21. April 2020

Kein Zeugnis für Zürcher Schüler


Wegen der Corona-Krise stehen die Schulen leer. Seit fünf Wochen lernen die Schweizer Schülerinnen und Schüler zu Hause und dürfen voraussichtlich erst am 11. Mai wieder in die Klassenzimmer zurückkehren. Doch wie sollen sie für ihre Leistungen in diesem Semester benotet werden? Mit dieser Frage musste sich der Bildungsrat des Kantons Zürich herumschlagen. Am Montag hat er nun eine Antwort gefunden. Sie lautet: gar nicht. 
Anstelle von Noten steht in den Zeugnissen der Zürcher Primar- und Sekundarschüler die Bemerkung «nicht benotet» – gepaart mit einem Verweis auf die Corona-Pandemie. Auch auf die Zeugnisgespräche mit den Eltern von Kindern im Kindergarten oder in der 1. Klasse der Primarschule wird am Ende dieses Schuljahrs verzichtet. Dies gab die Zürcher Bildungsdirektion in einer Mitteilung bekannt.
"Nicht benotet": Die Schüler der Zürcher Volksschule erhalten wegen der Corona-Krise keine Zeugnisnoten - das sind die Folgen, NZZ, 20.4. von Nils Pfändler und Florian Schoop

Bildungsdirektorin Silvia Steiner begründet den Entscheid folgendermassen: Einerseits sei die Beurteilungsphase aufgrund des wochenlangen Fernunterrichts verkürzt. Andererseits wüssten die Lehrer häufig nicht, was für Lernbedingungen die Schülerinnen und Schüler zu Hause haben. «Aufgrund der Chancengerechtigkeit muss man zuerst schauen, wo die Schüler stehen», sagt Steiner. «In dieser Situation Noten zu geben, ergibt keinen Sinn.»

Lehrer begrüssen den Entscheid
Die Bildungsdirektion folgt mit dem Schritt der Forderung zahlreicher Lehrerinnen und Lehrer, die sich bereits früh gegen Zeugnisnoten im Ausnahmezustand ausgesprochen hatten. Auch Christian Hugi, Präsident des Zürcher Lehrerverbands (ZLV), begrüsst den Entscheid. Er sei seit der Schulschliessung regelmässig mit der Bildungsdirektion und dem Volksschulamt in Kontakt gestanden. «Ich danke dem Bildungsrat, dass er auf die Fachexpertise der Lehrpersonen hört», sagt Hugi.

Laut dem Verbandspräsidenten stehen nach der voraussichtlichen Schulöffnung vor allem zwei Herausforderungen bevor: Zum einen werde es keinen nahtlosen Übergang zum normalen Unterricht geben können. «Wenn die Kinder nach dem Fernunterricht in die Klassenzimmer zurückkehren, brauchen sie zusätzliche Unterstützung», sagt Hugi. Dafür fordert er auch zusätzliche Ressourcen. Denn: Nach mehreren Wochen im Fernunterricht komme neben den Klassen- und Fachlehrpersonen auch den Schulsozialarbeitern eine wichtige Rolle zu. Sie sollen in den Klassen einen gesunden sozialen und emotionalen Zustand wiederherstellen.

Zudem geht Hugi davon aus, dass viele Kinder in dieser Wiedereinstiegsphase mehr Unterstützung durch Heilpädagoginnen, Assistenzpersonal und Lehrpersonen für Deutsch als Fremdsprache benötigen – und zwar besonders im Kindergarten.

Zum anderen sei die Corona-Krise besonders für Jugendliche, die vor dem Übertritt ins Berufsleben stehen, eine grosse Herausforderung. Bei vielen herrsche Unsicherheit, sagt Hugi. «Wenn jemand bereits eine Coiffeur-Lehrstelle gefunden hat, aber nicht sicher ist, ob der Salon die Krise übersteht, ist das eine sehr schwierige Situation.»

