Im Zuge der Rassismusdebatte meldet sich jetzt ein Mitglied der Geschäftsleitung
vom Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer zu Wort. Dorothee Miyoshi sagt:
Rassismus ist auch in der Schule eine Realität.
"Die Schule verletzt das Gesetz der Gleichheit", Blick, 6.7. von Dana Liechti
Dorothee Miyoshi, Sie schreiben auf der Website des Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (LCH), dass Rassismus in der Schule eine Realität sei. Woran machen Sie das fest?
Dorothee Miyoshi: In der Schweiz kann man die Schullaufbahn eines Kindes aufgrund
weniger Informationen mit erschreckender Genauigkeit vorhersagen. Man muss nur
fragen: Welche Ausbildung haben die Eltern und zu welcher sozialen Schicht
gehören sie? Und wir haben ein grosses Problem mit sozialer Selektion. Das hat
indirekt auch mit Rassismus zu tun.
Können Sie das ausführen?
Mehrmals in der Schullaufbahn finden Selektionen statt für die
Übertritte in die nächsthöhere Stufe. Die fallen oft zuungunsten von Kindern
mit Migrationshintergrund aus. Studien belegen zum Beispiel, dass ein Kind aus
einer benachteiligten Familie bei der gleichen Leistung sehr viel seltener
die Empfehlung fürs Gymnasium bekommt als ein Kind aus einer bildungsnahen
Familie. Damit verletzt die Schule den Verfassungsartikel der Gleichheit.
Eine aktuelle deutsche Studie zeigt, dass angehende Lehrpersonen schlechtere
Diktatnoten für Kinder mit ausländischem Namen vergeben, auch wenn die Anzahl
von Fehlern in den Diktaten gleich war. Könnte das auch in der Schweiz
passieren?
Ja, auch hier gibt es solche Studienergebnisse.
Kinder mit Migrationshintergrund und nicht weisse Kinder werden in der
Schule also diskriminiert.
Unbewusst, ja. Wir Lehrpersonen unterliegen – und das nicht mit böser
Absicht – stereotypen Denkweisen. Diese wiederholen wir ständig und merken
nicht, dass uns dabei Rassismus unterläuft. Und wir haben unterschiedliche
Leistungserwartungen. Von einem Kind aus bildungsfernem Elternhaus und mit
Migrationshintergrund erwarten wir unbewusst weniger als von einem Kind aus dem
Schweizer Mittelstand mit bildungsnahen Eltern.
Das hat Folgen ...
Ja, ein Kind spürt Erwartungshaltungen sehr gut und leistet
dementsprechend auch weniger. So beginnt ein Teufelskreislauf. Das sind
Mechanismen, die wir Lehrpersonen uns gerne bewusst machen dürfen. Wir müssen
versuchen, vorurteilsloser in den Klassen zu agieren.
Sind Lehrpersonen zu wenig sensibilisiert für Rassismus?
Ich denke, das ist unsere gesamte Gesellschaft. Wir alle sollten
hinschauen.
Aber müssten nicht gerade Lehrpersonen besonders wachsam sein?
Auf jeden Fall. Aber die stereotypen Muster sind ganz tief verankert.
Umso wichtiger wäre es, dass man die Problematik nicht nur in der
Lehrerausbildung konkret anspricht. Lehrpersonen müssen auch immer wieder
Weiterbildungen dazu besuchen. Und sie müssten sich täglich damit beschäftigen,
wie sie sich verhalten und wie sie welches Kind behandeln.
Ist es Ihnen auch schon passiert, dass Sie ein Kind ungewollt
rassistisch behandelt haben?
Ja, erst kürzlich. Ich fragte ein Kind mit Migrationshintergrund, ob es
in den Ferien in die Heimat reise. Das Kind hat mich mit grossen Augen
angeschaut und gesagt: «Aber Frau Miyoshi, meine Heimat ist doch hier!» Da
merkte ich: Ich muss über die Bücher.
Sie signalisierten dem Kind damit, dass es fremd im eigenen Land ist.
