Die Schulschliessungen der letzten Monate haben das Bildungssystem stark
gefordert. Eine grossangelegte Umfrage unter mehr als 8000 Schülern aus drei
Ländern zeigt, welche Lehren aus dem unfreiwilligen Fernunterricht zu ziehen
sind.
Schweizer Schüler sind deutlich besser durch die Corona-Krise gekommen als deutsche Kinder, NZZ, 18.6. von Erich Aschwanden
Es war wohl der grösste Schulversuch, der in den vergangenen Jahrzehnten
stattgefunden hat. Doch es handelte sich nicht um ein Experiment, sondern es
war bitterer Ernst, als Mitte März in fast allen Ländern Europas die Schulen
wegen der Corona-Pandemie schliessen mussten. Von einem Tag auf den anderen
waren Schüler und Lehrer gezwungen, sich mit Fernunterricht, digitalem Lernen
und Plattformen wie Padlet oder Moodle herumzuschlagen.
Innert weniger Wochen hat ein Virus die Schule stärker reformiert, als
worauf die Versuche der Pädagogen in den vergangenen Jahren hinauswollten. Nun
gilt es, Lehren für die Zukunft zu ziehen. Erste Hinweise, wie diese aussehen
könnten, gibt eine breit abgestützte Umfrage. Durchgeführt hat die Studie das
Institut für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie der Pädagogischen
Hochschule Zug. Im Rahmen des Schulbarometers befragten die Wissenschafter vom
24. März bis Mitte April insgesamt 8344 Schüler und Schülerinnen aus der
Schweiz, Deutschland und Österreich. An der Stichprobe beteiligten sich auch
Eltern, Schulleitungen, Lehrer sowie Mitglieder von Schulverwaltung und
Schulaufsicht.
«Die Schere öffnet sich»
Wie Studienleiter Stephan Huber erklärt, gibt es Erkenntnisse, die für
alle drei Länder gelten. So könne man davon ausgehen, dass sich die vorher
bestehenden Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern durch die
Corona-Krise noch verstärkt hätten. «Krisen machen diese deutlicher sichtbar.
Und über die Zeit werden Unterschiede grösser. Die Schere zwischen starken und
lernschwachen Schülern öffnet sich weiter, wenn es zu keiner Kompensation
kommt», sagt Huber. Die Benachteiligung treffe insbesondere Kinder in familiär
ohnehin belasteten Situationen.
Neben dem familiären Umfeld hat auch die technische Ausstattung, die zu
Hause verfügbar ist, einen grossen Einfluss. Wichtig ist auch, wie stark Eltern
die Kinder bei den Aufgaben unterstützen können. Vor allem aber seien die
verschiedenen Lernstrukturen der Schüler entscheidend. «Wer schon vor der
Schulschliessung selbständiges Lernen gewohnt war und seinen Tagesablauf gut
strukturiert, ist problemlos durch die Zeit mit Fernunterricht und die
zögerliche Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts gekommen», stellt der
Bildungsexperte fest.
Über alle drei Länder hinweg zeigte sich rund ein Drittel der
Schülerinnen und Schüler als sehr aktiv. Teilweise haben diese Kinder nach
ihrer eigenen Einschätzung während der Schulschliessung sogar mehr gelernt als
vorher, weil sie durch das Lernen daheim ihre Zeit besser einteilen und nutzen
konnten.
Abgehängte Schüler haben mehr gezockt
Auf der anderen Seite zeigt sich, dass rund 20 Prozent der befragten
Schüler praktisch nichts gelernt haben. «Diese Schüler zeigen sich sehr passiv,
sie lernen wenig. Sie haben auch weniger im Haushalt geholfen und weniger
gelesen. Das Einzige, was sie deutlich mehr gemacht haben als die andere
Gruppe, das ist Zocken», so Huber.
Er spricht in diesem Zusammenhang von Schülern, «die abgehängt sind und
selber abhängen». Um diese Jugendlichen müssten sich die Lehrer mithilfe guter
Lehr- und Lernformen und guter direkter Lernbegleitung jetzt besonders kümmern.
«Es geht nicht nur darum, Schulstoff nachzuholen. Wichtig ist auch, dass diese
Kinder emotional und sozial von den Schulen unterstützt werden», betont Huber.
Neben der Unterstützung durch die Eltern und dem Organisationsgrad der
Schülerinnen und Schüler ist laut dem Schulbarometer die Rolle der Lehrpersonen
ausschlaggebend. Entscheidend sei nicht, wie viele Hausaufgaben von
Lehrpersonen verteilt würden oder auf welche Weise dies geschehe. Wichtig ist
vielmehr, dass sie zeitnah kontrolliert und korrigiert werden und ausführliche
Rückmeldungen erfolgen. Der Lernerfolg wird auch dadurch beeinflusst, ob es den
Lehrerinnen und Lehrern gelungen ist, über Online-Plattformen live mit den
Kindern in Kontakt zu sein. «Schüler benötigen den persönlichen Austausch mit
der Lehrperson und mit den Mitschülern», so Huber.
Deutschland hinkt hinterher
Beim Einsatz dieser digitalen Tools zeigen sich grosse Unterschiede
zwischen den drei untersuchten Ländern. Probleme mit dem Einsatz dieser
Instrumente zeigen sich vor allem in Deutschland. Wie Huber ausführt, hat sich
bewährt, dass die Schweiz, aber auch Österreich im Umgang mit den verschiedenen
Online-Tools pragmatisch waren. Hier waren die bürokratischen Hürden viel
niedriger.
Zudem haben viele Schulen in der Schweiz und in Österreich bereits
digitale Lösungen vor der Krise etabliert. «Dagegen haben viele deutsche
Bundesländer aus Datenschutz- und anderen Gründen nur sehr ausgewählte
Technologien zugelassen», sagt der Bildungsexperte. Zum Teil waren diese
ausgewählten Tools zu Beginn der Krise noch gar nicht einsatzfähig, wie etwa
Logineo in Nordrhein-Westfalen.
Der krasseste Unterschied zwischen den drei Ländern liegt bei der
Digitalisierung. «Hier hinkt Deutschland hinter der Schweiz, aber auch hinter
Österreich einfach hinterher», stellt Huber fest, der selber aus Deutschland
stammt. Während in der Schweiz 81 Prozent der Befragten Online-Plattformen
nutzten, waren es in Deutschland bloss 43 Prozent. Die Schüleraktivität lag in Deutschland
bei 36 Prozent, in der Schweiz bei 57 Prozent.
Während in unserem nördlichen Nachbarland nach eigener Auskunft nur 37
Prozent der Lehrpersonen die Hausaufgaben kontrollierten, waren es in der
Schweiz 63 Prozent. «Es kommt bei der Digitalisierung auf die
Ressourcenausstattung, auf pädagogisch sinnvolle und auf die Schule abgestimmte
Konzepte und natürlich auf die Motivation, Kompetenz und Erfahrung der
Lehrpersonen an», bilanziert Huber.
Das hohe Engagement der Lehrerinnen und Lehrer hat Folgen. So fühlen
sich die Lehrpersonen in der Schweiz während der Ausnahmesituation der
vergangenen Wochen am stärksten belastet. Dies könnte laut Huber damit
zusammenhängen, dass die Qualitätsansprüche in der Schweiz besonders hoch sind.
Weitere Erkenntnisse erwartet die PH Zug von der zweiten Welle der Befragung,
die gegenwärtig läuft.
Situation muss beruhigt werden
Erste Schlüsse kann man laut Stephan Huber jedoch bereits jetzt aus der
vorliegenden Zwischenbilanz ziehen: «Nach den turbulenten letzten Wochen mit
der Schulschliessung und -wiedereröffnung muss die Situation wieder beruhigt
werden. Es gilt, Mindest- und Regelstandards zu erarbeiten und umzusetzen, vor
allem auf Kantons- und Schulebene, an die sich Lehrer halten und an denen sie
sich orientieren können.» Ziel sollte es sein, dass rund 80 Prozent des
Unterrichts mit den von allen Beteiligten definierten Regeln funktionieren
könnten. Daneben sollte mittel- und längerfristig jedes Schulhaus eine eigene
Zwischenbilanz ziehen und aus den Erfahrungen – besonders denen aktiver und
kreativer Lehrpersonen – lernen.
Aus Sicht der Forscher von der PH Zug besteht nun die einmalige Chance,
das Blended Learning, also die didaktisch sinnvolle Verknüpfung von
traditionellen Präsenzveranstaltungen und modernen Formen des E-Learning, in
der Praxis zu verankern und zu verbreiten. Wichtig sei, dass die
Verantwortlichen in Kantonen und Gemeinden abklärten, welche Ressourcen für
diese Lernformen vorhanden seien, und gestützt auf die Erfahrungsauswertungen
eine langfristige Strategie entwickelten.
Man müsse diese Erfahrungen nutzen, damit mit der Digitalisierung die
Schule zum einen gesellschaftlichen Entwicklungen gerecht werde (Lernen über
Technologie) und zum anderen mit der Digitalisierung das Lernangebot bereichert
und durch die Individualisierungsmöglichkeiten den einzelnen Schülern gerechter
würden (Lernen mit Technologie). «Gleichzeitig sind uns die unbestrittenen
Vorzüge des Präsenzunterrichts wieder einmal so richtig bewusst geworden», sagt
Huber.
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