In Kulturpessimismus will Roland Fankhauser, Studiendekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel, nicht verfallen. Doch sein Eindruck ist eindeutig: Die Schreibkompetenz vieler Studierender lasse seit einigen Jahren zu wünschen übrig. «Das reicht von praktisch inexistenten Kommaregeln über fehlende Zusammenhänge zwischen aufeinanderfolgenden Sätzen bis hin zu ganzen Passagen, die kaum Sinn ergeben», sagt Fankhauser. «In einem Fall fragte ich einen Studenten bei der Besprechung seiner fehlerhaften Arbeit, ob er fremdsprachig aufgewachsen sei», erinnert sich der Studiendekan. Der Student war perplex – Deutsch war schliesslich seine Muttersprache.
Deutsch, aber leider nicht deutlich, NZZaS, 27.9. von Joel Bedetti
An anderen
sprachintensiven Universitätsfakultäten klingt es ähnlich: Durchwegs wird bei
Studienanfängern eine Verschlechterung des schriftlichen Ausdrucks festgestellt.
Einerseits mangle es an Basiskenntnissen wie Interpunktion und Grammatik,
andererseits aber auch an der Fähigkeit, komplexe Gedanken sprachlich zu ordnen
und in einen stringenten Text zu fassen.
Skalpell
statt Brotmesser
«Ein Grossteil
der Maturandinnen und Maturanden ist des korrekten, geschweige denn des
eleganten Schreibens auf Deutsch schlicht nicht mehr mächtig», sagt Alain
Griffel, Ordinarius an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Zürich.
Das habe auch später in der Berufspraxis Folgen, betont Griffel. «Kürzlich habe
ich ein Gerichtsurteil gelesen, vermutlich verfasst von einem jungen
Gerichtsschreiber, von dem selbst ich als Jurist die entscheidende Passage
nicht verstanden habe.» Da gehe es nicht mehr um die Frage, ob das Komma am
richtigen Ort stehe, fährt der Professor fort. «Verständliche Urteile sowie
andere Rechtsdokumente sind eine staatstragende Angelegenheit.» Das konfus
verfasste Urteil ist längst kein Einzelfall:
Regelmässig
beschweren sich Juristen aus der Praxis bei Dozierenden. Nun reagiert die
Rechtswissenschaftliche Fakultät auf den Nachholbedarf: Sie führt eine
Studienreform durch, die dem Schreiben und dem Sprachverständnis mehr Raum
gibt. Ab Herbst 2021 wird für Erstsemestrige ein Kurs zum wissenschaftlichen Schreiben
obligatorisch.
In einem
Proseminar im dritten Semester sollen die Jus-Studierenden in Kleingruppen –
soweit bei 700 Studienanfängern pro Semester möglich – die Textarbeit vertiefen
und sich gegenseitig kritisieren. «Sie sollen ein Gefühl dafür bekommen, wann
ein Urteil gut geschrieben ist und wann nicht», erklärt Griffel. «Ein fähiger
Jurist arbeitet mit der Sprache wie der Chirurg mit dem Skalpell – und nicht
mit einem Brotmesser.»
Einen Steinwurf
von den Juristen entfernt lernen die Neuankömmlinge am Historischen Seminar
wissenschaftliches Schreiben schon länger. Da sich an Texten immer noch
schleifen lässt, bietet das Seminar seit 2019 Schreibwerkstätten für Bachelor-
und Master-Studierende an. Bei Bedarf repetiert Geschichtsprofessorin Marietta Meier
darin nochmals die grundlegenden Kommaregeln. «Nicht alle Studierenden können
in einem Text ohne Interpunktion sämtliche Kommas richtig setzen», erzählt
Meier.
Auch darin sind
sich die Dozierenden einig: Solche Grundkenntnisse kann die Uni, wo Fachwissen
vermittelt werden soll, noch voraussetzen. «Das ist die Aufgabe der Gymnasien»,
findet der Basler Jus-Professor Roland Fankhauser, «uns fehlen dazu schlicht
die Ressourcen.» Bringen die Gymnasien den Maturanden kein genügendes Deutsch
mehr bei? Die Frage geht an den Verein der Schweizer Deutsch-Gymnasiallehrer:
«Die Behauptung, dass sich die Schreibkompetenz verschlechtere, existiert seit
dem 19. Jahrhundert – sie stimmt auch heute nicht», entgegnet VDSL-Präsident
Pascal Frey. «Im Gegenteil: Heute können Schülerinnen und Schüler mit Thesen
und Meinungen in fremden Texten gut umgehen, was angesichts der aktuellen
Informationsflut enorm wichtig ist.» Frey betont zudem, dass Deutsch heute
lediglich eines von zahlreichen Gymnasialfächern sei – und deshalb im
Verhältnis an Stellenwert verloren habe.
Widersprüchliche
Studien
Wissenschaftlich
sind Veränderungen in der Schreibkompetenz schwer zu belegen, die Resultate
entsprechend widersprüchlich. Eine Studie der Uni Würzburg von 2007 will anhand
von Fehlerquoten in Diktaten feststellen, dass sich das Rechtschreibe-Niveau in
den vergangenen Jahrzehnten erheblich verschlechtert habe. Eine Frankfurter
Studie von 2003 wiederum kommt zum Schluss, dass der Wortschatz bei
Abituraufsätzen über die Jahre gewachsen sei.
Ein häufig
geäusserter Verdacht ist der Einfluss der neuen Medien auf das geschriebene
Deutsch; die flapsige Chatsprache und hastig getippte E-Mails würden die
Sorgfalt senken. Diesen Vorwurf hat die Zürcher Germanistikprofessorin Christa
Dürscheid in einem Nationalfondsprojekt widerlegt. Sie kam zum Ergebnis, dass
Jugendliche durchaus in der Lage sind, zwischen den formalen Anforderungen
eines SMS und einer Schularbeit zu differenzieren.
Unbestritten
ist unter den Experten die veränderte Bewertung der Sprache. Auf allen
Bildungsstufen werde Formales wie Grammatik und Rechtschreibung heute schwächer
gewichtet als Inhaltliches wie Textverständnis und Originalität. Aber der
Anspruch an gutes Deutsch ist geblieben. «Das Geschriebene ist die Visitenkarte
eines Geistesarbeiters», sagt Roland Fankhauser, der Basler Jus-Dekan. «Sie
liefert den ersten Eindruck – und der zählt bekanntlich.»
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