Vom
Bildschirm blicken Alexandra Dünner 17 Kindergesichter entgegen. Ihre Klasse
hat sich im virtuellen Schulzimmer versammelt. Hinter den Schülerinnen und
Schülern sind Bücherregale, Küchenschränke, Plüschtiere und Fotos zu sehen.
«Guten Morgen», beginnt die Lehrerin die virtuelle Schulstunde. «Guten Morgen»,
hallt ein Chor von Kinderstimmen aus dem Lautsprecher zurück.
Auf Dauer wird der Fernunterricht langweilig, NZZ, 9.4. von Nils Pfändler und Linda Koponen
Dünner
und ihre Co-Lehrerin Monika O’Doherty spielen für ein Geburtstagskind einen
kurzen Zeichentrickfilm ab. Die Wiedergabe will nicht ganz klappen, es ruckelt
und das «Happy Birthday» ist nur bruchstückhaft zu hören. Trotzdem strahlt das
Mädchen bis über beide Ohren. «Ich weiss nicht, wie viel ihr gesehen habt»,
sagt Dünner und lacht. «Wir können es später ja noch mit Singen probieren.»
Kurz darauf erklärt sie der Klasse die nächsten Übungen: Schweizer Geografie
und Grammatik stehen auf dem Stundenplan. Die Kantone und ihre Hauptorte werden
mit Online-Spielen geübt, Verben auf Aufgabenblättern konjugiert. «Setzt das
Wort ‹schwimmen› in alle Zeitformen», sagt die Lehrerin und schiebt nach:
«Futur heisst Zukunft.»
Seit
drei Wochen sind die Schulen landesweit geschlossen. Innert kürzester Zeit
mussten die Lehrerinnen und Lehrer ihren Unterricht auf Home-Schooling
umstellen. An der Primarschule Juch in Zumikon können die Kinder an einem Tag
pro Woche ins Klassenzimmer kommen, um Materialien abzuholen und sich kurz mit
den Lehrern auszutauschen. Doch immer weniger erscheinen am sogenannten
Kontakttag in der Schule. Vielen Eltern ist das Ansteckungsrisiko zu hoch.
Dünner und O’Doherty haben deshalb einen täglichen Videochat eingeführt.
Aufmerksam folgen die Kinder vierzig Minuten lang den Anweisungen ihrer
Lehrerinnen. Die Mikrofone aller Schüler sind stumm geschaltet. Nur wer
aufstreckt und an die Reihe kommt, darf sprechen. Es ist stiller als in jedem
Klassenzimmer.
Soziale
Kontakte motivieren
Die
Kinder haben sich erstaunlich schnell an die neuen Unterrichtsformen gewöhnt.
Die Lehrerinnen und die Eltern bestätigen den Eindruck. Matthias Obrist, der
Leiter des Schulpsychologischen Dienstes der Stadt Zürich, sagt: «Kinder sind
sehr anpassungsfähig.» Wie sie auf die neue Situation reagierten, sei dennoch
sehr individuell und vom Entwicklungsstand und von der Persönlichkeit abhängig.
Wer etwa über weniger Selbstdisziplin verfüge, habe es schwerer. Andere könnten
von der Umgebung zu Hause sogar profitieren. Weniger Ablenkung, ein klarer
Fokus und die Möglichkeit, sich eine Erklärung noch einmal anzuhören, wenn man
sie nicht verstanden hat – der digitale Unterricht hat laut Obrist auch
Vorteile.
Eine
Herausforderung sieht der Psychologe derweil in der Aufrechterhaltung der
sozialen Kontakte. «Man darf nicht vergessen, dass Kinder vor allem zur Schule
gehen, um andere Kinder zu treffen – daraus schöpfen sie die Motivation zum
Lernen.» Interaktionen zwischen den Kindern und der Lehrerin, aber auch unter
den Schülern seien daher wichtig – sei es nur auf dem digitalen Wege.
Für
den 11-jährigen Finn sei das tägliche Klassentreffen am Bildschirm eine
willkommene Abwechslung, sagt seine Mutter Nicole Lwin. «Das virtuelle
Zusammenkommen ist ihm sehr wichtig.» Der Fernunterricht habe die
Selbständigkeit ihres Sohnes bereits jetzt merklich gefördert. Weil nicht nur
der Schulweg, sondern auch die Hip-Hop-Stunden und die Pfadi ausfielen, fehle
es ihm aber an Bewegung.
Vor
ähnlichen Problemen steht auch die 12-jährige Bibiane. «Der soziale Austausch
fehlt», sagt ihr Vater Charles Falck. In der Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu
sein, zehre nun mehr an den Nerven als noch in der ersten Woche nach der
Schulschliessung. «Da sind Kinder nicht anders als Erwachsene», sagt Falck, der
selber im Home-Office arbeitet.
