Gegen 11 Uhr geht die Tür auf. Frau Ottow steht im Klassenzimmer. Sie
habe etwas Wichtiges mitzuteilen. Das komme direkt von Herrn Zimmerschied, dem
Schulleiter. Ab sofort werde jeder, der sich in den Pausen nicht an die
Abstandsregeln halte, «suspendiert» und dürfe vorerst nicht mehr in die Schule
kommen. Man habe heute Morgen schon mehrere Schüler ermahnen müssen. «So geht
das nicht.» Stille. In normalen Zeiten wäre die Aussicht, nicht in die Schule
gehen zu müssen, für viele Schüler wohl ein Grund zur Freude. Nun sitzen sieben
Zehntklässler enttäuscht an ihren Tischen und sagen nichts. Schulverbot
klingt neuerdings wie eine Drohung.
Wie eine Berliner Schule nach dem Lockdown den Unterricht startet - und ihn am selben Tag wieder abbrechen muss, NZZ, 30.4. von Anja Stehle
Es ist der Tag zwei nach dem Ende des Corona-Lockdowns an der
Friedensburg-Oberschule in Berlin-Charlottenburg. Nach mehr als sechs Wochen
Pause ist diese Woche ein kleiner Teil der Schüler zum Unterricht
zurückgekehrt. In einem Nebentrakt schreiben Abiturienten ihre Prüfungen, im
Vordergebäude werden die Zehntklässler unterrichtet.
7 Uhr 45
Der Lärm erreicht ein Level, als wären nicht bloss die Leos, Lauris,
Seynabs, Saras, Amalias der zehnten Jahrgangsstufe wieder zurück, sondern auch
all die anderen der 1200 Schüler. In den Gängen riecht es nach Putzmittel. Auf
den mausgrauen PVC-Boden hat die Schulleitung bunte Markierungen kleben lassen,
um die Schüler in Bahnen zu lenken. Hier geht’s die Treppe hinauf, dort
hinunter – doch daran hält sich an diesem Morgen keiner. Lehrer suchen ihre
Klassen, Schüler ihre Lehrer. Eine Maske trägt kaum jemand, und wenn, dann nur,
weil es zum Gangster-Auftritt passt. Natürlich sind auch die Anführer-Typen
zurück. Auf die Frage, was sie in den «Ferien» so gemacht hätten, antworten sie
mit «chillen», «Netflix gucken» und «zocken». Und sie haben neue Sprüche drauf:
«Digger, hau ab, du hast Corona.» In sicherer Entfernung stehen die, denen
Abstandsregeln vielleicht gar nicht so unrecht sind, tauschen sich über die
Hausaufgaben aus und werfen sich besorgte Blicke zu.
8 Uhr 00
Amaryllis Nerger steht vor der Klasse 10.11. – jedenfalls vor einem
Teil. Sieben Schüler sitzen im Halbkreis auf orangefarbenen Plastikstühlen.
Die Schulleitung hat die Klassen in kleine Gruppen aufgeteilt, damit das
Abstandhalten in den Räumen überhaupt möglich ist. Die nächsten drei
Unterrichtsstunden wird die 30-jährige Lehrerin dreimal den gleichen Mathematikunterricht
halten, für jede Gruppe einmal.
«Habt ihr einen Computer und einen ruhigen Arbeitsplatz?» Nerger hat den
Schülern in den vergangenen Wochen Aufgaben geschickt. Kontakt hatten sie
nur über einen speziellen Schul-Messenger-Dienst. Einige der Schüler
scheinen sich mit einem Smartphone begnügen zu müssen. Einer erzählt, er müsse
sein Zimmer mit seinem Bruder teilen, der habe ihn beim Lernen gestört. Eine
andere Schülerin sagt, sie habe sich nicht auf die Schulaufgaben konzentrieren
können, weil sie auf ihre kleinen Geschwister aufpassen müsse. Die Mutter
arbeite im Home-Office. Und dann sei da noch der Vater ihrer Geschwister, mit
dem sie sich nicht gut verstehe.
Im Klassenraum ist es jetzt leise. Nerger ringt um eine Antwort. «Ihr
wisst, dass ihr uns Lehrer anschreiben könnt, wenn ihr zu Hause Probleme habt?»
Die Runde nickt. Später wird Nerger sagen, dass sie in solchen Situationen
machtlos sei. «Wir können in die Familienstruktur nicht eingreifen.» Zwar habe
sie auch E-Mails an die Eltern geschrieben, doch an der Lage ändere das oft
nichts. «Ich habe dann festgestellt, dass die meisten selbst unzufrieden sind
mit der Situation und nicht wissen, wie sie ihrem Kind helfen können.»
