18. Juni 2020

Die Lehren aus dem Fernunterricht

Die Schulschliessungen der letzten Monate haben das Bildungssystem stark gefordert. Eine grossangelegte Umfrage unter mehr als 8000 Schülern aus drei Ländern zeigt, welche Lehren aus dem unfreiwilligen Fernunterricht zu ziehen sind.

Schweizer Schüler sind deutlich besser durch die Corona-Krise gekommen als deutsche Kinder, NZZ, 18.6. von Erich Aschwanden

Es war wohl der grösste Schulversuch, der in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden hat. Doch es handelte sich nicht um ein Experiment, sondern es war bitterer Ernst, als Mitte März in fast allen Ländern Europas die Schulen wegen der Corona-Pandemie schliessen mussten. Von einem Tag auf den anderen waren Schüler und Lehrer gezwungen, sich mit Fernunterricht, digitalem Lernen und Plattformen wie Padlet oder Moodle herumzuschlagen.

Innert weniger Wochen hat ein Virus die Schule stärker reformiert, als worauf die Versuche der Pädagogen in den vergangenen Jahren hinauswollten. Nun gilt es, Lehren für die Zukunft zu ziehen. Erste Hinweise, wie diese aussehen könnten, gibt eine breit abgestützte Umfrage. Durchgeführt hat die Studie das Institut für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie der Pädagogischen Hochschule Zug. Im Rahmen des Schulbarometers befragten die Wissenschafter vom 24. März bis Mitte April insgesamt 8344 Schüler und Schülerinnen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich. An der Stichprobe beteiligten sich auch Eltern, Schulleitungen, Lehrer sowie Mitglieder von Schulverwaltung und Schulaufsicht.

«Die Schere öffnet sich»

Wie Studienleiter Stephan Huber erklärt, gibt es Erkenntnisse, die für alle drei Länder gelten. So könne man davon ausgehen, dass sich die vorher bestehenden Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern durch die Corona-Krise noch verstärkt hätten. «Krisen machen diese deutlicher sichtbar. Und über die Zeit werden Unterschiede grösser. Die Schere zwischen starken und lernschwachen Schülern öffnet sich weiter, wenn es zu keiner Kompensation kommt», sagt Huber. Die Benachteiligung treffe insbesondere Kinder in familiär ohnehin belasteten Situationen.

Neben dem familiären Umfeld hat auch die technische Ausstattung, die zu Hause verfügbar ist, einen grossen Einfluss. Wichtig ist auch, wie stark Eltern die Kinder bei den Aufgaben unterstützen können. Vor allem aber seien die verschiedenen Lernstrukturen der Schüler entscheidend. «Wer schon vor der Schulschliessung selbständiges Lernen gewohnt war und seinen Tagesablauf gut strukturiert, ist problemlos durch die Zeit mit Fernunterricht und die zögerliche Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts gekommen», stellt der Bildungsexperte fest.

Über alle drei Länder hinweg zeigte sich rund ein Drittel der Schülerinnen und Schüler als sehr aktiv. Teilweise haben diese Kinder nach ihrer eigenen Einschätzung während der Schulschliessung sogar mehr gelernt als vorher, weil sie durch das Lernen daheim ihre Zeit besser einteilen und nutzen konnten.

Abgehängte Schüler haben mehr gezockt

Auf der anderen Seite zeigt sich, dass rund 20 Prozent der befragten Schüler praktisch nichts gelernt haben. «Diese Schüler zeigen sich sehr passiv, sie lernen wenig. Sie haben auch weniger im Haushalt geholfen und weniger gelesen. Das Einzige, was sie deutlich mehr gemacht haben als die andere Gruppe, das ist Zocken», so Huber.

Er spricht in diesem Zusammenhang von Schülern, «die abgehängt sind und selber abhängen». Um diese Jugendlichen müssten sich die Lehrer mithilfe guter Lehr- und Lernformen und guter direkter Lernbegleitung jetzt besonders kümmern. «Es geht nicht nur darum, Schulstoff nachzuholen. Wichtig ist auch, dass diese Kinder emotional und sozial von den Schulen unterstützt werden», betont Huber.

Neben der Unterstützung durch die Eltern und dem Organisationsgrad der Schülerinnen und Schüler ist laut dem Schulbarometer die Rolle der Lehrpersonen ausschlaggebend. Entscheidend sei nicht, wie viele Hausaufgaben von Lehrpersonen verteilt würden oder auf welche Weise dies geschehe. Wichtig ist vielmehr, dass sie zeitnah kontrolliert und korrigiert werden und ausführliche Rückmeldungen erfolgen. Der Lernerfolg wird auch dadurch beeinflusst, ob es den Lehrerinnen und Lehrern gelungen ist, über Online-Plattformen live mit den Kindern in Kontakt zu sein. «Schüler benötigen den persönlichen Austausch mit der Lehrperson und mit den Mitschülern», so Huber.

