Wegen der Corona-Krise stehen die Schulen leer. Seit fünf Wochen lernen
die Schweizer Schülerinnen und Schüler zu Hause und dürfen voraussichtlich erst
am 11. Mai wieder in die Klassenzimmer zurückkehren. Doch wie sollen sie für
ihre Leistungen in diesem Semester benotet werden? Mit dieser Frage musste sich
der Bildungsrat des Kantons Zürich herumschlagen. Am Montag hat er nun eine
Antwort gefunden. Sie lautet: gar nicht.
Anstelle von Noten steht in den Zeugnissen der Zürcher Primar- und
Sekundarschüler die Bemerkung «nicht benotet» – gepaart mit einem
Verweis auf die Corona-Pandemie. Auch auf die Zeugnisgespräche
mit den Eltern von Kindern im Kindergarten oder in der 1. Klasse der
Primarschule wird am Ende dieses Schuljahrs verzichtet. Dies gab die
Zürcher Bildungsdirektion in einer Mitteilung bekannt.
"Nicht benotet": Die Schüler der Zürcher Volksschule erhalten wegen der Corona-Krise keine Zeugnisnoten - das sind die Folgen, NZZ, 20.4. von Nils Pfändler und Florian Schoop
Bildungsdirektorin Silvia Steiner begründet den Entscheid
folgendermassen: Einerseits sei die Beurteilungsphase aufgrund des wochenlangen
Fernunterrichts verkürzt. Andererseits wüssten die Lehrer häufig nicht, was für
Lernbedingungen die Schülerinnen und Schüler zu Hause haben. «Aufgrund der
Chancengerechtigkeit muss man zuerst schauen, wo die Schüler stehen», sagt
Steiner. «In dieser Situation Noten zu geben, ergibt keinen Sinn.»
Lehrer begrüssen den Entscheid
Die Bildungsdirektion folgt mit dem Schritt der Forderung zahlreicher
Lehrerinnen und Lehrer, die sich bereits früh gegen Zeugnisnoten im
Ausnahmezustand ausgesprochen hatten. Auch Christian Hugi, Präsident des
Zürcher Lehrerverbands (ZLV), begrüsst den Entscheid. Er sei seit der
Schulschliessung regelmässig mit der Bildungsdirektion und dem
Volksschulamt in Kontakt gestanden. «Ich danke dem Bildungsrat, dass er auf die
Fachexpertise der Lehrpersonen hört», sagt Hugi.
Laut dem Verbandspräsidenten stehen nach der voraussichtlichen
Schulöffnung vor allem zwei Herausforderungen bevor: Zum einen werde es keinen
nahtlosen Übergang zum normalen Unterricht geben können. «Wenn die Kinder
nach dem Fernunterricht in die Klassenzimmer zurückkehren, brauchen sie
zusätzliche Unterstützung», sagt Hugi. Dafür fordert er auch zusätzliche
Ressourcen. Denn: Nach mehreren Wochen im Fernunterricht komme neben den
Klassen- und Fachlehrpersonen auch den Schulsozialarbeitern eine wichtige
Rolle zu. Sie sollen in den Klassen einen gesunden sozialen und emotionalen
Zustand wiederherstellen.
Zudem geht Hugi davon aus, dass viele Kinder in dieser
Wiedereinstiegsphase mehr Unterstützung durch
Heilpädagoginnen, Assistenzpersonal und Lehrpersonen für Deutsch als
Fremdsprache benötigen – und zwar besonders im Kindergarten.
Zum anderen sei die Corona-Krise besonders für Jugendliche, die vor dem
Übertritt ins Berufsleben stehen, eine grosse Herausforderung. Bei vielen
herrsche Unsicherheit, sagt Hugi. «Wenn jemand bereits eine Coiffeur-Lehrstelle
gefunden hat, aber nicht sicher ist, ob der Salon die Krise übersteht, ist das
eine sehr schwierige Situation.»
Für die Lehrbetriebe wiederum seien notenlose Zeugnisse keine
gute Nachricht, sagt Thomas Hess. Der Geschäftsleiter des KMU- und
Gewerbeverbands des Kantons Zürich (KGV) betont jedoch, dass Noten nicht die
einzigen Kriterien seien, um künftige Lehrlinge einzustellen. «Sogenannte Soft
Skills wie Freundlichkeit, Verlässlichkeit oder Pünktlichkeit sind für viele
Branchen genauso wichtig.» Er fordert auch für das laufende Jahr eine
Einschätzung dieser Sozialkompetenzen.
Hess gibt ein Beispiel: Wenn ein Jugendlicher, der einen Handwerksberuf
erlernen wolle, aber nicht die besten schulischen Leistungen aufzuweisen habe,
könne er mit guten Verhaltensnoten trotzdem punkten, denn: «Auf
diesen Fähigkeiten lässt sich aufbauen, den Rest kann man während der
Ausbildung lernen.»
Genau hier will die Bildungsdirektion anknüpfen. Wie sie am Montag
mitgeteilt hat, können angehende Lehrlinge zum notenlosen Zeugnis einen
Lernbericht oder ein Referenzschreiben beantragen, um ihre Chancen auf dem
Lehrstellenmarkt zu erhöhen. Und jene, die den sogenannten Stellwerktest
noch nicht absolviert haben, können diesen nachholen, sobald an den Schulen
wieder Präsenzunterricht stattfindet.
KGV-Geschäftsleiter Hess empfiehlt den Lehrbetrieben zudem, mit
potenziellen Lehrlingen per Videokonferenz in Kontakt zu treten. «So kann man
sich besser austauschen. Und man erhält auch in Corona-Zeiten einen Eindruck
von den Jugendlichen, die sich bewerben.» Ein Problem stelle jedoch die
Situation von Schülerinnen und Schülern der zweiten Sek dar. Die meisten von
ihnen können derzeit nicht schnuppern gehen. Dies habe Auswirkungen auf die
Bewerbungszeit im Herbst.
Hess appelliert deshalb an die Unternehmen, die Lehrstellen nicht zu
streichen, sondern den Jugendlichen eine Chance zu geben – trotz
Corona-Schock. Denn: «Bei der Lehre handelt es sich um eine
Win-win-Situation.» Im ersten Lehrjahr müsse zwar der Betrieb mehr investieren.
Doch im zweiten sei das Geben und Nehmen ausgeglichen, und im dritten Jahr
leisteten die Lehrling mehr.
Petition für sofortigen Entscheid zu Maturitätsprüfungen
Unklar bleibt die Situation an den Gymnasien. Eine Leistungsbeurteilung
findet nur in den für die Abschlusszeugnisse massgebenden Fächern im
zweitletzten und letzten Jahr vor den Abschlussprüfungen statt. Ob die
Maturaprüfungen stattfinden werden, ist weiterhin ungewiss.
Laut Bildungsdirektorin Steiner, die auch die Schweizerische Konferenz
der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) präsidiert, werden die Verantwortlichen
dem Bundesrat bis Ende Woche einen Vorschlag für die Maturaprüfungen
unterbreiten. Wie dieser aussieht, konnte Steiner noch nicht sagen.
Klar ist: Langsam, aber sicher gerät die EDK unter Zeitdruck. Zwar
werden die Mittel-, Berufs- und Hochschulen voraussichtlich erst am
8. Juni wieder geöffnet. Eine Petition verlangt
jedoch bereits jetzt einen sofortigen Entscheid zu den
Maturitätsprüfungen.
«Die Schweizer Maturanden haben die Unklarheit über ihre anstehenden
Maturitätsprüfungen satt», argumentieren die Initianten. Sie fordern die EDK
dazu auf, sofortige Klarheit zu schaffen, ob und in welcher Form die Prüfungen
dieses Jahr stattfinden. Die klaren Worte finden Anklang: Bis am Montagabend
haben bereits mehr als 6000 Personen die Petition unterzeichnet.
Das wusste ich nicht: Zürich kennt weiterhin Semesterzeugnisse. In Graubünden wurde diese vor Jahren abgeschafft und durch Jahreszeugnisse ersetzt. Das heisst, am Ende des ersten Semesters werden die Noten nicht gelöscht, sondern sie zählen weiterhin und werden am Ende des Schuljahres zusammen mit den Noten des zweiten Semesters addiert und für die Zeugnisnote verwendet.
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