Der Basel Volksschulleiter Dieter Baur wird im Sommer pensioniert - ein Gespräch über Lehrer, (schwierige) Schüler und Marathonläufe.
Sie werden im Sommer pensioniert. Sie haben sich die letzten Monate Ihres Erwerbslebens sicher auch etwas anders vorgestellt, nehmen wir an. Hätten Sie nicht lieber etwas ausplempern lassen als Feuerwehrmann zu spielen in der Coronakrise?
Dieter Baur: Nein, überhaupt nicht. Zwischen letztem Sommer und Weihnachten hat bei mir im Büro immer wieder jemand eine Bemerkung gemacht im Sinn von: «Das ist jetzt das letzte Mal,dass du das machst.»Und ab Februar habe ich jetzt alles zum ersten Mal gemacht. Das Risiko der Lame Duck war weg. Wir mussten laufend entscheiden. Insofern war für mich persönlich Corona ein Glücksfall, wenn gleich ich an Corona natürlich an sich überhaupt nichts Gutes finde. Aber die Intensität war hoch. Ich bin mir beiden Entscheiden vorgekommen wie an der Herbstmesse, wo man mit dem Hammer auf die aufploppenden Köpfe haut. Man kommt überhaupt nicht nach.
Was war das für ein Gefühl, die Schulen zu schliessen?
Ganz komisch. Noch drei Tage davor habe ich gesagt: Die Schulen werden doch nie geschlossen. Ich war zwei Tage in Davos, als es hiess:«Du musst nach Hause kommen, wir schliessen die Schulen.» Da habe ich mir schon gedacht. «Geht’s eigentlich noch?»
Sie sahen das demnach kritisch?
Vor allem völlig überrascht. Der Entscheid war zweifellos richtig. Wir haben dann im darauffolgenden Prozess immer die Haltung gehabt, dass wir uns an die Vorgaben des Bundes halten, die Vorgaben aber nicht verschärfen, und das war gut so.
Wird die Coronazeit die Schule nachhaltig beeinflussen? Aus der Berufswelt gibt es Signale, wonach das Homeoffice sehr gut funktioniert hat.
Einzelne Elemente werden wir beibehalten, etwa, dass man sich schnell zu einer Online-Sitzung trifft, um etwas zubesprechen. Aber ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist, den Fernunterricht ins Klassenzimmer zu holen. Das wäre falsch. Schule geben ist etwas Physisches, das hat mit Menschen zu tun. Und: Die Schülerinnen und Schüler profitieren davon, zusammen zu sein.
Vor knapp sechs Jahren haben Sie den Job als Volksschulleiter angefangen. Sie übernahmen ein System, das sich am Ende eines Umbruchs befand. Insbesondere die Integrative Schule, wonach alle Kinder in die gleiche Schule gehen sollen, gibt seither zu Kritik Anlass.
Ich habe ziemlich bald klargestellt, dass es sich bei der Integrativen Schule nicht um eine inklusive Schule handelt. Die inklusive Schule würde bedeuten, dass alle Kinder in die Regelschule gehen. Wir hatten ja immer separative Angebote; und in den Jahren, in denen ich hier gewesen bin, hatte ich das Gefühl, dass wir auf einem guten Weg sind.
Die Lehrer beklagen sich weniger über die Behinderten als über diejenigen, die den Unterricht stören.
Ja, es ist weitgehend akzeptiert, dass die geistig und körperlich Beeinträchtigten in Integrationsklassen integriert werden – natürlich mit der entsprechenden Unterstützung. Das Problem sind die Verhaltensauffälligen. Das ist ja an sich keine Diagnose. Es gibt Kindergarten- und Primarschüler, die nur eins-zu-eins unterrichtet werden können. Es braucht Weiterentwicklungen, weil es immer mehr Kinder gibt, die spezielle Unterstützung nötig haben.
Viele Lehrer fordern eine Separation der Verhaltensauffälligen und erinnern sich gerne an die sogenannten Kleinklassen, die es bis vor zirka zehn Jahren gab.
Als diese aufgelöst wurden, habe ich dem damaligen Rektor der Kleinklassen weiszumachen versucht, dass zwei meiner Schüler in die Kleinklasse müssten. Er hat widersprochen und gesagt: Wenn ich diese zwei nehme, dann schickst du mir demnächst zwei neue Verhaltensauffällige, und dann wieder zwei. Ich bin heute der Meinung, dass wir einen rechten Teil der sogenannt Verhaltensauffälligen integrieren sollen und mit der Art, wie wir unterrichten, einiges auffangen können – aber das hören die Lehrpersonen nicht immer gerne. Natürlich reicht das nicht immer.
Aber viele Lehrpersonen beklagen sich. Früher sei das Unterrichten einfacher gewesen. Weniger Eltern, die sich einmischten, weniger Administratives.
Ich bin nicht Anhänger der «Früherwar-alles-besser»-Idee. Es stimmt, dass die Lehrer weniger kontrolliert wurden. Das brachte uns aber auch auf dumme Gedanken. Ich hatte mal in jungen Jahren die Idee, dass die Schüler im Rahmen einer Projektarbeit meinen Mitsubishi lackieren könnten. Dafür mussten die Schüler der damaligen Diplommittelschule aber selber mit dem Zug an den Lagerort im Muotatal reisen. Ohne Handy notabene. Das war schon damals unverantwortlich und wäre heute undenkbar! Dennoch ist es oft so, dass wir den Kindern zu wenig Vertrauen schenken. Die sind nämlich schon sehr früh entscheidungsfähig.
Was war der Grund, dass Sie vor gut fünf Jahren Ihren Lehrerjob an den Nagel hängten und in die Verwaltung wechselten?
Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, mich zu bewerben. Mein Vorgänger sagte mir, dass ich doch auch ein Kandidat sei. Als ich ihm entgegnete, ich sei fast 60 Jahre und somit zu alt, meinte er: Das ist insofern ein Vorteil, weil wir bald einen Erziehungsdirektoren-Wechsel haben. Wenn es dann mit dem neuen Vorsteher nicht so gut passt, dann wäre ich immerhin bald weg. Dann bin ich zum Schluss gekommen, dass ichs probieren will. Und wenns dann nicht klappen sollte, dann würde ich sehr sanft fallen, da ich immer sehr gerne unterrichtete und als Schulleiter tätig war.
Das bringt den Vorteil mit sich, dass man beim Vorstellungsgespräch nicht nervös ist. Nein, aber schlecht! Dementsprechend unvorbereitet war ich. Das zweite Vorstellungsgespräch war eine Katastrophe. Ich wurde gefragt, wo man einsparen soll. Da habe ich nur mit den Achselngezuckt–ich hatte keine Ahnung von den Finanzen. Jetzt wüsste ich natürlich besser, wo man noch ein bisschen drehen kann, wenn man denn unbedingt müsste.
Wo denn?
Das sage ich doch nicht (lacht).
Und wo müsste man mehr ausgeben?
Im integrativen Bereich braucht es klar mehr. Wir müssen das Unterrichtslektionendach vor allem im Kindergartenbereich anheben.
Ein Problem sind aber auch die Lehrer, die einfach seit Jahrzehnten die gleiche Kassette abspielen und dann mit der Zeit abgelöscht sind. Wie haben Sie das gemacht? Sie haben Sport und Mathe unterrichtet, da kann man leicht in einen Trott verfallen.
Das passiert, wenn man einfach sein Programm durchzieht. Ich muss aufpassen, dass ich auf die Fortschritte einer Klasse reagiere. Ich konnte beispielsweise nie sagen, was ich in zwei Wochen am Donnerstagmorgen im Matheunterricht mache. Der Unterricht war immer wieder ein bisschen anders, schliesslich besteht die Welt aus Mathematik: Einmal bin ich an einem Wintertag nach draussen, wir haben auf einer Wiese ein Dreieck in den Schnee gestapft und dieses berechnet. Natürlich gabs immer wieder Dinge, die mich gelangweilt haben, aber das kommt eher selten vor. Sie werden ja auch nicht jedes Interview spannend finden.
Basel-Stadt schneidet schlecht ab in den interkantonalen Tests. Warum? Es gibt verschiedene Gründe. Wir sind als Stadtgebiet sehr heterogen. Bereits als ich die Turnlehrerausbildung machte, hiess es: Die grösste Challenge ist es, in Basel oder Zürich zu unterrichten. Womöglich nehmen wir auch die Prüfungssituationen etwas weniger ernst als die anderen. In einigen Gemeinden arbeitet man daraufhin und will besser sein als die Nachbargemeinde. Das fehlt uns. Zudem wird der Fördergedanke zum Glück sehr hoch gehalten in Basel-Stadt, da kann der Leistungsgedanke manchmal etwas auf der Strecke bleiben.
Ist man in Basel-Stadt zu lieb zueinander?
Möglicherweise hat bei uns der Fördergedanke etwas überwogen. Das hat sich ja auch in den Noten niedergeschlagen. Als bei uns die Schulumstellung kam und die ehemalige Orientierungsschule zu Gunsten der heutigen Leistungszüge abgeschafft wurde, gab es anfangs eine Klasse, die hatte im Deutschunterricht einen Schnitt von 5,7, was ja absurd ist. Das System brauchte etwas Zeit, bis es justiert war. Und je länger, je mehr hält auch hier der Leistungsgedanke Einzug in den Schulzimmern. Wir wollen ja auch, dass so viele wie möglich im richtigen Zug sind.
Gleichzeitig leiden viele unter der Tatsache, dass wir immer mehr zu einer Leistungsgesellschaft werden.
Es braucht beides. Räume ohne Leistungsgedanken, aber es muss eben auch Leistung gefordertwerden, sonst erleben die Schüler irgendwann einen Kulturschock, wenn sie in eine weiterführende Schule oder in die Lehre kommen. Dieses Abwägen ist heute die grosse Herausforderung für die Lehrer.
Was erwartet das Basler Schulsystem in den nächsten Jahren?
Die Integrative Schule wird meinen Nachfolger sicher weiter beschäftigen. Aber ich bin der Meinung, dass Zusammenarbeit der einzelnen Dienste etwas ist, was wir in meiner fünfeinhalbjährigen Zeit doch ziemlich in den Griff bekommen haben. Der Schulpsychologische Dienst, die Schulsozialarbeit, die Kriseninterventionsstelle und die Spezialangebote haben Schnittstellen, an denen hervorragend zusammengearbeitet wird.
Sie machen gerne Langstreckenläufe. Jetzt als Rentner könnten Sie Ihre Marathon-Karriere so richtig lancieren.
Nein,das machen meine Knochen gar nicht mit.Ich habe mich zwar im November für den New-York-Marathon angemeldet, aber der wird wahrscheinlich abgesagt. Das wäre jetzt wahrscheinlich der letzte Strassenmarathon gewesen, aber das habe ich schon früher gesagt. Das Gestell wird halt schon älter und macht das nicht mit. Lustig ist das nicht. Aber so lange ich rennen, Velo fahren und laufen kann, ist schon mal vieles gut in meinem Leben.
Das Altwerden per se macht Ihnen nichts?
Ich halte mich an meine Mutter. Die ist jetzt 90, und ich habe beschlossen, dass ich das auch werde.
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