Die Covid-19-Pandemie und Schulschließungen führen seit März 2020 notgedrungen zu Fernunterricht und dem verstärkten Einsatz digitaler Techniken. Dass IT-Verbände diese Entwicklung freudig begrüßen und fordern, den Einsatz von IT in Schulen zu verstetigen, war zu erwarten. Erstaunlich ist, dass auch Lehrerverbände für Fernunterricht und digitales Beschulen plädieren. Ist allen Beteiligten klar, was das bedeutet?
Im Mai 2020 hat die Gesellschaft für Informatik gemeinsam mit IT- und Wirtschaftsvertretern und Lehrerverbänden die „Offensive Digitale Schultransformation“ (#OdigS) gestartet. Dieser Beitrag zur „digitalen Bildungspolitik“ verkürzt schulische Bildung konsequent auf technische Aspekte (siehe Kasten). Das Ziel ist die digital gesteuerte Schule. Bei der Transformation nach den Parametern der IT-Wirtschaft und Datenökonomie gehe es nicht um eine „Eins-zu-Eins-Übertragung des Analogen ins Digitale“, Lernstrukturen und -prozesse müssten vielmehr neu gedacht und IT-konform weiterentwickelt werden. Das bedeute konkret:
• IT- und Lehrerverbände fordern den Aufbau einer Infrastruktur für Fernunterricht und Homeschooling über die Covid-19-Zeit hinaus. Deutsche Schulen sind aus gutem Grund Präsenzschulen mit Präsenzunterricht. Fernunterricht ist für Kinder und Jugendliche nicht geeignet und sollte der Erwachsenenbildung und/oder Ausnahmesituationen (Krankheit, Pandemien) vorbehalten bleiben. Derart weitreichende strukturelle und methodischen Änderungen müssen fachwissenschaftlich begründet und demokratisch mit allen Beteiligten diskutiert werden, um fachlich und politisch legitimiert zu sein, bevor solche weitreichenden und teuren technischen Infrastrukturen aufgebaut werden, deren pädagogischer Nutzen nach wie vor nicht belegt ist.
• IT- und Lehrerverbände fordern die Ausrichtung der Lehrinhalte und Lehrmethoden auf die zukünftige Arbeitswelt. Ziel schulischer Bildung und Erziehung ist aber Erziehung und die Entwicklung zur mündigen und verantwortlichen Persönlichkeit an relevanten Gegenständen von Kultur und Geschichte. Dazu gehören fachlich gebundenes Können und Wissen verbunden mit einem vertieften Verstehen dessen, was gelernt wird, um so Kritikfähigkeit und soziale Verantwortung zu bilden. Anpassung an und Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt ist dagegen in keinem Schulgesetz verankert.
• Digitaltechnik ist Automatisierungstechnik. Das Ziel ist sowohl der ITgesteuerte Unterricht wie die datengestützte Schulentwicklung. Dazu müssen einerseits komplexe Lernprozesse in digital aufbereitete und kontrollierbare Häppchen zerstückelt werden, die ein „programmiertes Lernen“ im schlechten Sinne des Behaviorismus ermöglichen. Dazu werden zudem möglichst viele Schüler- und Lehrerdaten erhoben und ausgewertet. Hier kommen somit mehrere Entwicklungen zusammen:
◦ Die Kompetenzorientierung (KO) mit ihren kleinteiligen Kompetenzstufen und -rastern und der inhaltlichen Entleerung ist die Voraussetzung der Zurichtung von Fachinhalten auf abprüfbare Informationseinheiten, die somit ihren bildenden Sinn verlieren.
◦ Damit ist das kompetenzorientierte, feedbackgesteuerte digitale Lernen die Umsetzung der behavioristischen Idee, menschliche Lernprozesse „programmiert“ steuern zu können. Diese bildungs- und freiheitswidrige Fremdsteuerung wird aber offenbar so wirksam von den bunten, vermeintlich „interaktiven“ Programmoberflächen kaschiert, dass sich Lehrerverbände davon täuschen lassen.
◦ Die Digitaltechnik ist die technische Infrastruktur und erlaubt das kleinteilige Vermessen aller Lernleistung per Rückkanal und Learning Anaytics. Das ist die Gewöhnung und Zurichtung der Lernenden an IT-Systeme und Strukturen.
◦ Die datengestützte Schulentwicklung ist das zahlenfixierte Modell, die empirische Bildungsforschung die ebenso zahlengläubige Theorie dahinter. Neben die digital organisierte Gesellschaft (MartinJung in der SZ) tritt so das digital gesteuerte Beschulen und Testen. Pädagogik wird auf dem Altar der Zahlen und der vermeintlichen Berechenbarkeit von Lernprozessen geopfert.
• Das gesamte Lernen wird protokolliert und gespeichert. Es gibt kein Vergessen und keine Privatsphäre in Klassenräumen und Kinderzimmern mehr, weil alles, was an Rechnern gemacht wird, digital erfasst und ausgewertet wird. Damit ist kein Vertrauen mehr möglich zwischen Lehrenden und Lernenden. Vertrauen beruht darauf, dass Menschen etwas nur miteinander besprechen oder vereinbaren.
• Vertrauen ist die elementare Grundlage für die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden. Vertrauen als Basis pädagogischer Arbeit wird mit diesen Handlungsempfehlungen ersetzt durch vollständige Leistungs- und Lernprotokolle. Das ist keine Pädagogik, sondern die Zurichtung von Menschen am Bildschirm, das Benthamsche Panoptikum in digital.
Wer statt
der Optimierung technischer Systeme den Menschen und dessen individuelle
Entwicklung als autonome Persönlichkeit im Blick hat, wird für den Einsatz von
IT anderes fordern. Statt Daten für Nutzerprofile zu sammeln, werden Daten
allenfalls lokal gespeichert (Edge Computing) und nach Gebrauch gelöscht. Persönlichkeits-
und Leistungsprofile werden weder erstellt noch vermarktet. Technisch wird das
mit offenen Betriebssystemen wie Linux und Open Source-Software im Intranet
realisiert, mit lokalen Servern oder eigenen Servern beim Provider. Stichworte
sind Datensparsamkeit, Dezentralisierung und Datenhoheit bei den Nutzern. Für
die Kommunikation nutzt man verschlüsselte Messenger wie Signal oder Threema,
die keine Meta-Daten aufzeichnen, für das Surfen Browser, die keine
Verlaufsdaten speichern oder Tor-Browser (The Onion Router), die die eigene
Adresse anonymisieren.
Dadurch
werden Rechner und Software wieder zu dem, was sie sein sollen: Werkzeuge der
beruflichen wie privaten Kommunikation und Unterhaltung, aber auch Medien im
Unterricht. Dort z.B. Technik zur aktiven Medienproduktion, ohne erzwungene
Datenprostitution. Technisch ist das alles machbar und in der Praxis bewährt.
In dieser Form kann IT auch im Unterricht ab der Sekundarstufe pädagogisch und
didaktisch sinnvoll eingesetzt werden. Man muss „nur“ umdenken und an die
Stelle der Anforderungen der Datenwirtschaft die Bedürfnisse der lernenden
Menschen setzen und die Medien den Menschen und der Sache gemäß einsetzen statt
beides an IT-Systeme anzupassen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen