27. September 2020

Gymnasiallehrer: Schreibkompetenz verschlechtert sich nicht

In Kulturpessimismus will Roland Fankhauser, Studiendekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel, nicht verfallen. Doch sein Eindruck ist eindeutig: Die Schreibkom­petenz vieler Studierender lasse seit ­einigen Jahren zu wünschen übrig. «Das reicht von praktisch inexistenten Kommaregeln über fehlende Zusammenhänge zwischen aufeinanderfolgenden Sätzen bis hin zu ganzen Passagen, die kaum Sinn ergeben», sagt Fankhauser. «In einem Fall fragte ich einen Studenten bei der Besprechung seiner fehlerhaften Arbeit, ob er fremdsprachig aufgewachsen sei», erinnert sich der Studiendekan. Der Student war perplex – Deutsch war schliesslich seine Muttersprache. 

Deutsch, aber leider nicht deutlich, NZZaS, 27.9. von Joel Bedetti

An anderen sprachintensiven Universitätsfakultäten klingt es ähnlich: Durchwegs wird bei Studienanfängern eine Verschlechterung des schriftlichen Ausdrucks festgestellt. Einerseits mangle es an Basiskenntnissen wie Interpunktion und Grammatik, andererseits aber auch an der Fähigkeit, komplexe Gedanken sprachlich zu ordnen und in einen stringenten Text zu fassen. 

Skalpell statt Brotmesser

«Ein Grossteil der Maturandinnen und Maturanden ist des korrekten, geschweige denn des eleganten Schreibens auf Deutsch schlicht nicht mehr mächtig», sagt Alain Griffel, Ordinarius an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Zürich. Das habe auch später in der Berufspraxis Folgen, betont Griffel. «Kürzlich habe ich ein Gerichtsurteil ­gelesen, vermutlich verfasst von einem jungen Gerichtsschreiber, von dem selbst ich als Jurist die entscheidende Passage nicht verstanden habe.» Da gehe es nicht mehr um die Frage, ob das Komma am richtigen Ort stehe, fährt der Professor fort. «Verständliche Urteile sowie andere Rechtsdokumente sind eine staatstra­gende Angelegenheit.» Das konfus verfasste Urteil ist längst kein Einzelfall: 

Regelmässig beschweren sich Juristen aus der Praxis bei Dozierenden. Nun reagiert die Rechtswissenschaftliche Fakultät auf den Nachholbedarf: Sie führt eine Studienreform durch, die dem Schreiben und dem Sprachverständnis mehr Raum gibt. Ab Herbst 2021 wird für Erstsemestrige ein Kurs zum wissenschaftlichen Schreiben obligatorisch. 

In einem Proseminar im dritten Se­mester sollen die Jus-Studierenden in Kleingruppen – soweit bei 700 Studienanfängern pro Semester möglich – die Textarbeit vertiefen und sich gegenseitig kritisieren. «Sie sollen ein Gefühl dafür bekommen, wann ein Urteil gut geschrieben ist und wann nicht», erklärt Griffel. «Ein fähiger Jurist arbeitet mit der Sprache wie der Chirurg mit dem Skalpell – und nicht mit einem Brotmesser.»

Einen Steinwurf von den Juristen entfernt lernen die Neuankömmlinge am Historischen Seminar wissenschaftliches Schreiben schon länger. Da sich an Texten immer noch schleifen lässt, bietet das Seminar seit 2019 Schreibwerkstätten für Bachelor- und Master-Studierende an. Bei Bedarf repetiert Geschichtsprofessorin Marietta Meier darin nochmals die grundlegenden Kommaregeln. «Nicht ­alle Studierenden können in einem Text ohne Interpunktion sämtliche Kommas richtig setzen», erzählt Meier. 

Auch darin sind sich die Dozierenden einig: Solche Grundkenntnisse kann die Uni, wo Fachwissen vermittelt werden soll, noch voraussetzen. «Das ist die Aufgabe der Gymnasien», findet der Basler Jus-Professor Roland Fankhauser, «uns fehlen dazu schlicht die Ressourcen.» Bringen die Gymnasien den Maturanden kein genügendes Deutsch mehr bei? Die Frage geht an den Verein der Schweizer Deutsch-Gymnasiallehrer: «Die Behauptung, dass sich die Schreibkompetenz verschlechtere, existiert seit dem 19. Jahrhundert – sie stimmt auch heute nicht», entgegnet VDSL-Präsident Pascal Frey. «Im Gegenteil: Heute können Schülerinnen und Schüler mit Thesen und Meinungen in fremden Texten gut umgehen, was angesichts der aktuellen Informationsflut enorm wichtig ist.» Frey betont zudem, dass Deutsch heute lediglich eines von zahlreichen Gymnasial­fächern sei – und deshalb im Verhältnis an Stellenwert verloren habe. 

Widersprüchliche Studien

Wissenschaftlich sind Veränderungen in der Schreibkompetenz schwer zu belegen, die Resultate entsprechend widersprüchlich. Eine Studie der Uni Würzburg von 2007 will anhand von Fehlerquoten in Diktaten feststellen, dass sich das Rechtschreibe-Niveau in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verschlechtert habe. Eine Frankfurter Studie von 2003 wiederum kommt zum Schluss, dass der Wortschatz bei Abituraufsätzen über die Jahre gewachsen sei. 

Ein häufig geäusserter Verdacht ist der Einfluss der neuen Medien auf das geschriebene Deutsch; die flapsige Chat­sprache und hastig getippte E-Mails würden die Sorgfalt senken. Diesen Vorwurf hat die Zürcher Germanistikprofessorin Christa Dürscheid in einem Nationalfondsprojekt widerlegt. Sie kam zum Ergebnis, dass Jugendliche durchaus in der Lage sind, zwischen den formalen Anforderungen eines SMS und einer Schularbeit zu differenzieren. 

Unbestritten ist unter den Experten die veränderte Bewertung der Sprache. Auf allen Bildungsstufen werde Formales wie Grammatik und Rechtschreibung heute schwächer gewichtet als Inhaltliches wie Textverständnis und Originalität. Aber der Anspruch an gutes Deutsch ist geblieben. «Das Geschriebene ist die Visitenkarte eines Geistesarbeiters», sagt Roland Fankhauser, der Basler Jus-Dekan. «Sie liefert den ersten Eindruck – und der zählt bekanntlich.»

 

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