Schwierig
ist die Situation insbesondere für Kinder aus belasteten Familien. Psychische
Erkrankungen der Eltern, Suchtproblematiken oder häusliche Gewalt könnten sich
in der Stresssituation zuspitzen, sagt der Psychologe Obrist. «Kindern, für
welche die Schule ein verlässlicher Ort mit klaren Regeln und Abläufen ist,
fehlt nun dieser ‹safe space›.» Die Anfragen beim Schulpsychologischen Dienst
hätten derweil abgenommen – viele Familien seien vollauf damit beschäftigt,
sich selbst zu organisieren. «Es ist zu ruhig.»
Um
zu verhindern, dass Familien komplett vom Radar verschwinden, seien die
Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die Schulsozialarbeiter gefragt. «Wichtig ist
es, den Kontakt zu gefährdeten Familien nicht zu verlieren.» Die
Schulpsychologen rufen daher vermehrt einzelne Familien an und bieten Unterstützung
an. Niederschwellige Hilfsangebote findet man auch im Internet. So hat etwa das
Amt für Jugend und Berufsberatung sein Online-Magazin mit Tipps zum
Familienalltag in Zeiten der Corona-Epidemie ausgebaut. Zudem bieten die
kantonalen Kinder- und Jugendhilfezentren kostenlose Online- und
Telefonberatungen an.
Schwieriger
Start
Die
Mutter des 11-jährigen Liam, Chantal Rathert, hilft nicht nur ihrem Sohn beim
Fernunterricht, sondern auch dem ein Jahr älteren Ahmed. Dessen Eltern haben
aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse Mühe, ihn zu unterstützen. In den ersten
Tagen habe es viel Zeit gebraucht, um sich in der Situation zurechtzufinden,
Sachen zu ordnen und Abläufe zu organisieren, sagt Rathert. «Wir mussten alle
unsere Rolle finden. Aber jetzt haben wir es im Griff.» Sie schätzt die
Unterstützung der Schule, besonders die virtuellen Schulstunden seien
hilfreich. «Es tut den Kindern gut, wenn sie sich wenigstens auf dem Bildschirm
sehen.»
Auch
für sie als Lehrerin mache die virtuelle Schulstunde vieles einfacher, sagt
Alexandra Dünner. «Es ist wichtig, dass wir die Kinder sehen und sie uns direkt
Fragen stellen können.» Trotzdem seien die vierzigminütigen Lektionen nicht mit
Schulstunden im Klassenzimmer vergleichbar. Kooperatives Lernen und gemeinsame
Arbeitssequenzen sind schwierig umzusetzen. Vor allem fällt aber der spontane
Austausch im Klassenzimmer weg.
Der
Start sei zudem alles andere als einfach gewesen, sagt Dünner. In der ersten
Woche habe sie mehr Zeit mit IT-Support als mit Unterrichtsvorbereitungen
verbracht. Nach diesen Anfangsschwierigkeiten funktioniere der virtuelle
Unterricht nun aber ohne grössere Probleme. Mittlerweile schaffen es fast alle
Kinder, sich selbständig einzuloggen. Die grosse Frage sei, wie lange der
Ausnahmezustand noch anhalte. «Für eine gewisse Zeit ist das okay», sagt
Dünner. «Auf die Dauer macht der Fernunterricht die Schule aber deutlich
langweiliger.»
Ähnliches
sagt der Schulpsychologe Matthias Obrist. Am Anfang von Home-Schooling sei
alles noch neu und spannend. Mit der Zeit werde es aber immer schwieriger, die
Konzentration aufrechtzuerhalten. Die Krise bezeichnet er als ein «soziales
Experiment, das Ungewissheiten birgt, aber auch Chancen bietet». Beim digitalen
Unterricht etwa hätten sowohl die Schulen als auch die Familien einen riesigen
Sprung vorwärts gemacht. Auch Obrist verweist auf den Zeitfaktor: «Die
Lernstrategien verschwinden nicht in zwei oder drei Wochen, sollte der
Schulstopp jedoch bis zum Sommer anhalten, wird man entsprechende Massnahmen
treffen müssen», ist er überzeugt.
Im
Kanton Zürich stehen nun aber erst einmal die Frühlingsferien an. Werden sie
den gerade erst erreichten Fernunterrichtsrhythmus wieder über den Haufen
werfen? Nicht zwangsläufig, findet Obrist. Für gewisse Eltern sei die Pause gar
eine Entlastung, und auch die Lehrpersonen hätten eine Verschnaufpause
verdient. «Sie bietet auch eine Möglichkeit, zu bilanzieren, was bisher gut
geklappt hat und was man verbessern könnte.»
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