Corona hat die Schulen zu Notlösungen gezwungen. Die Digitalisierung der Bildung ist damit noch lange nicht erreicht.
Liebe Schulen, geht nicht zurück zur Normalität, NZZaS, 26.7. von Dennis Lück
Es war wohl der
lustigste Home-Schooling-Moment, den ich mit meinem Sohn erleben durfte. Ich
sass neben ihm auf dem Bett und arbeitete. Ludwig, 10, sass am Schreibtisch,
startete am Computer den Videochat von MS Teams, und der Musikunterricht
begann. Ich hörte mit halbem Ohr zu. Plötzlich begann der engagierte Lehrer zu
erklären, dass sie gleich alle zusammen klatschen sollten, nachdem er auf die
Vier hochgezählt hat. Gesagt, getan. Der Lehrer zählte hoch, und nach der Vier
erklang die herrlichste Kakofonie, die es je zu hören gab. Ludwig und ich
lachten Tränen im Zimmer. Die anderen Schülerinnen und Schüler prusteten in
ihre virtuellen Fensterchen, und auch der Lehrer nahm es genau richtig, nämlich
mit Humor. Unvergesslich, dieser Moment.
Was waren das
für drei Monate. In Whatsapp-Gruppen verschickten Lehrer Feedbacks,
To-do-Listen für uns Eltern und Pokal-Emojis für gemeisterte Hausaufgaben. Auch
wenn nicht immer alles geklappt hat, mich hat es inspiriert, wie die Lehrer und
Lehrerinnen alles gegeben haben, um das Beste aus der Situation zu
machen.
Nur eine Sache
bringt mich zum Nachdenken: Auch jetzt noch lese ich immer wieder Schlagzeilen
wie «Corona treibt die Digitalisierung der Bildung voran». Man feiert das Virus
für seine Errungenschaften in unserem Bildungssystem. Bitte verzeihen Sie mir
den Kraftausdruck, aber es gibt dafür nur ein angemessenes Wort:
Bullshit.
Corona war
nicht der Treiber der Transformation, sondern ein Überfallkommando. Corona hat
auch keine Lösungen kreiert, sondern Notlösungen produziert. Corona hat kein
System vorangetrieben, sondern es zur Schnappatmung gebracht.
Können wir
bitte damit aufhören, Corona schönzureden als Treiber für die digitale
Transformation unseres Bildungssystems? Diesem zeitgeistigen Zwangseuphemismus
muss man die Realität entgegenhalten. Was wir erlebt haben, war keine
Digitalisierung, sondern eine Probefahrt mit verbundenen Augen auf
unbefahrbarem Gelände ohne Lenkrad. Und das Verrückte ist doch: Unsere Lehrer
haben es geschafft, sie haben das Auto mit unseren Kindern ans Ziel
gebracht.
Wenn wir Corona
dazu benutzen, um über die Digitalisierung der Bildung zu sprechen, dann ist
das falsch. Dann hat man nicht verstanden, was die Digitalisierung des
Bildungssystems bedeutet. Die Nutzung von MS Teams und Whatsapp-Gruppen ist
nicht die digitale Transformation. Ich wiederhole: Das Kommunikationsprogramm
MS Teams bedienen können ist keine digitale Transformation. Digitalisierung
bedeutet Vereinfachung. Vereinfachung der Prozesse für den Bediener
(Lehrperson) und den Nutzer (Schüler) und Verlagerung der Prozesse in den
digitalen Raum (Zeugnisse, Feedback, Hausaufgaben, Unterricht).
Genau da müssen
wir nun weiterarbeiten. Digitalisierung soll sich einfach anfühlen. Wie kommen
wir nun dahin? Wichtig ist: Wir müssen weiter ausprobieren, weiter lernen,
weiter Fehler machen. Was dürfen wir jetzt nicht machen: nach den Ferien
einfach zurück zum «old normal» gehen. Ich bitte alle Verantwortlichen an den
Schulen und in der Politik, darüber nachzudenken: Wie interpretieren wir
«Digitalisierung» für unsere Schulen? Wie fahren wir jetzt nicht wieder auf
null zurück? Und welche Tools helfen wirklich? Stellen Sie sich vor, wir
installieren beispielsweise einen «Digital Friday», bei dem wir uns
weiterverbessern in den Punkten Aufbereitung, Durchführung und Nachbearbeitung
des virtuellen Unterrichts. So lernen wir das «new normal». Wir müssen
definieren, welche Werkzeuge unser Lehrkörper braucht, um E-Learning
voranzutreiben. Wer schult die Lehrerinnen und Lehrer, damit sie selbst
Lernvideos aufnehmen können? Brauchen wir dazu nicht kleine Studios an den
Schulen? Gibt es eine zentrale Plattform, die alle Schulen nutzen können?
Unterricht ist Content, wie vernetflixen wir Erklärmaterial? Wie skalieren wir
das, damit nicht jede Schule eigene Inhalte erstellen muss? Wir könnten
beispielsweise den Erkläranteil des Unterrichts komplett digitalisieren und den
physischen Unterricht nur noch zum Vertiefen und zum Helfen nutzen. Das wäre
mal ein Digitalisierungskonzept. All diese Punkte gilt es genau jetzt in
Angriff zu nehmen. Einen «Digital Friday» könnte jeder Schulleiter und jede
Schulleiterin nach den Ferien weiter durchführen. Alles, aber bitte kein «old
normal».
Und noch etwas
ganz Wichtiges. Liebe Frau Bürgi, liebe Frau Di Biase, lieber Herr Schneider,
liebe Frau Nauer, liebe Frau Fischer, liebe Frau Tiller: Ich danke Ihnen. Was
Sie geleistet haben, war sensationell.
Dennis Lück ist Kreativchef der Kommunikationsagentur Jung von Matt/Limmat.
Nein, Herr Lück, wir brauchen keine Studios an unseren Schulen, wir brauchen auch nicht flächendeckende Erklärvideos und auch keinen "Digital Friday". Den Erkläranteil komplett digitalisieren hiesse, die Schere zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Familien noch weiter aufgehen zu lassen. Das hätte noch mehr Stützunterricht, noch mehr Zersplitterung des Stundenplans, noch mehr Segregation zur Folge. Wieso nicht einfach mit dem weiterfahren, von dem wir wissen, dass es am besten funktioniert? Konkret heisst das: vielseitiger, vom Lehrer klar strukturierter und geführter Unterricht mit regelmässigen Erfolgskontrollen.
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