Es wird interessant, wenn am Montag in rund einem Dutzend Kantonen die Schulen öffnen. Wie viele Schülerinnen und Schüler werden zum Unterricht erscheinen? Wie viele stecken in Quarantäne, weil sie in einem Corona-Risikogebiet Ferien gemacht haben? Wie diszipliniert werden sie Masken tragen? Eine ganze Reihe von Kantonen, insbesondere in der westlichen Landeshälfte, hat den Gesichtsschutz an Gymnasien und Berufsschulen inzwischen für obligatorisch erklärt.
Lehrer fürchten um die Schwächsten, Tages Anzeiger, 8.8. von Fabian Renz
Dagmar Rösler sieht den kommenden Wochen, mit Spannung
entgegen. Es sind die anhaltend hohen Covid-Infektionsraten im ganzen Land, die
der Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH)
Sorge bereiten. Für die Schulen geht Rösler davon aus, «dass es im Verlauf des
ersten Quartals Anpassungen der Schutzkonzepte brauchen wird». Und dabei ist
für sie eine Sache zentral: «Wir sollten unbedingt versuchen, eine Rückkehr zum
Fernunterricht zu vermeiden.»
Der Fernunterricht, wie er in der heissen Corona-Phase bis
Anfang Sommerferien die Regel war: Er hat sich vielen Lehrkräften unangenehm
ins Gedächtnis gebrannt. Unterricht vor dem Computer, Zwiegespräche mit dem
Monitor, keine Kontrolle über das Verhalten der Klasse, kaum menschliche
Interaktion - dass dies alles wiederkehren könnte, ist die Befürchtung vieler.
Es geht dabei um mehr als Befindlichkeiten. «Es gibt Schülerinnen und Schüler,
die ohne Strukturen verloren waren: Das hat sich in der Nach-Lockdown-Phase
leider gezeigt», sagt Rösler. «Und es fehlen die Sozialkontakte, die so wichtig
sind.»
«Leistungsschere» geht auf
Röslers Befunde decken sich mit den Resultaten erster
Studien über den Fernunterricht im Frühjahr. In einer Evaluation des Kantons
Nidwalden zum Beispiel stellen 89 Prozent der befragten Lehrkräfte fest, dass
der Fernunterricht die «Leistungsschere» zwischen den Lernenden weiter geöffnet
hat. Dabei machte sich offenbar ein massgeblicher Einfluss von Familie und
häuslicher Ausstattung bemerkbar. «Kinder, die im Homeschooling gut von ihren Eltern
unterstützt werden konnten und zu Hause die nötigen Ressourcen vorfanden, waren
klar im Vorteil», heisst es in der Studie.
Ein ähnliches Bild zeigt sich in einer Erhebung der Zürcher
Uni-Professorin Katharina Maag Merki bei 59 Deutschschweizer Primarschulen. Die
befragten Schulleitungen nannten die «Unterstützung für gefährdete
Schüler*innen» als eine der grössten Herausforderungen in der schwierigen Phase
bis Mitte Mai - eine Herausforderung überdies, die in den fraglichen Wochen
kaum geringer wurde. Vergleichbar herausfordernd waren nur die Arbeitsbelastung
und die teils unklaren, teils zu detaillierten Vorgaben der Behörden.
Studienautorin Maag Merki konstatiert ebenfalls, dass der
«familiäre Hintergrund sehr entscheidend für den Lernerfolg» sei. Ihre
Schlussfolgerung: Der Staat soll hilfsbedürftige Schüler und deren Eltern
stärker unterstützen. Im Übrigen habe die Krise auch deutliche Unterschiede
zwischen den Schulen zutage gefördert: «Jene, die über eine gute digitale
Infrastruktur und über Schulentwicklungsroutinen verfügten, haben den
Fernunterricht besser bewältigt.» Eine gross angelegte Studie eines
internationalen Forschungsteams soll hierzu vertiefte Erkenntnisse bringen -
auch im Vergleich mit Deutschland und Österreich.
Für Jüngere weniger geeignet
Mit einer gewissen Skepsis verfolgt der Didaktiker und
Digitalexperte Beat Döbeli die Diskussion. Zumindest warnt er davor,
Fernunterricht aufgrund der Lockdown-Erfahrungen pauschal schlechtzureden. Für
sehr junge Schülerinnen und Schüler sei dieser in der Tat wenig geeignet. Für
ältere Semester hingegen, Mittelschüler zum Beispiel, sind laut Döbeli
vielversprechende Mischformen aus Präsenzunterricht und modernem, digitalem
Fernlernen denkbar.
Generell gilt für Döbeli: «Der Notfall-Fernunterricht im
Frühling 2020 ist mit einer zeitgemässen Kultur der Digitalität nicht zu
vergleichen. Alles musste unter Stress und Zeitdruck organisiert werden, es
fehlten gründliche Planung und Vorbereitung.» Wenn nun die Erfahrungen dieser
Notfallphase evaluiert würden, sei das für die Tauglichkeit digitaler
Unterrichtsformen kaum aussagekräftig.
Gegen eine Wiederkehr des «Notfall-Fernunterrichts» auf
Kosten der Schwächsten wird sich der Lehrer-Dachverband in den nächsten Wochen
jedenfalls wehren. Schon am Montag wird der LCH an einer Medienkonferenz eine
erste Bilanz zum Schulstart ziehen - und seine Wünsche um Unterstützung für die
schwierige Zukunft äussern.
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