9 Uhr 00
Pause. Nerger holt tief Luft, sie hat mehr erwartet. Für den
vorbereiteten Stoff blieb bei all den Fragen kaum Zeit. Sie macht sich
Sorgen, dass manch einer ihrer Schüler den Anschluss verlieren könnte. Die
Friedensburg-Oberschule ist eine integrative Schule. Jugendliche aus allen
Bildungsschichten sollen hier zusammen lernen. Es gibt einen
Spanisch-Schwerpunkt und zwei sogenannte Willkommensklassen, in denen
Flüchtlingskinder unterrichtet werden. Schüler, die zu Hause kein Deutsch
sprechen und die nicht selbständig lernen können, seien vom Lockdown
besonders hart getroffen, sagt der Schulleiter Sven Zimmerschied. «Für diese Kinder
ist das eine verlorene Zeit.»
10 Uhr 15
Bei Nerger steigt der Frust. Wie war das eben, als sich die Schüler die
Aufgabenblätter vom Stapel genommen haben? Sind sie sich dabei zu nahe
gekommen? Haben die Aufgaben für das Homeschooling einen angemessenen Umfang?
Manch ein Schüler berichtet, er schaffe sie in zwei Stunden pro Tag, manch
einer benötigt sieben Stunden. Um mehr zu erfahren, müsste sie sich in Ruhe mit
einzelnen Schülern unterhalten, doch dafür bleibt kaum Zeit.
Stattdessen eilt Nerger ins nächste Klassenzimmer. Dazwischen: ermahnen,
schlichten. Die Schüler albern auf den Gängen, gehen zu zweit auf die Toilette,
obwohl da nur einer hineindarf. «Ihr sollt auch in den Pausen im Klassenzimmer
bleiben.» Nerger versucht ruhig zu bleiben, andere Lehrer sind schon im
nervlichen Rotbereich. «Hey, das sind keine eineinhalb Meter, was macht ihr
da?» Doch solche Ansagen verpuffen, sobald die Lehrer nicht mehr in Sichtweite
sind.
In der Zwischenzeit bahnt sich auf der Lehrertoilette das nächste
Drama an. Der Seifenspender gibt nur noch Tröpfchen ab. Nerger ärgert sich.
«Die Seife hätte schon mal jemand auffüllen können.» Sie greift in ihre Tasche,
zieht eine Packung Desinfektionstücher heraus. Das Schulamt hat keine
Desinfektionsmittel zur Verfügung gestellt. Die Chemielehrer der Schule haben
deshalb während des Lockdowns selbst welche angerührt. Wo aber stehen die
Fläschchen nun? Sie weiss es nicht.
11 Uhr 30
Zimmerschied wird es zu bunt. Er hat die Lehrerin Ottow in die
Klassen geschickt, um die Abstandsregeln klarzumachen. Die kleine Drohung sei
ganz hilfreich, «die wollen ja wiederkommen». Er meine das natürlich nicht
böse. Zimmerschied scheint eher der Kumpeltyp unter den Schulleitern zu sein.
Mittlerweile hat auch das Seifenproblem sein Büro erreicht. Die Lage
ist sogar schlimmer als gedacht. Für die Mittagspause erwartet
er eigentlich die Reinigungskräfte, doch die haben gerade abgesagt. Der
Schulleiter ist sauer. Es sei nicht das erste Mal, dass das passiere.
Was nun? Der neue Hygieneplan schreibe vor, dass Tische und
Türgriffe in den Klassenräumen zwischendurch gereinigt werden müssen. Bis zu
10 000 Euro Strafe müsse er als Schulleiter bezahlen, wenn er sich nicht daran
halte. Es sei ohnehin schwer genug, den Hygieneplan umzusetzen. Der Berliner
Senat habe ihn erst am vergangenen Freitag verschickt. «Das kann ja gar nicht
funktionieren.» Er habe schon von Schulen gehört, in denen die Lehrer jetzt
selbst putzen. In der Friedensburg-Oberschule greift an diesem Dienstag aber
kein Lehrer mehr zum Wischmopp, und Zimmerschied zieht die Notbremse.
Er sagt den Nachmittagsunterricht ab. Nur drei Stunden nachdem der Unterricht
begonnen hatte, ist schon wieder Schluss.
Wie es in den nächsten Wochen weitergeht? Zimmerschied hat keine Ahnung.
Er weiss nicht einmal, ob er nach den Erfahrungen dieses Tages die
Zehntklässler weiterhin unterrichten lassen kann. Sollte sich der Senat
entscheiden, vor den Sommerferien weitere Klassen zum Unterricht zuzulassen,
dürfte der Lehrermangel ein Problem werden. Knapp 40 Prozent der Lehrer an
seiner Schule gehörten zur Risikogruppe und dürfen gar nicht unterrichten.
Etwas Gutes allerdings habe das Chaos, sagt Zimmerschied. Die
Corona-Krise habe gezeigt, wie wichtig die Schule als Ort des Lernens sei.
Bildung ist eben doch mehr als Wissenserwerb. Es ist Streit, Austausch, Freude.
Das kann man nicht am Computer nachmachen.
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