11. April 2020

"Wir mussten alle unsere Rolle finden"


Vom Bildschirm blicken Alexandra Dünner 17 Kindergesichter entgegen. Ihre Klasse hat sich im virtuellen Schulzimmer versammelt. Hinter den Schülerinnen und Schülern sind Bücherregale, Küchenschränke, Plüschtiere und Fotos zu sehen. «Guten Morgen», beginnt die Lehrerin die virtuelle Schulstunde. «Guten Morgen», hallt ein Chor von Kinderstimmen aus dem Lautsprecher zurück.
Auf Dauer wird der Fernunterricht langweilig, NZZ, 9.4. von Nils Pfändler und Linda Koponen

Dünner und ihre Co-Lehrerin Monika O’Doherty spielen für ein Geburtstagskind einen kurzen Zeichentrickfilm ab. Die Wiedergabe will nicht ganz klappen, es ruckelt und das «Happy Birthday» ist nur bruchstückhaft zu hören. Trotzdem strahlt das Mädchen bis über beide Ohren. «Ich weiss nicht, wie viel ihr gesehen habt», sagt Dünner und lacht. «Wir können es später ja noch mit Singen probieren.» Kurz darauf erklärt sie der Klasse die nächsten Übungen: Schweizer Geografie und Grammatik stehen auf dem Stundenplan. Die Kantone und ihre Hauptorte werden mit Online-Spielen geübt, Verben auf Aufgabenblättern konjugiert. «Setzt das Wort ‹schwimmen› in alle Zeitformen», sagt die Lehrerin und schiebt nach: «Futur heisst Zukunft.»

Seit drei Wochen sind die Schulen landesweit geschlossen. Innert kürzester Zeit mussten die Lehrerinnen und Lehrer ihren Unterricht auf Home-Schooling umstellen. An der Primarschule Juch in Zumikon können die Kinder an einem Tag pro Woche ins Klassenzimmer kommen, um Materialien abzuholen und sich kurz mit den Lehrern auszutauschen. Doch immer weniger erscheinen am sogenannten Kontakttag in der Schule. Vielen Eltern ist das Ansteckungsrisiko zu hoch. Dünner und O’Doherty haben deshalb einen täglichen Videochat eingeführt. Aufmerksam folgen die Kinder vierzig Minuten lang den Anweisungen ihrer Lehrerinnen. Die Mikrofone aller Schüler sind stumm geschaltet. Nur wer aufstreckt und an die Reihe kommt, darf sprechen. Es ist stiller als in jedem Klassenzimmer.

Soziale Kontakte motivieren

Die Kinder haben sich erstaunlich schnell an die neuen Unterrichtsformen gewöhnt. Die Lehrerinnen und die Eltern bestätigen den Eindruck. Matthias Obrist, der Leiter des Schulpsychologischen Dienstes der Stadt Zürich, sagt: «Kinder sind sehr anpassungsfähig.» Wie sie auf die neue Situation reagierten, sei dennoch sehr individuell und vom Entwicklungsstand und von der Persönlichkeit abhängig. Wer etwa über weniger Selbstdisziplin verfüge, habe es schwerer. Andere könnten von der Umgebung zu Hause sogar profitieren. Weniger Ablenkung, ein klarer Fokus und die Möglichkeit, sich eine Erklärung noch einmal anzuhören, wenn man sie nicht verstanden hat – der digitale Unterricht hat laut Obrist auch Vorteile.

Eine Herausforderung sieht der Psychologe derweil in der Aufrechterhaltung der sozialen Kontakte. «Man darf nicht vergessen, dass Kinder vor allem zur Schule gehen, um andere Kinder zu treffen – daraus schöpfen sie die Motivation zum Lernen.» Interaktionen zwischen den Kindern und der Lehrerin, aber auch unter den Schülern seien daher wichtig – sei es nur auf dem digitalen Wege.

Für den 11-jährigen Finn sei das tägliche Klassentreffen am Bildschirm eine willkommene Abwechslung, sagt seine Mutter Nicole Lwin. «Das virtuelle Zusammenkommen ist ihm sehr wichtig.» Der Fernunterricht habe die Selbständigkeit ihres Sohnes bereits jetzt merklich gefördert. Weil nicht nur der Schulweg, sondern auch die Hip-Hop-Stunden und die Pfadi ausfielen, fehle es ihm aber an Bewegung.

Vor ähnlichen Problemen steht auch die 12-jährige Bibiane. «Der soziale Austausch fehlt», sagt ihr Vater Charles Falck. In der Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu sein, zehre nun mehr an den Nerven als noch in der ersten Woche nach der Schulschliessung. «Da sind Kinder nicht anders als Erwachsene», sagt Falck, der selber im Home-Office arbeitet.
Schwierig ist die Situation insbesondere für Kinder aus belasteten Familien. Psychische Erkrankungen der Eltern, Suchtproblematiken oder häusliche Gewalt könnten sich in der Stresssituation zuspitzen, sagt der Psychologe Obrist. «Kindern, für welche die Schule ein verlässlicher Ort mit klaren Regeln und Abläufen ist, fehlt nun dieser ‹safe space›.» Die Anfragen beim Schulpsychologischen Dienst hätten derweil abgenommen – viele Familien seien vollauf damit beschäftigt, sich selbst zu organisieren. «Es ist zu ruhig.»

Um zu verhindern, dass Familien komplett vom Radar verschwinden, seien die Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die Schulsozialarbeiter gefragt. «Wichtig ist es, den Kontakt zu gefährdeten Familien nicht zu verlieren.» Die Schulpsychologen rufen daher vermehrt einzelne Familien an und bieten Unterstützung an. Niederschwellige Hilfsangebote findet man auch im Internet. So hat etwa das Amt für Jugend und Berufsberatung sein Online-Magazin mit Tipps zum Familienalltag in Zeiten der Corona-Epidemie ausgebaut. Zudem bieten die kantonalen Kinder- und Jugendhilfezentren kostenlose Online- und Telefonberatungen an.

Schwieriger Start

Die Mutter des 11-jährigen Liam, Chantal Rathert, hilft nicht nur ihrem Sohn beim Fernunterricht, sondern auch dem ein Jahr älteren Ahmed. Dessen Eltern haben aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse Mühe, ihn zu unterstützen. In den ersten Tagen habe es viel Zeit gebraucht, um sich in der Situation zurechtzufinden, Sachen zu ordnen und Abläufe zu organisieren, sagt Rathert. «Wir mussten alle unsere Rolle finden. Aber jetzt haben wir es im Griff.» Sie schätzt die Unterstützung der Schule, besonders die virtuellen Schulstunden seien hilfreich. «Es tut den Kindern gut, wenn sie sich wenigstens auf dem Bildschirm sehen.»

Auch für sie als Lehrerin mache die virtuelle Schulstunde vieles einfacher, sagt Alexandra Dünner. «Es ist wichtig, dass wir die Kinder sehen und sie uns direkt Fragen stellen können.» Trotzdem seien die vierzigminütigen Lektionen nicht mit Schulstunden im Klassenzimmer vergleichbar. Kooperatives Lernen und gemeinsame Arbeitssequenzen sind schwierig umzusetzen. Vor allem fällt aber der spontane Austausch im Klassenzimmer weg. 
Der Start sei zudem alles andere als einfach gewesen, sagt Dünner. In der ersten Woche habe sie mehr Zeit mit IT-Support als mit Unterrichtsvorbereitungen verbracht. Nach diesen Anfangsschwierigkeiten funktioniere der virtuelle Unterricht nun aber ohne grössere Probleme. Mittlerweile schaffen es fast alle Kinder, sich selbständig einzuloggen. Die grosse Frage sei, wie lange der Ausnahmezustand noch anhalte. «Für eine gewisse Zeit ist das okay», sagt Dünner. «Auf die Dauer macht der Fernunterricht die Schule aber deutlich langweiliger.»

Ähnliches sagt der Schulpsychologe Matthias Obrist. Am Anfang von Home-Schooling sei alles noch neu und spannend. Mit der Zeit werde es aber immer schwieriger, die Konzentration aufrechtzuerhalten. Die Krise bezeichnet er als ein «soziales Experiment, das Ungewissheiten birgt, aber auch Chancen bietet». Beim digitalen Unterricht etwa hätten sowohl die Schulen als auch die Familien einen riesigen Sprung vorwärts gemacht. Auch Obrist verweist auf den Zeitfaktor: «Die Lernstrategien verschwinden nicht in zwei oder drei Wochen, sollte der Schulstopp jedoch bis zum Sommer anhalten, wird man entsprechende Massnahmen treffen müssen», ist er überzeugt.

Im Kanton Zürich stehen nun aber erst einmal die Frühlingsferien an. Werden sie den gerade erst erreichten Fernunterrichtsrhythmus wieder über den Haufen werfen? Nicht zwangsläufig, findet Obrist. Für gewisse Eltern sei die Pause gar eine Entlastung, und auch die Lehrpersonen hätten eine Verschnaufpause verdient. «Sie bietet auch eine Möglichkeit, zu bilanzieren, was bisher gut geklappt hat und was man verbessern könnte.»


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