30. April 2020

Schulstart an einer Berliner Schule


Gegen 11 Uhr geht die Tür auf. Frau Ottow steht im Klassenzimmer. Sie habe etwas Wichtiges mitzuteilen. Das komme direkt von Herrn Zimmerschied, dem Schulleiter. Ab sofort werde jeder, der sich in den Pausen nicht an die Abstandsregeln halte, «suspendiert» und dürfe vorerst nicht mehr in die Schule kommen. Man habe heute Morgen schon mehrere Schüler ermahnen müssen. «So geht das nicht.» Stille. In normalen Zeiten wäre die Aussicht, nicht in die Schule gehen zu müssen, für viele Schüler wohl ein Grund zur Freude. Nun sitzen sieben Zehntklässler enttäuscht an ihren Tischen und sagen nichts. Schulverbot klingt neuerdings wie eine Drohung.
Wie eine Berliner Schule nach dem Lockdown den Unterricht startet - und ihn am selben Tag wieder abbrechen muss, NZZ, 30.4. von Anja Stehle


Es ist der Tag zwei nach dem Ende des Corona-Lockdowns an der Friedensburg-Oberschule in Berlin-Charlottenburg. Nach mehr als sechs Wochen Pause ist diese Woche ein kleiner Teil der Schüler zum Unterricht zurückgekehrt. In einem Nebentrakt schreiben Abiturienten ihre Prüfungen, im Vordergebäude werden die Zehntklässler unterrichtet. 

7 Uhr 45
Der Lärm erreicht ein Level, als wären nicht bloss die Leos, Lauris, Seynabs, Saras, Amalias der zehnten Jahrgangsstufe wieder zurück, sondern auch all die anderen der 1200 Schüler. In den Gängen riecht es nach Putzmittel. Auf den mausgrauen PVC-Boden hat die Schulleitung bunte Markierungen kleben lassen, um die Schüler in Bahnen zu lenken. Hier geht’s die Treppe hinauf, dort hinunter – doch daran hält sich an diesem Morgen keiner. Lehrer suchen ihre Klassen, Schüler ihre Lehrer. Eine Maske trägt kaum jemand, und wenn, dann nur, weil es zum Gangster-Auftritt passt. Natürlich sind auch die Anführer-Typen zurück. Auf die Frage, was sie in den «Ferien» so gemacht hätten, antworten sie mit «chillen», «Netflix gucken» und «zocken». Und sie haben neue Sprüche drauf: «Digger, hau ab, du hast Corona.» In sicherer Entfernung stehen die, denen Abstandsregeln vielleicht gar nicht so unrecht sind, tauschen sich über die Hausaufgaben aus und werfen sich besorgte Blicke zu.

8 Uhr 00 
Amaryllis Nerger steht vor der Klasse 10.11. – jedenfalls vor einem Teil. Sieben Schüler sitzen im Halbkreis auf orangefarbenen Plastikstühlen. Die Schulleitung hat die Klassen in kleine Gruppen aufgeteilt, damit das Abstandhalten in den Räumen überhaupt möglich ist. Die nächsten drei Unterrichtsstunden wird die 30-jährige Lehrerin dreimal den gleichen Mathematikunterricht halten, für jede Gruppe einmal.

«Habt ihr einen Computer und einen ruhigen Arbeitsplatz?» Nerger hat den Schülern in den vergangenen Wochen Aufgaben geschickt. Kontakt hatten sie nur über einen speziellen Schul-Messenger-Dienst. Einige der Schüler scheinen sich mit einem Smartphone begnügen zu müssen. Einer erzählt, er müsse sein Zimmer mit seinem Bruder teilen, der habe ihn beim Lernen gestört. Eine andere Schülerin sagt, sie habe sich nicht auf die Schulaufgaben konzentrieren können, weil sie auf ihre kleinen Geschwister aufpassen müsse. Die Mutter arbeite im Home-Office. Und dann sei da noch der Vater ihrer Geschwister, mit dem sie sich nicht gut verstehe.

Im Klassenraum ist es jetzt leise. Nerger ringt um eine Antwort. «Ihr wisst, dass ihr uns Lehrer anschreiben könnt, wenn ihr zu Hause Probleme habt?» Die Runde nickt. Später wird Nerger sagen, dass sie in solchen Situationen machtlos sei. «Wir können in die Familienstruktur nicht eingreifen.» Zwar habe sie auch E-Mails an die Eltern geschrieben, doch an der Lage ändere das oft nichts. «Ich habe dann festgestellt, dass die meisten selbst unzufrieden sind mit der Situation und nicht wissen, wie sie ihrem Kind helfen können.»