Für die Lehrbetriebe wiederum seien notenlose Zeugnisse keine gute Nachricht, sagt Thomas Hess. Der Geschäftsleiter des KMU- und Gewerbeverbands des Kantons Zürich (KGV) betont jedoch, dass Noten nicht die einzigen Kriterien seien, um künftige Lehrlinge einzustellen. «Sogenannte Soft Skills wie Freundlichkeit, Verlässlichkeit oder Pünktlichkeit sind für viele Branchen genauso wichtig.» Er fordert auch für das laufende Jahr eine Einschätzung dieser Sozialkompetenzen.

Hess gibt ein Beispiel: Wenn ein Jugendlicher, der einen Handwerksberuf erlernen wolle, aber nicht die besten schulischen Leistungen aufzuweisen habe, könne er mit guten Verhaltensnoten trotzdem punkten, denn: «Auf diesen Fähigkeiten lässt sich aufbauen, den Rest kann man während der Ausbildung lernen.» 

Genau hier will die Bildungsdirektion anknüpfen. Wie sie am Montag mitgeteilt hat, können angehende Lehrlinge zum notenlosen Zeugnis einen Lernbericht oder ein Referenzschreiben beantragen, um ihre Chancen auf dem Lehrstellenmarkt zu erhöhen. Und jene, die den sogenannten Stellwerktest noch nicht absolviert haben, können diesen nachholen, sobald an den Schulen wieder Präsenzunterricht stattfindet.

KGV-Geschäftsleiter Hess empfiehlt den Lehrbetrieben zudem, mit potenziellen Lehrlingen per Videokonferenz in Kontakt zu treten. «So kann man sich besser austauschen. Und man erhält auch in Corona-Zeiten einen Eindruck von den Jugendlichen, die sich bewerben.» Ein Problem stelle jedoch die Situation von Schülerinnen und Schülern der zweiten Sek dar. Die meisten von ihnen können derzeit nicht schnuppern gehen. Dies habe Auswirkungen auf die Bewerbungszeit im Herbst. 

Hess appelliert deshalb an die Unternehmen, die Lehrstellen nicht zu streichen, sondern den Jugendlichen eine Chance zu geben – trotz Corona-Schock. Denn: «Bei der Lehre handelt es sich um eine Win-win-Situation.» Im ersten Lehrjahr müsse zwar der Betrieb mehr investieren. Doch im zweiten sei das Geben und Nehmen ausgeglichen, und im dritten Jahr leisteten die Lehrling mehr. 

Petition für sofortigen Entscheid zu Maturitätsprüfungen
Unklar bleibt die Situation an den Gymnasien. Eine Leistungsbeurteilung findet nur in den für die Abschlusszeugnisse massgebenden Fächern im zweitletzten und letzten Jahr vor den Abschlussprüfungen statt. Ob die Maturaprüfungen stattfinden werden, ist weiterhin ungewiss.

Laut Bildungsdirektorin Steiner, die auch die Schweizerische Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) präsidiert, werden die Verantwortlichen dem Bundesrat bis Ende Woche einen Vorschlag für die Maturaprüfungen unterbreiten. Wie dieser aussieht, konnte Steiner noch nicht sagen.

Klar ist: Langsam, aber sicher gerät die EDK unter Zeitdruck. Zwar werden die Mittel-, Berufs- und Hochschulen voraussichtlich erst am 8. Juni wieder geöffnet. Eine Petition verlangt jedoch bereits jetzt einen sofortigen Entscheid zu den Maturitätsprüfungen. 

«Die Schweizer Maturanden haben die Unklarheit über ihre anstehenden Maturitätsprüfungen satt», argumentieren die Initianten. Sie fordern die EDK dazu auf, sofortige Klarheit zu schaffen, ob und in welcher Form die Prüfungen dieses Jahr stattfinden. Die klaren Worte finden Anklang: Bis am Montagabend haben bereits mehr als 6000 Personen die Petition unterzeichnet.


1 Kommentar:

  1. Das wusste ich nicht: Zürich kennt weiterhin Semesterzeugnisse. In Graubünden wurde diese vor Jahren abgeschafft und durch Jahreszeugnisse ersetzt. Das heisst, am Ende des ersten Semesters werden die Noten nicht gelöscht, sondern sie zählen weiterhin und werden am Ende des Schuljahres zusammen mit den Noten des zweiten Semesters addiert und für die Zeugnisnote verwendet.

    AntwortenLöschen