21. April 2020

Weniger von allem, in besserer Qualität


Die Stühle auf den Bänken, die Wandtafel ungeputzt. Übungen zu den Fällen, Erinnerungen an Termine beim Schulzahnarzt, ein Bild von Mascha Kaleko. Relikte eines Lebens vor der Pandemie. Ich packe Lehrmittel in Migros-Taschen, putze die Wandtafel, weil ich nicht weiss, was ich sonst tun soll. Ein Virus reformiert die Schule. Dabei dauert die Absenz der Normalität gerade mal drei Tage.
Gedankenarchiv des Fernunterrichts, NZZ, 21.4. von Laura Saia

Später, Woche drei des Fernunterrichts einer 1. Sekundarklasse. Ich unterrichte alternierend aus Küche und Wohnzimmer, wasche ab, falte die Wolldecken, bevor die Fragestunde zu den Fällen beginnt. Lehrer haben Vornamen. Für manche Schüler ist dies schwer zu glauben. Heute aber wissen sie, dass in unseren Wohnzimmern Aktbilder von Giacometti hängen. Ich wollte sie erst herunternehmen, ihre Plätze mit anderen tauschen, liess es dann aber bleiben.

9 Uhr. Die 17 «Daumen hoch» auf Microsoft Teams geben mir Gewissheit, dass alle wach sind. Die Daseinsfreude ist durchschnittlich, die Haare sind partiell gekämmt. Man winkt und lacht. Für eine in Wohnräume separierte Klasse verkommt die Videokonferenz zum einzigen Kollektivierungsmoment. Wir spielen «Black Stories». Ein Mann liegt tot im Wald. Die Schüler stellen Fragen zum Mordfall, deren Antwort nur Ja oder Nein sein darf. Wir beginnen mit Arbër, der Erste auf jeder Liste. Die alphabetische Ordnung nach Vornamen strukturiert meinen Tag.

Ich verweise auf die Wortschatzübung und die Aufgaben zu den Nomen. Dem erfolgreichen Schüler gelingt hier dreierlei: Lesen, Verstehen, Umsetzen. Analog zum Billy-Regal. Seitdem ich im Ikea-Stil unterrichte, übe ich mich in der Kohärenz des Verfassens von Aufträgen. Ich verbanne unnütze Wörter wie längst vergessene Kleidungsstücke beim Ausmisten.

Eine kleine Delegation von Besorgten ruft an. Ob der jetzige Stoff geprüft werde, wenn man zurück in der Schule sei. Ich denke nicht, beruhige – so gut ich kann. Paulinas Haar ist kürzer, ihr Vater hat es ihr geschnitten. Sehr schön, sage ich und mache ein Bildschirmfoto als Erinnerung. Fragmente einer historischen Zeit.

«Wo finde ich die Lösungen?», «Was ist ein Partizip II?» Ich antworte, lade zu Fragestunden ein. Dazwischen Kneten von Brotteig zur Entspannung. Urdinkel mit Oliven, Maisbrötchen. Es folgt das Hochladen von erledigten Aufgaben. Ich korrigiere, gebe Rückmeldungen, ermüde. Draussen ist nichts ausser Frühlingsluft und Dunkelheit. Ein durchschnellendes Tram der Linie 9, eine Ambulanzsirene, die bald verstummt. Der orthodoxe Jude auf dem Balkon gegenüber telefoniert gestenreich. Die jiddische Sprache bringt die Erinnerung an eine kosmopolitische Welt in die Stille meiner Wohnung, in dieses Land, in dem neben Schulen auch Grenzen geschlossen sind.

Die Tage des Fernunterrichts reproduzieren sich formlos. Der Duft einer Après-Soleil-Crème erinnert mich an die Limmat und das Meer in Italien. In seinem Tagebuch schreibt Noël, er freue sich, wenn wir uns alle bald «das Leben zurückholen». Ich antworte ihm, dass es mir auch so geht. Ist es uns denn wirklich abhandengekommen? Und die Bildung? Gibt es jetzt mehr oder weniger davon?

Wird die Schule gerade zwangsmässig sanft revolutioniert? Jenseits von Pilotprojekten und Bürokratie? Seitdem ich aus der Ferne unterrichte, gilt meine Arbeitszeit fast ausschliesslich den Schülern. Diese wiederum lernen gemäss Biorhythmus und nicht bereits um 7 Uhr 20. Das Virus hat den Unterricht vereinfacht und aufs praktisch Machbare reduziert. Gleichzeitig wird intensiver betreut, enger begleitet. Die Distanz erzeugt Nähe, man fragt auch hier, wie es einem geht, aber genauer hinhörend. Der Schüler, der alleine aus seinem Zimmer am Unterricht teilnimmt, ist verletzlicher und unsicherer.

In der Pandemie verdichtet sich der Wunsch nach Umsichtigkeit genauso wie jener nach einem Impfstoff. Aus der Abwesenheit von Noten geht kaum Orientierungslosigkeit hervor, sondern nüchternes Staunen: Die Schüler machen Fortschritte, sie sind bemüht. So schnell entlernt man nicht. Es ist nun die Beziehung, die uns Gewissheit gibt über ihren Leistungsstand, und nicht die Prüfung.
Weniger von allem, in besserer Qualität.
Könnte dies die schüchterne Renaissance der Reformpädagogik sein? Die Vorschau auf einen sanften Paradigmawechsel?

Und trotzdem: Ich möchte wieder Kaffee trinken im Lehrerzimmer, meiner Klasse ein Buch vorlesen. Man vermisst, was in der Spontaneität des Augenblicks entsteht: Humor, neue Ideen, ein schönes Gespräch. Für manche Schüler wurde keine Schule geschlossen, sondern ein Refugium. Im Unterricht aus der Ferne steht man gefährlich nahe am Graben der Ungleichheiten.

Doch bevor die Hauswarte die Glocken wieder einschalten, könnten wir feststellen, dass all dies nicht der Warteraum eines improvisierten Unterrichts ist, von dem wir nie zu träumen glaubten. Es könnte vielmehr der Prolog sein von dem, was wir danach im Kleinen und Grossen verändern könnten. Eine Denkpause also, die macht, dass der Wert von darin Neuentdecktem bewahrt wird. Das Virus ist grässlich und zeigt uns den Weg in eine neue alte Welt.

Laura Saia ist Sekundarlehrerin in Winterthur.


1 Kommentar:

  1. Liebe Kollegin
    Ich bin nicht mit dir einverstanden, wenn du die Corona-Krise als Chance für eine sanfte Schulreform siehst. Ganz im Gegenteil sehe ich viele Nachteile und Gefahren in der momentanen Situation. Überraschenderweise erlebst du die Zeit als besonders beratungsförderlich: "Distanz erzeugt Nähe". In meiner Erfahrung geht es bei den meisten direkten Kontakten zu meinen Schüler um technische Fragen. Es gibt aber Schüler, welche sich nicht getrauen, jemanden um Rat anzurufen, sie können keinen Tagesplan erstellen und auch keine Hilfe zuhause anfordern. Da schlagen die Unterschiede voll durch und als Lehrer steht man abseits und hofft, dass alles gut herauskommt.
    Dann herrscht eine übertriebene Technikgläubigkeit, obwohl die Schulpraxis wegen Corona auf die vergleichsweise trivialen Möglichkeiten des Computers reduziert wird. Und schliesslich wissen wir nicht, wie viel die Schüler wirklich lernen. Für Euphorie angesichts des Fernunterrichts besteht nun wirklich gar kein Grund.

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