Warum braucht die Demokratie die Volksschule
und die Volksschule die Demokratie? Welche Folgen hat es, wenn die Volksschule
als Unternehmen den Investor aus dem Aufsichtsrat verdrängt? Ein Blick zurück
zeigt, wo wir heute stehen. Der Mensch kann die Zukunft nur so denken, wie er
die Vergangenheit verstanden hat.
Volksschule ohne Demokratie? 30.4., von Peter Aebersold
Die Schweiz war bereits um 1800 eine
eigentliche «Schulhochburg» und vielen anderen Staaten weit voraus. Gemäss der
Stapfer-Enquête von 1799 besuchten fast alle Kinder die Schule. Die neuen freiheitlich-demokratischen
Staatsverfassungen in der Regenerationszeit (1832-1839) begründeten in den
Kantonen die eigentliche Volksschule, wie das Beispiel des Kantons Zürich
zeigt:
Volksschule vom Volk für das Volk
Den Startschuss für
die Zürcher Volksschule gab die vom Volk angenommene liberale Staatverfassung
von 1831 mit dem Artikel 20: „Sorge für Vervollkommnung des Jugendunterrichts ist Pflicht des Volkes
und seiner Stellvertreter. Der Staat wird die niedern und höhern Schul- und
Bildungsanstalten nach Kräften pflegen und unterstützen.“ Auf dieser Grundlage
entstand das Unterrichtsgesetz von
1832, das der Schule eine eminente staatspolitische Bedeutung zuschrieb: Sie
hatte von jetzt an selbständig urteilende, verantwortungsbewusste Staatsbürger
heranzubilden. Die Volksbildung wurde als wichtigste Voraussetzung für das
Funktionieren eines demokratischen Staatswesens erachtet, damit es nicht der
Pöbelherrschaft und dann der Oligarchie verfalle.
Die Volksschule hatte
zwei entscheidende tragende Säulen: Erstens wurde sie als Stätte gesehen,
welche die Kinder beider Geschlechter aller sozialen Schichten, aller
Bekenntnisse und Begabungsstufen zur gemeinschaftlichen Erziehung vereinigt. Zweitens war sie im Volk verankert, indem die
Sorgepflicht und das Sorgerecht dem Volk (Schulgemeinde) übertragen wurde
(Volkswahl der Lehrer und Schulbehörden, Laienaufsicht, Verantwortung für die
Bereitstellung, Einrichtung und Unterhalt der Schulhäuser). Das Unterrichtsgesetz von 1859 war ein
mustergültiges Gesetzeswerk. Es wurde erst 2002 durch das
neue Bildungsgesetz abgelöst, um das Schulwesen der Globalisierung anpassen zu
können.
Erfolgreiche Neuerungen
Die wichtigsten
Neuerungen waren die Einführung von Jahresklassen mit klar umschriebenen
Lehrzielen und die obligatorische Alltagsschule (Unter- und Mittelstufe) mit 27
Wochenstunden für alle Schüler. Die obligatorische Volksschule erhielt eine
klare, überschaubare Ordnung: Die Elementarschule (Unterstufe 1.-3.), die
Realschule (Mittelstufe 4.-6.) und die Repetierschule (7.-9. Klasse). Die
freiwillige Oberstufe war mit nur 6 Wochenstunden ungenügend ausgebaut und
sollte erst mit der Teilrevision des Volksschulgesetzes von 1959 als
obligatorische dreiteilige Oberstufe verwirklicht werden. Die Mitarbeit der älteren
Kinder wurde vor allem im Sommerhalbjahr auf dem Bauernhof gebraucht. Die
Schulpflicht half die Fabrikarbeit durch Kinder zurückdämmen.
Die Realien wurden in
die Pflichtfächer aufgenommen und die Lehrmittel obligatorisch. Die Lehrmethoden
wurden psychologisch abgestimmt und die soziale und wirtschaftliche Stellung
des Lehrers gefördert. Die neue Schule verdankte ihre Erfolge der vor allem
Einführung der Jahresklassen (nach Comenius), weil nun der Unterricht gezielt
gestaltet werden konnte und der Lerneifer der Schüler viel grösser war als beim
früheren individuellen Lehrpensum. Damit wurden die Lernfortschritte der
Schüler und der verschiedenen Klassen vergleichbar.