9 Uhr 00
Pause. Nerger holt tief Luft, sie hat mehr erwartet. Für den vorbereiteten Stoff blieb bei all den Fragen kaum Zeit. Sie macht sich Sorgen, dass manch einer ihrer Schüler den Anschluss verlieren könnte. Die Friedensburg-Oberschule ist eine integrative Schule. Jugendliche aus allen Bildungsschichten sollen hier zusammen lernen. Es gibt einen Spanisch-Schwerpunkt und zwei sogenannte Willkommensklassen, in denen Flüchtlingskinder unterrichtet werden. Schüler, die zu Hause kein Deutsch sprechen und die nicht selbständig lernen können, seien vom Lockdown besonders hart getroffen, sagt der Schulleiter Sven Zimmerschied. «Für diese Kinder ist das eine verlorene Zeit.»

10 Uhr 15
Bei Nerger steigt der Frust. Wie war das eben, als sich die Schüler die Aufgabenblätter vom Stapel genommen haben? Sind sie sich dabei zu nahe gekommen? Haben die Aufgaben für das Homeschooling einen angemessenen Umfang? Manch ein Schüler berichtet, er schaffe sie in zwei Stunden pro Tag, manch einer benötigt sieben Stunden. Um mehr zu erfahren, müsste sie sich in Ruhe mit einzelnen Schülern unterhalten, doch dafür bleibt kaum Zeit.
Stattdessen eilt Nerger ins nächste Klassenzimmer. Dazwischen: ermahnen, schlichten. Die Schüler albern auf den Gängen, gehen zu zweit auf die Toilette, obwohl da nur einer hineindarf. «Ihr sollt auch in den Pausen im Klassenzimmer bleiben.» Nerger versucht ruhig zu bleiben, andere Lehrer sind schon im nervlichen Rotbereich. «Hey, das sind keine eineinhalb Meter, was macht ihr da?» Doch solche Ansagen verpuffen, sobald die Lehrer nicht mehr in Sichtweite sind. 

In der Zwischenzeit bahnt sich auf der Lehrertoilette das nächste Drama an. Der Seifenspender gibt nur noch Tröpfchen ab. Nerger ärgert sich. «Die Seife hätte schon mal jemand auffüllen können.» Sie greift in ihre Tasche, zieht eine Packung Desinfektionstücher heraus. Das Schulamt hat keine Desinfektionsmittel zur Verfügung gestellt. Die Chemielehrer der Schule haben deshalb während des Lockdowns selbst welche angerührt. Wo aber stehen die Fläschchen nun? Sie weiss es nicht.

11 Uhr 30
Zimmerschied wird es zu bunt. Er hat die Lehrerin Ottow in die Klassen geschickt, um die Abstandsregeln klarzumachen. Die kleine Drohung sei ganz hilfreich, «die wollen ja wiederkommen». Er meine das natürlich nicht böse. Zimmerschied scheint eher der Kumpeltyp unter den Schulleitern zu sein. Mittlerweile hat auch das Seifenproblem sein Büro erreicht. Die Lage ist sogar schlimmer als gedacht. Für die Mittagspause erwartet er eigentlich die Reinigungskräfte, doch die haben gerade abgesagt. Der Schulleiter ist sauer. Es sei nicht das erste Mal, dass das passiere.

Was nun? Der neue Hygieneplan schreibe vor, dass Tische und Türgriffe in den Klassenräumen zwischendurch gereinigt werden müssen. Bis zu 10 000 Euro Strafe müsse er als Schulleiter bezahlen, wenn er sich nicht daran halte. Es sei ohnehin schwer genug, den Hygieneplan umzusetzen. Der Berliner Senat habe ihn erst am vergangenen Freitag verschickt. «Das kann ja gar nicht funktionieren.» Er habe schon von Schulen gehört, in denen die Lehrer jetzt selbst putzen. In der Friedensburg-Oberschule greift an diesem Dienstag aber kein Lehrer mehr zum Wischmopp, und Zimmerschied zieht die Notbremse. Er sagt den Nachmittagsunterricht ab. Nur drei Stunden nachdem der Unterricht begonnen hatte, ist schon wieder Schluss.

Wie es in den nächsten Wochen weitergeht? Zimmerschied hat keine Ahnung. Er weiss nicht einmal, ob er nach den Erfahrungen dieses Tages die Zehntklässler weiterhin unterrichten lassen kann. Sollte sich der Senat entscheiden, vor den Sommerferien weitere Klassen zum Unterricht zuzulassen, dürfte der Lehrermangel ein Problem werden. Knapp 40 Prozent der Lehrer an seiner Schule gehörten zur Risikogruppe und dürfen gar nicht unterrichten.

Etwas Gutes allerdings habe das Chaos, sagt Zimmerschied. Die Corona-Krise habe gezeigt, wie wichtig die Schule als Ort des Lernens sei. Bildung ist eben doch mehr als Wissenserwerb. Es ist Streit, Austausch, Freude. Das kann man nicht am Computer nachmachen. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen