Was haben Finnland und Kanada gemeinsam? In der Pisa-Studie belegen sie
Spitzenplätze. Eine zentrale Gemeinsamkeit: Beide haben ein 100 Prozent
integratives Schulsystem. Alle Kinder mit besonderen Bedürfnissen werden in der
Regelschule unterrichtet. Alle Formen von Sonderschulen sind abgeschafft. Neben
Pisa gibt es eine ganze Anzahl von weiteren Studien, die eindeutig aufzeigen,
dass das integrative Schulmodell dem segregativen deutlich überlegen ist. So
hält beispielsweise der Erziehungswissenschafter Klaus Klemm fest, dass
«Förderschülerinnen und -schüler in integrativen Settings gegenüber denen in
institutionell separierenden Unterrichtsformen einen deutlichen
Leistungsvorsprung aufweisen». Aber auch Regelschüler profitieren und zeigen
deutliche Lernerfolge. Nicht zuletzt werden die soziale Entwicklung und die «Gesellschaftsfähigkeit»
aller Schüler gefördert.
Schulische Integration ist ein Menschenrecht - eine Demontage wider besseres Wissen, NZZ, 23.7. von Eric Scherer
Deutlich werden die Studien in Bezug auf die Sonderschule als
«Schonraumfalle». So führt beispielsweise Brigitte Schumann aus, dass das
Stigma des Sonderschulbesuchs die Ausbildungschancen der Förderschüler im
regulären Berufsausbildungssystem verringere – auch dann, wenn sie zu den 20
Prozent der Sonderschüler gehören, die einen Schulabschluss erworben haben.
Schülerinnen und Schüler einer Sonderschule sind fast chancenlos bei der Suche
nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Sie werden als Kinder bereits in den
geschützten Bereich verbannt und kosten so den Staat und die Gemeinschaft
deutlich mehr, als jede integrative Ausbildung an echten oder empfundenen
Mehrkosten verursacht. Schulische Integration leistet somit auch einen Beitrag
zur Entlastung der Sozialsysteme.
Wider den Stand des Wissens hat FDP-Gemeinderätin Yasmin Bourgeois Ende Februar in der NZZ
grobes Geschütz aufgefahren: Stück für Stück demontierte sie das
Ziel der schulischen Integration und verschob es in den Bereich der «Folklore».
So propagierte sie eine Teilintegration in Fächern wie Sport, Zeichnen oder
Musik. Als «Zeugen» führte sie «Sonderschullehrpersonen» an, die behaupten,
Kinder aus Regelklassen würden «grosse Rückstände auf ihre gleichaltrigen
Klassenkameraden in der Sonderschule aufweisen». Ein Viertel der Gesamtkosten
für die Volksschule sollen auf die vier Prozent Kinder mit erhöhtem
Förderbedarf entfallen.
Ungewollt zeigte sie damit auf, wo es hapert. Erstens am politischen
Willen: Inklusion ist ein Menschenrecht. Die Umsetzung der Inklusion in der
Schule ist ein Langzeitprojekt, das Willen, Visionen und Durchhaltevermögen
benötigt. Wir betreten hier Neuland und müssen bereit sein, Rückschläge in Kauf
zu nehmen. Zweitens besteht ein fundamentaler Interessenkonflikt: Solange es
die Sonderschule als segregative Einrichtung gibt, wird es echte Inklusion nie
geben. Dass es anders geht, zeigen die Vorreiter der Pisa-Studie; doch es geht
um Macht und Pfründen von Institutionen und einzelnen Lehrern. Drittens hapert
es an der wirtschaftlichen Betrachtungsweise: Wir haben es uns in der Schweiz
zu einer schlechten Gewohnheit gemacht, ständig über die Kosten des Schulsystems
zu diskutieren, und uns dabei in eine Art von Mangelwirtschaft
hineinmanövriert. Eine Bewertung der Wirtschaftlichkeit von Inklusion ist
jedoch nur bei einer Gesamtbetrachtung der beruflichen Laufbahn der Betroffenen
und der Kosten für die Sozialsysteme möglich. Hier ist klar: Inklusion in der
Schule ist eine sinnvolle Investition und – richtig umgesetzt – ein
nachhaltiges Sparprogramm.
Eric
Scherer ist Mitglied des Vorstandes von «insieme21» und Präsident des
Vereins «Inklusion Aargau».
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