehende Zuwendung ihrer
Lehrerin; sie müssen sich vom Lehrer wahr- und ernst genommen fühlen.
Der
Ort schulischer Bildung ist eben nie die Struktur allein, nie die Methode
allein und auch nie das (digitale) Medium allein. Der Ort schulischer Bildung
ist die Interaktion zwischen Menschen. Von Spitzbergen bis Feuerland ist heute
alles abrufbar. Allein mit digitalen Plattformen zu arbeiten oder miteinander
ein Phänomen durchzudenken, gemeinsam im Gewölbe einer imposanten Burgruine zu
stehen – das sind zwei grundverschiedene Dinge. Im realen Dialog über Fragen
und Impulse Zusammenhänge erkennen erleichtert das Verstehen einer
Sache.
Ich
habe die Klasse vermisst – und auch die Lehrer, bemerkte die Berufsschülerin in
Zürich. In diesem menschlichen Zwischenraum geschieht Entscheidendes. Es ist vielleicht
das, was uns zu Menschen macht. Diese Nische kann nicht durch Digitales ersetzt
werden.
Carl
Bossard
Carl
Bossard, 70, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er
als Rektor der Kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule
Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er
beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.
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