Passieren solche Dinge im Schulalltag oft?
Ich mache Ihnen noch ein Beispiel: Ein dunkelhäutiger Lehrerkollege hat
mir erzählt, dass er als Schüler im Musikunterricht immer die Bongos zum
Spielen bekam. Solche Dinge passieren häufiger. Es sind Handlungen, die harmlos
wirken, die aber keine Berechtigung haben. Und eine dunkelhäutige junge Frau
hat mir erzählt, dass ihre Lehrerin ihr sagte, sie müsse Mathematik nicht
beherrschen, weil die Menschen in Afrika sowieso nicht mit Geld umgehen können.
Diese Lehrerin unterrichtet heute noch. Ich möchte kein Lehrerbashing machen –
die meisten Lehrpersonen leisten einen enormen Einsatz! Aber solche Bemerkungen
dürfen nicht vorkommen.
Singen Sie Mani Matters Lied «Dr Sidi Abdel Assar vo el Hama» noch mit
den Kindern? Es steht ja wegen der darin transportieren Stereotype in der
Kritik.
Wir haben es erst gerade gesungen. Ich hatte das Gefühl, dass gerade
Kinder mit dem entsprechenden Hintergrund Freude hatten, dass ihre Kultur auch
mal vorkommt.
Sollte die Schule nicht vorsichtiger sein mit solchen Inhalten?
Es wäre sicher wichtig, dass man thematisiert, was kritisch an dem Lied
ist. Und es ist wichtig, dass wir Kinder darin bestärken, zu sagen, wenn sie
etwas verletzt.
Auch die Lehrbücher stehen in der Kritik. Zum Beispiel weil die Rolle
der Schweiz im Kolonialismus darin kaum vorkommt.
Ja, da haben wir sicher Handlungsbedarf, wie auch in Bezug auf die
Geschlechterrollen.
Ist das Rassismusproblem an ländlichen Schulen eigentlich ausgeprägter
als an städtischen?
Klassen in den Städten sind häufig diverser, darum ist das Problem dort
wahrscheinlich tatsächlich weniger ausgeprägt. Auch die Chancengerechtigkeit
ist in diversen Klassen grösser.
Von Chancengerechtigkeit sind wir aber laut Studien generell weit
entfernt.
Ja. Und sie hat sich im vergangenen Jahrzehnt sogar verschlechtert.
Hat auch der Lockdown die Chancenungleichheit noch verstärkt?
Das müsste man untersuchen. Aber ich denke, das ist ein Grund, wieso die
Behörden die Schulen so rasch wie möglich wieder geöffnet haben.
Gehen Sie davon aus, dass coronabedingte Steuerausfälle zu Sparrunden im
Bildungsbereich führen werden?
Damit kann man rechnen. Und es gilt, sich dagegen zu wehren. Denn das
wird sich negativ auf die Kinder auswirken – besonders auf jene mit
Migrationshintergrund.
Dorothee Miyoshi persönlich
Dorothee Miyoshi (56) ist Mitglied der Geschäftsleitung des
Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Sie arbeitet als
Heilpädagogin an einer Primarschule in der Stadt Basel und wohnt im Kanton
Aargau. Miyoshi ist Mutter von vier erwachsenen Kindern, die aufgrund ihres
Äusseren selbst schon von Rassismus betroffen waren – Miyoshis Ex-Mann und der
Vater ihrer Kinder ist Japaner.
Ich denke, es ist eine Realität, dass Lehrer Arbeiten unterschiedlich bewerten und dass da auch Unbewusstes im Spiel ist. Das hat aber nicht zwingend mit Rassismus zu tun. Oft profitieren davon auch Schweizer aus einer höheren sozialen Schicht. So ist besonders der Stufenübertritt mit den Zuweisungsentscheiden für einen Schultyp an der Sekundarstufe I davon betroffen. Das spräche klar für Aufnahmeprüfungen. Da ist dann aber Funkstille aus der LCH-Chefetage.
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