9. August 2020

LCH gegen "Notfall-Fernunterricht"

Es wird interessant, wenn am Montag in rund einem Dutzend Kantonen die Schulen öffnen. Wie viele Schülerinnen und Schüler werden zum Unterricht erscheinen? Wie viele stecken in Quarantäne, weil sie in einem Corona-Risikogebiet Ferien gemacht haben? Wie diszipliniert werden sie Masken tragen? Eine ganze Reihe von Kantonen, insbesondere in der westlichen Landeshälfte, hat den Gesichtsschutz an Gymnasien und Berufsschulen inzwischen für obligatorisch erklärt.

Lehrer fürchten um die Schwächsten, Tages Anzeiger, 8.8. von Fabian Renz

Dagmar Rösler sieht den kommenden Wochen, mit Spannung entgegen. Es sind die anhaltend hohen Covid-Infektionsraten im ganzen Land, die der Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) Sorge bereiten. Für die Schulen geht Rösler davon aus, «dass es im Verlauf des ersten Quartals Anpassungen der Schutzkonzepte brauchen wird». Und dabei ist für sie eine Sache zentral: «Wir sollten unbedingt versuchen, eine Rückkehr zum Fernunterricht zu vermeiden.»

Der Fernunterricht, wie er in der heissen Corona-Phase bis Anfang Sommerferien die Regel war: Er hat sich vielen Lehrkräften unangenehm ins Gedächtnis gebrannt. Unterricht vor dem Computer, Zwiegespräche mit dem Monitor, keine Kontrolle über das Verhalten der Klasse, kaum menschliche Interaktion - dass dies alles wiederkehren könnte, ist die Befürchtung vieler. Es geht dabei um mehr als Befindlichkeiten. «Es gibt Schülerinnen und Schüler, die ohne Strukturen verloren waren: Das hat sich in der Nach-Lockdown-Phase leider gezeigt», sagt Rösler. «Und es fehlen die Sozialkontakte, die so wichtig sind.»

«Leistungsschere» geht auf

Röslers Befunde decken sich mit den Resultaten erster Studien über den Fernunterricht im Frühjahr. In einer Evaluation des Kantons Nidwalden zum Beispiel stellen 89 Prozent der befragten Lehrkräfte fest, dass der Fernunterricht die «Leistungsschere» zwischen den Lernenden weiter geöffnet hat. Dabei machte sich offenbar ein massgeblicher Einfluss von Familie und häuslicher Ausstattung bemerkbar. «Kinder, die im Homeschooling gut von ihren Eltern unterstützt werden konnten und zu Hause die nötigen Ressourcen vorfanden, waren klar im Vorteil», heisst es in der Studie. 

Ein ähnliches Bild zeigt sich in einer Erhebung der Zürcher Uni-Professorin Katharina Maag Merki bei 59 Deutschschweizer Primarschulen. Die befragten Schulleitungen nannten die «Unterstützung für gefährdete Schüler*innen» als eine der grössten Herausforderungen in der schwierigen Phase bis Mitte Mai - eine Herausforderung überdies, die in den fraglichen Wochen kaum geringer wurde. Vergleichbar herausfordernd waren nur die Arbeitsbelastung und die teils unklaren, teils zu detaillierten Vorgaben der Behörden.

Studienautorin Maag Merki konstatiert ebenfalls, dass der «familiäre Hintergrund sehr entscheidend für den Lernerfolg» sei. Ihre Schlussfolgerung: Der Staat soll hilfsbedürftige Schüler und deren Eltern stärker unterstützen. Im Übrigen habe die Krise auch deutliche Unterschiede zwischen den Schulen zutage gefördert: «Jene, die über eine gute digitale Infrastruktur und über Schulentwicklungsroutinen verfügten, haben den Fernunterricht besser bewältigt.» Eine gross angelegte Studie eines internationalen Forschungsteams soll hierzu vertiefte Erkenntnisse bringen - auch im Vergleich mit Deutschland und Österreich.

Für Jüngere weniger geeignet

Mit einer gewissen Skepsis verfolgt der Didaktiker und Digitalexperte Beat Döbeli die Diskussion. Zumindest warnt er davor, Fernunterricht aufgrund der Lockdown-Erfahrungen pauschal schlechtzureden. Für sehr junge Schülerinnen und Schüler sei dieser in der Tat wenig geeignet. Für ältere Semester hingegen, Mittelschüler zum Beispiel, sind laut Döbeli vielversprechende Mischformen aus Präsenzunterricht und modernem, digitalem Fernlernen denkbar. 

Generell gilt für Döbeli: «Der Notfall-Fernunterricht im Frühling 2020 ist mit einer zeitgemässen Kultur der Digitalität nicht zu vergleichen. Alles musste unter Stress und Zeitdruck organisiert werden, es fehlten gründliche Planung und Vorbereitung.» Wenn nun die Erfahrungen dieser Notfallphase evaluiert würden, sei das für die Tauglichkeit digitaler Unterrichtsformen kaum aussagekräftig.

Gegen eine Wiederkehr des «Notfall-Fernunterrichts» auf Kosten der Schwächsten wird sich der Lehrer-Dachverband in den nächsten Wochen jedenfalls wehren. Schon am Montag wird der LCH an einer Medienkonferenz eine erste Bilanz zum Schulstart ziehen - und seine Wünsche um Unterstützung für die schwierige Zukunft äussern.

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