11. April 2020

Rückstand von bis zu einem Jahr


Der Lockdown vergrössert die Unterschiede zwischen den Schülern. Das zeigt eine neue Studie. Die Lehrer verlangen darum mehr Hilfe, wenn die Schulen wieder öffnen.

Schulschliessung: Jeder fünfte Schüler ist gefährdet, NZZaS, 5.4. von René Donzé  

Seit drei Wochen sind die Schulen in der Schweiz geschlossen, gelernt wird zu Hause – offiziell bis nach den Frühlingsferien, wahrscheinlich aber noch länger. Nun liegt eine erste Untersuchung darüber vor, wie sich die neue Situation auf das Lernverhalten der Schüler auswirkt. «Rund ein Drittel ist sehr gut unterwegs, bei einem weiteren Drittel hält sich das zeitliche Engagement im Rahmen, bei einem Drittel hingegen wird es kritisch», sagt Stephan Huber, Leiter Forschung und Entwicklung an der Pädagogischen Hochschule Zug.

Er hat das «Schul-Barometer» lanciert; eine Umfrage bei Schülern zwischen 10 und 19 Jahren, Pädagogen und Eltern in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich. Die Auswertung der ersten rund 2500 Rückmeldungen, die der «NZZ am Sonntag» exklusiv vorliegt, zeigt: Im Mittel verbringen die Schüler derzeit knapp 18 Stunden pro Woche mit Lernen, deutlich weniger als im regulären Schulbetrieb, der im Kanton Zürich in diesem Alter 22 bis 26 Stunden (30 bis 35 Lektionen zu 45 Minuten) umfasst.«Sorgen bereitet uns, dass fast jeder fünfte Schüler neun und weniger Stunden pro Woche für die Schule arbeitet.» Dabei handle es sich vermutlich oft um Kinder mit wenig Lernfreude, Unterstützung, Platz und Ruhe zu Hause. Diese Schüler könnten gefährdet sein.
Damit bestätigt die Studie, was viele Fachleute befürchten: «Die Schere zwischen leistungsstarken und schwachen Schülern wird sich weiter öffnen», sagt etwa Andrea Lanfranchi, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik. Und er warnt: «Wir müssen vermeiden, dass Kinder aus prekären Familien­verhältnissen noch mehr zu Bildungsverlierern werden.»

Ein Problem, das auch andere Länder kennen. So hat Fabrizio Zilibotti von der Universität Yale berechnet, dass für US-Schüler ein Rückstand von bis zu einem Jahr entstehen könnte, wenn die Schulen bis Sommer zu bleiben. Denn wenn die Schüler wenig bis keine Zeit mit Lernen verbringen, können sie sogar bereits Gelerntes vergessen – ein Effekt, der bereits während der normalen Sommerferien eintritt. Mit einem langen Lockdown würde dieser noch verstärkt. Zilibotti, ehemals Professor an der Uni Zürich, vermutet, dass in der Schweiz zwar weniger Kinder ganz abgehängt werden als in den USA. Dennoch rät er, die Kinder zu prüfen und wo nötig in Kurse zu schicken, um Lücken zu schliessen.

In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von ­Dagmar Rösler: «Es wird nach der Corona-Krise eine neue Dimension in den Klassen aufgehen», sagt die Präsidentin des Lehrerverbandes Schweiz. «Diese neu entstandenen Defizite wird man nicht einfach im regulären Unterricht auffangen können. Auch nicht im bereits bestehenden Heilpädagogik-Pool. Da müssen tatsächlich neue Ressourcen gesprochen werden.» Es brauche zusätzliche Massnahmen in den Schulen. Auch Stephan Huber empfiehlt, dass Schulen diese Schüler verstärkt fördern und dass die Schulen dafür Unterstützung erhalten sollten.
Zurück zum «Schul-Barometer»: Dieses führt auch sonst zu interessanten Aussagen. So spielen etwa 10 Prozent der Schüler übermässig lange am Computer, etwa 15 Stunden pro Woche. Damit gamen sie fast doppelt so lange wie der Durchschnitt. Das Spielen mit der Familie findet dafür bei einem Viertel selten oder nie statt, bei 6 Prozent hingegen über 15 Stunden pro Woche.

Und wie gefällt den Kindern die Zeit zu Hause? Viele finden den Fernunterricht toll, 18 Prozent glauben, sie würden jetzt mehr lernen, und ein Drittel hofft sogar, dass auch später ein Teil der Schule so stattfindet. Andere äussern sich kritisch, sprechen von einer hohen Belastung. Viele wünschen sich mehr Unterstützung. Jeder Dritte hat jetzt schon das Gefühl, dass ihm die Decke auf den Kopf fällt. 43 Prozent vermissen die Schule.
Bei den Eltern wiederum überwiegt die Sorge um den Fortschritt ihrer Kinder sowie deren Belastung. Sehr oft erhalten die Lehrer gute Noten für ihren Einsatz in dieser schwierigen Zeit. «Die Wertschätzung für die Schule steigt», sagt Huber. Viele Eltern merkten erst jetzt, was die Lehrer schon unter normalen Umständen für die Kinder leisteten.

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