Deutschland hinkt hinterher

Beim Einsatz dieser digitalen Tools zeigen sich grosse Unterschiede zwischen den drei untersuchten Ländern. Probleme mit dem Einsatz dieser Instrumente zeigen sich vor allem in Deutschland. Wie Huber ausführt, hat sich bewährt, dass die Schweiz, aber auch Österreich im Umgang mit den verschiedenen Online-Tools pragmatisch waren. Hier waren die bürokratischen Hürden viel niedriger.

Zudem haben viele Schulen in der Schweiz und in Österreich bereits digitale Lösungen vor der Krise etabliert. «Dagegen haben viele deutsche Bundesländer aus Datenschutz- und anderen Gründen nur sehr ausgewählte Technologien zugelassen», sagt der Bildungsexperte. Zum Teil waren diese ausgewählten Tools zu Beginn der Krise noch gar nicht einsatzfähig, wie etwa Logineo in Nordrhein-Westfalen.

Der krasseste Unterschied zwischen den drei Ländern liegt bei der Digitalisierung. «Hier hinkt Deutschland hinter der Schweiz, aber auch hinter Österreich einfach hinterher», stellt Huber fest, der selber aus Deutschland stammt. Während in der Schweiz 81 Prozent der Befragten Online-Plattformen nutzten, waren es in Deutschland bloss 43 Prozent. Die Schüleraktivität lag in Deutschland bei 36 Prozent, in der Schweiz bei 57 Prozent.

Während in unserem nördlichen Nachbarland nach eigener Auskunft nur 37 Prozent der Lehrpersonen die Hausaufgaben kontrollierten, waren es in der Schweiz 63 Prozent. «Es kommt bei der Digitalisierung auf die Ressourcenausstattung, auf pädagogisch sinnvolle und auf die Schule abgestimmte Konzepte und natürlich auf die Motivation, Kompetenz und Erfahrung der Lehrpersonen an», bilanziert Huber.

Das hohe Engagement der Lehrerinnen und Lehrer hat Folgen. So fühlen sich die Lehrpersonen in der Schweiz während der Ausnahmesituation der vergangenen Wochen am stärksten belastet. Dies könnte laut Huber damit zusammenhängen, dass die Qualitätsansprüche in der Schweiz besonders hoch sind. Weitere Erkenntnisse erwartet die PH Zug von der zweiten Welle der Befragung, die gegenwärtig läuft.

Situation muss beruhigt werden

Erste Schlüsse kann man laut Stephan Huber jedoch bereits jetzt aus der vorliegenden Zwischenbilanz ziehen: «Nach den turbulenten letzten Wochen mit der Schulschliessung und -wiedereröffnung muss die Situation wieder beruhigt werden. Es gilt, Mindest- und Regelstandards zu erarbeiten und umzusetzen, vor allem auf Kantons- und Schulebene, an die sich Lehrer halten und an denen sie sich orientieren können.» Ziel sollte es sein, dass rund 80 Prozent des Unterrichts mit den von allen Beteiligten definierten Regeln funktionieren könnten. Daneben sollte mittel- und längerfristig jedes Schulhaus eine eigene Zwischenbilanz ziehen und aus den Erfahrungen – besonders denen aktiver und kreativer Lehrpersonen – lernen.

Aus Sicht der Forscher von der PH Zug besteht nun die einmalige Chance, das Blended Learning, also die didaktisch sinnvolle Verknüpfung von traditionellen Präsenzveranstaltungen und modernen Formen des E-Learning, in der Praxis zu verankern und zu verbreiten. Wichtig sei, dass die Verantwortlichen in Kantonen und Gemeinden abklärten, welche Ressourcen für diese Lernformen vorhanden seien, und gestützt auf die Erfahrungsauswertungen eine langfristige Strategie entwickelten.

Man müsse diese Erfahrungen nutzen, damit mit der Digitalisierung die Schule zum einen gesellschaftlichen Entwicklungen gerecht werde (Lernen über Technologie) und zum anderen mit der Digitalisierung das Lernangebot bereichert und durch die Individualisierungsmöglichkeiten den einzelnen Schülern gerechter würden (Lernen mit Technologie). «Gleichzeitig sind uns die unbestrittenen Vorzüge des Präsenzunterrichts wieder einmal so richtig bewusst geworden», sagt Huber.

 


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