27. Juli 2020

Bitte nicht wieder zurück zum "normalen Unterricht"

Corona hat die Schulen zu Notlösungen gezwungen. Die Digitalisierung der Bildung ist damit noch lange nicht erreicht. 

Liebe Schulen, geht nicht zurück zur Normalität, NZZaS, 26.7. von Dennis Lück

Es war wohl der lustigste Home-Schooling-Moment, den ich mit meinem Sohn erleben durfte. Ich sass neben ihm auf dem Bett und arbeitete. Ludwig, 10, sass am Schreibtisch, startete am Computer den Videochat von MS Teams, und der Musikunterricht begann. Ich hörte mit halbem Ohr zu. Plötzlich begann der engagierte Lehrer zu erklären, dass sie gleich alle zusammen klatschen sollten, nachdem er auf die Vier hochgezählt hat. Gesagt, getan. Der Lehrer zählte hoch, und nach der Vier erklang die herrlichste Kakofonie, die es je zu hören gab. Ludwig und ich lachten Tränen im Zimmer. Die anderen Schülerinnen und Schüler prusteten in ihre virtuellen Fensterchen, und auch der Lehrer nahm es genau richtig, nämlich mit Humor. Unvergesslich, dieser Moment. 

Was waren das für drei Monate. In Whatsapp-Gruppen verschickten Lehrer Feedbacks, To-do-Listen für uns Eltern und Pokal-Emojis für gemeisterte Hausaufgaben. Auch wenn nicht immer alles geklappt hat, mich hat es inspiriert, wie die Lehrer und Lehrerinnen alles gegeben haben, um das Beste aus der Situation zu machen. 

Nur eine Sache bringt mich zum Nachdenken: Auch jetzt noch lese ich immer wieder Schlagzeilen wie «Corona treibt die Digitalisierung der Bildung voran». Man feiert das Virus für seine Errungenschaften in unserem Bildungssystem. Bitte verzeihen Sie mir den Kraftausdruck, aber es gibt dafür nur ein angemessenes Wort: Bullshit. 

Corona war nicht der Treiber der Transformation, sondern ein Überfallkommando. Corona hat auch keine Lösungen kreiert, sondern Notlösungen produziert. Corona hat kein System vorangetrieben, sondern es zur Schnappatmung gebracht. 

Können wir bitte damit aufhören, Corona schönzureden als Treiber für die digitale Transformation unseres Bildungssystems? Diesem zeitgeistigen Zwangseuphemismus muss man die Realität entgegenhalten. Was wir erlebt haben, war keine Digitalisierung, sondern eine Probefahrt mit verbundenen Augen auf unbefahrbarem Gelände ohne Lenkrad. Und das Verrückte ist doch: Unsere Lehrer haben es geschafft, sie haben das Auto mit unseren Kindern ans Ziel gebracht. 

Wenn wir Corona dazu benutzen, um über die Digitalisierung der Bildung zu sprechen, dann ist das falsch. Dann hat man nicht verstanden, was die Digitalisierung des Bildungssystems bedeutet. Die Nutzung von MS Teams und Whatsapp-Gruppen ist nicht die digitale Transformation. Ich wiederhole: Das Kommunikationsprogramm MS Teams bedienen können ist keine digitale Transformation. Digitalisierung bedeutet Vereinfachung. Vereinfachung der Prozesse für den Bediener (Lehrperson) und den Nutzer (Schüler) und Verlagerung der Prozesse in den digitalen Raum (Zeugnisse, Feedback, Hausaufgaben, Unterricht). 

Genau da müssen wir nun weiterarbeiten. Digitalisierung soll sich einfach anfühlen. Wie kommen wir nun dahin? Wichtig ist: Wir müssen weiter ausprobieren, weiter lernen, weiter Fehler machen. Was dürfen wir jetzt nicht machen: nach den Ferien einfach zurück zum «old normal» gehen. Ich bitte alle Verantwortlichen an den Schulen und in der Politik, darüber nachzudenken: Wie interpretieren wir «Digitalisierung» für unsere Schulen? Wie fahren wir jetzt nicht wieder auf null zurück? Und welche Tools helfen wirklich? Stellen Sie sich vor, wir installieren beispielsweise einen «Digital Friday», bei dem wir uns weiterverbessern in den Punkten Aufbereitung, Durchführung und Nachbearbeitung des virtuellen Unterrichts. So lernen wir das «new normal». Wir müssen definieren, welche Werkzeuge unser Lehrkörper braucht, um E-Learning voranzutreiben. Wer schult die Lehrerinnen und Lehrer, damit sie selbst Lernvideos aufnehmen können? Brauchen wir dazu nicht kleine Studios an den Schulen? Gibt es eine zentrale Plattform, die alle Schulen nutzen können? Unterricht ist Content, wie vernetflixen wir Erklärmaterial? Wie skalieren wir das, damit nicht jede Schule eigene Inhalte erstellen muss? Wir könnten beispielsweise den Erkläranteil des Unterrichts komplett digitalisieren und den physischen Unterricht nur noch zum Vertiefen und zum Helfen nutzen. Das wäre mal ein Digitalisierungskonzept. All diese Punkte gilt es genau jetzt in Angriff zu nehmen. Einen «Digital Friday» könnte jeder Schulleiter und jede Schulleiterin nach den Ferien weiter durchführen. Alles, aber bitte kein «old normal». 

Und noch etwas ganz Wichtiges. Liebe Frau Bürgi, liebe Frau Di Biase, lieber Herr Schneider, liebe Frau Nauer, liebe Frau Fischer, liebe Frau Tiller: Ich danke Ihnen. Was Sie geleistet haben, war sensationell. 

Dennis Lück ist Kreativchef der Kommunikationsagentur Jung von Matt/Limmat.

1 Kommentar:

  1. Nein, Herr Lück, wir brauchen keine Studios an unseren Schulen, wir brauchen auch nicht flächendeckende Erklärvideos und auch keinen "Digital Friday". Den Erkläranteil komplett digitalisieren hiesse, die Schere zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Familien noch weiter aufgehen zu lassen. Das hätte noch mehr Stützunterricht, noch mehr Zersplitterung des Stundenplans, noch mehr Segregation zur Folge. Wieso nicht einfach mit dem weiterfahren, von dem wir wissen, dass es am besten funktioniert? Konkret heisst das: vielseitiger, vom Lehrer klar strukturierter und geführter Unterricht mit regelmässigen Erfolgskontrollen.

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