Mitsprache
der Lehrer
Damit die Schule eine
solide Grundlage erhielt, sollten die Lehrer ein ausreichendes Einkommen und
Mitsprache in schulischen Belangen erhalten. Letzterem diente die Schaffung von
Schulsynoden als markantes Zeichen für die veränderte Stellung der Schule und
des neuen Selbstverständnisses der Lehrerschaft. Die Schulsynode sollte ein
öffentliches Forum für die Lehrerschaft sein, wo frei über ihre Bedürfnisse
gesprochen werden konnte.
Unabhängige Volksaufsicht
Neben den Lehrern,
Schulsynoden (Standesvertretung der Gesamtlehrerschaft
des Kantons) und Schulkapiteln
wurden auch die Gemeindeschulpflegen aus der Vormundschaft der Kirche entlassen
und eigenständig. Die Gemeindeschulpflegen bildeten mit den neugeschaffenen
Bezirksschulpflegen und dem Erziehungsrat die Schulbehörden. Die
Bezirksschulpflege hatte als Aufsichtsbehörde unter anderem darüber zu wachen,
dass die gesetzlichen Erlasse auch ausgeführt wurden.
Lehrplan und Lehrmittel
Aufgrund des
Unterrichtsgesetzes wurden die Lehr- oder Unterrichtsgegenstände, die
verbindlichen minimalen Unterrichtsziele festgelegt und zweckmässige Lehrmittel
erarbeitet. Zum bisher dominierenden Fach Biblische Geschichte kamen Deutsche
Sprache (Lesen, Schreiben, Grammatik, Aufsatz), Rechnen und Geometrie,
Geschichte, Geographie, Naturkunde, Singen, Zeichnen und Schönschreiben dazu.
Bei den Realfächern wurden die Bedürfnisse des damaligen praktischen Lebens
(Landwirtschaft, Gewerbe) berücksichtigt.
Für sämtliche Fächer
wurden durch einheimische Autoren neue Lehrmittel geschaffen und mit ausführlichen
methodischen Anleitungen zur richtigen Verwendung ergänzt. Diese stellten für
die damalige Zeit eigentliche Pionierleistungen dar und wurden zum Teil während
50 Jahren verwendet. Wichtiger Verfasser von Lehrmittel war Thomas Scherr. Die
jeweilige Entwicklungsstufe der Kinder wurde stärker als bisher beachtet und
zeitgemässe methodische und psychologische Grundsätze einbezogen. Bei der
Gestaltung der Lehrmittel wurde für die Unterstufe eine ausgeprägte Veranschaulichung
und Unterrichtsinhalte aus der nächsten Umgebung des Kindes ausgewählt. Das
erste 1833 bei Orell-Füssli erschienene Lesebuch für Elementarschüler von
Thomas Scherr (1831 in den neuen
Erziehungsrat gewählt) enthielt „Stoff zur Übung im tonrichtigen und
wohllautenden Lesen, Aufgaben zu Sprach- und Verstandesübungen, Beispiele zur
Anregung und Entwicklung der Gemütsanlagen“. Später wurden hervorragende
Lehrmittel auf mathematisch-naturwissenschaftlicher Grundlage vom Küsnachter
Seminardirektor Heinrich Wettstein geschaffen. Sein Tafelwerk erhielt
internationale Anerkennung, wurde an der Weltausstellung von 1873 in Wien
präsentiert und der Leitfaden wurde in mehrere Sprachen übersetzt
(Wikipedia)
Schulwandbild
zur Dampfmaschine von Heinrich Wettstein um 1880 für den Naturkundeuntericht
der Sekundarschule
Lehrerbildung
Der Kern der Reorganisation des Schulwesens war die
Lehrerbildung. Noch im Jahr 1832 wurde das Seminar in Küsnacht mit 35
Teilnehmern unter dem ersten Direktor Thomas Scherr eröffnet. 1833
folgte die Eröffnung der Universität
Zürich. Erfahrene Lehrer boten an den Lehrerseminaren eine
praxisorientierte Ausbildung, um die Junglehrer gründlich auf die
Klassenführung vorbereiten zu können. 1874 beschloss der Erziehungsrat die
Aufnahme von Töchtern ans staatliche Lehrerseminar Küsnacht. 2002
wurden im Kanton Zürich die Pädagogische Hochschule gegründet und elf praxisorientierte
Lehrerseminare abgeschafft. Die Lehrerausbildung wurde regelrecht akademisiert. Viele
Junglehrer kommen in der Praxis mit der Schulsituation nicht zurecht, sind
überfordert und verlassen die Schule.Chancengleichheit statt Integration
Der Geschäftsbericht
der Zürcher Stadtschulpflege von 1893 hatte sich schon damals gegen die „Integration“
ausgesprochen, weil die Klasse (heutige „Regelklasse“) nicht dazu bestimmt war,
schwache Schüler in ein Getto abzuschieben, sondern man ihnen gezielt helfen
wollte:
„So lässt man solche
armen Kinder in ihrer Klasse sitzen, ohne sich weiter zu bekümmern, was aus
ihnen wird. Sucht der Lehrer sie nachzubringen, so werden sie übermüdet. Das
Lernen verleidet ihnen, ihre Jugendfreude wird durch das Gefühl verkümmert, bei
allem guten Willen doch immer die letzten, die ungeschickten, die oft
getadelten zu sein. Vom Wunsche beseelt, auch solchen Kindern soweit als möglich
zu helfen, ist man dann in Deutschland und in neuerer Zeit auch in Basel und
St. Gallen dazu gekommen, besondere Klassen für solche Schüler zu eröffnen“.
Die Stadtschulpflege
eröffnete 1891 die erste Spezialklasse für „Schwachbegabte“ mit 17 Kindern im
Alter von 8 bis 14 Jahren. Zu den Erfahrungen mit den neuen Kleinklassen heisst
es im Geschäftsbericht:
„Gerade der Umstand,
dass trotz der vermehrten Hilfsmittel und bei den elementarsten Anforderungen
ein grosser Teil der Schüler monatelang individuell behandelt werden muss, um
einiges Selbstvertrauen und die unentbehrliche Lernfreudigkeit bei ihnen zu
erzielen, dass damit ein erheblicher Fortschritt auch bei den schwächsten Schülern konstatiert werden kann, wo man
beinahe alle Hoffnung auf irgendwelchen Unterichtserfolg aufgeben zu müssen
glaubte, ist ein Beweis dafür, dass die Volksschule [mit der Regelklasse]
unmöglich allen ihren Insassen völlig gerecht zu werden vermag.“
Homogenität und Promotion
Damit möglichst alle
Kinder das Klassenziel erreichen zu konnten, wurde eine grösstmögliche
Homogenität angestrebt. Zur einheitlichen und praktischen Regelung der
Beförderung der Schüler in die nächste Klasse hatte man bereits um 1890 die
sogenannten Promotionsprüfungen eingeführt. Im Schuljahr 1988/89 mussten 1,4 Prozent aller
Primarschüler die vorherige Klasse wiederholen. Im Promotionsreglement vom 30.
Mai 1989, Artikel 2, hiess es dazu:
„Für Schüler, welche
dem Unterricht nicht zu folgen vermögen, kann am Ende des Schuljahres auf den
Antrag des Lehrers die Wiederholung der Klasse angeordnet werden. Ausnahmsweise
kann ein Schüler auch während des Schuljahres in die untere Klasse versetzt
werden. Vorgängig ist zu prüfen, ob die Schwierigkeiten des Schülers durch
Massnahmen im Rahmen des Klassenverbandes oder durch Stütz- und
Fördermassnahmen behoben werden können.“
Demokratische Lehrerwahl bis 1995
Kann die Volksschule ohne direkte Demokratie
überleben?
Seit den 1990er Jahren wurde ohne äussere Not gleichzeitig
mit einer Reihe von Schulreformen der Abbau der Demokratie in der Volksschule von
oben vorangetrieben. Die Lehrer hatten
pädagogische Freiheit ohne Hierarchie, bis der Hausvorstand als „primus inter
pares“ ab 1990 sukzessive durch den neuen, nicht mehr vom Volk gewählten,
Schulleiter abgelöst wurde. 1995 wurde die demokratische Urnenwahl der Lehrer
abgeschafft. Der vom Volk gewählten Bezirksschulpflege wurde zuerst die
Beurteilung der Lehrpersonen entzogen, 1996 wurde sie halbiert und 2007
abgeschafft. Mit der Umbennung des Erziehungsrates zum Bildungsrat wurde der
Schulsynode (2 Lehrer) und dem Kantonsrat (4 Mitglieder) die Wahl der
Mitglieder entzogen. Die Verankerung der Schulsynode
wurde 1998 aus der Verfassung des Kantons Zürich gestrichen. Die bisherige Vollversammlung der Lehrer, die Synodalversammlung, wurde
2004 abgeschafft. Den vom Volk gewählten Schulpflegen wurden mit der Einsetzung
der Schulleiter Kompetenzen entzogen. Sie wurden marginalisiert und in einzelnen
Kantonen bereits abgeschafft. Die Auflösung der
Schulgemeinden, rechtlich eine politische Gemeinde, die Aufgaben der
Volksschule wahrnimmt, ist weit fortgeschritten.
Der damalige
Bildungsdirektor des Kantons Zürich wollte keine schrittweise Umsetzung der Schulreform,
sondern ein politisches Gesamtpaket mit 14
Reformvorhaben, vorerst nicht auf Gesetzesebene sondern mittels
unterschiedlicher Schulversuche wie der teilautonomen Volksschule TaV, welche
die Installierung einer Schulleitung vorsah.
Mit weiteren neuen TaV-Schulen wurde eine flächendeckende Abdeckung
angestrebt. Ein Teil der „Schulentwicklungsforschung“ liess sich mit den Zielen
des Globalisierungswerkzeugs „New Public Management NPM“ verbinden, um die
Volksschule in ein Unternehmen mit straffer und eingleisiger Hierarchisierung
zu verwandeln. Dazu wurde die Schulreform sprachlich näher an die
Verwaltungsreform (wif!) gebracht. Die Lehrpersonen und die Bezirksschulpflegen
lehnten jedoch das Reformpaket ab. Unter dem Deckmantel angekündigter
Sparmassnahmen wollte der Bildungsdirektor die Bezirksschulpflege in Eigenregie
halbieren. Das Bundesgericht musste bemüht werden, um den Magistraten vom hohen
Sockel zu holen. Das Zürcher Stimmvolk schickte 2002 das neue Volksschulgesetz,
mit dem die Reformen gesetzlich sanktioniert werden sollten, bachab.
Die kantonale Hoheit
im Bildungswesen wurde durch die nicht demokratisch legitimierte
Erziehungsdirektorenkonferenz EDK ausgehebelt. Der Zürcher Regierungsrat bezog
die EDK-Empfehlungen in seine Entscheidungsfindung ein und verwies auch auf
internationale Forschung und auf Empfehlungen der OECD. Wichtige
Reformelemente des Lehrplans 21 wurden mit dem «Projekt Schule 21» von 1995 bis
2003 im Rahmen der Wirkungsorientierten
Verwaltungsführung (NPM wif!) in Versuchsschulen im Kanton Zürich
eingeführt. Der Lehrplan 21 wurde damit gleichsam vorweg genommen. 1999 wurde
damit gerechnet, die Schule 21 in drei bis vier Jahren flächendeckend
umsetzen zu können. Der Lehrplan
21 wurde von der extra dafür eingesetzten D-EDK an Parlament und Volk vorbei
eingeführt, mit dem de facto die Methoden- und Lehrmittelfreiheit abgeschafft
wurde.
(Wikipedia)
Schulwandbild für den Unterricht in der Naturkunde von Heinrich
Wettstein
Welche Schulbildung braucht es für den Erhalt
der Demokratie?
Nach der Katastrophe
des Zweiten Weltkriegs befassten sich die Protagonisten der österreichischen Schulversuche
der Vorkriegszeit mit der Schulerneuerung. Mit einer
pädagogisch-psychologischen Analyse untersuchten sie die
Entstehungsvoraussetzungen totalitärer Systeme und überlegten sich, welchen
Beitrag die Schule leisten konnte, um die Demokratie in der Zweiten Republik
gegenüber totalitären Bestrebungen widerstandsfähiger zu machen. Sie kamen zum
Ergebnis, dass den Bürgern in der ersten Republik die Demokratie noch nicht zum
Lebensstil geworden sei und dass in der Schule deshalb das Erzieherische gegenüber
dem Methodischen eine Vorrangstellung haben musste. Dabei sollte vor allem das
Leben sozialer Tugenden wie Selbständigkeit, Verantwortungsbewusstsein,
Hingabe, Opfersinn, Toleranz, Arbeitsfreude, Selbstbeschränkung gefördert
werden, als Beitragsleistung zur Erreichung einer höheren Seinsform der
menschlichen Gemeinschaft. Dies war nach Auffassung der Leiter der
Schulversuche nur durch den Einbezug der Tiefenpsychologie in die Pädagogik zu
erreichen. Das Ziel der Fortführung der individualpsychologischen Schulversuche
in Wien in der Nachkriegszeit war deshalb, die tiefenpsychologischen
Erkenntnisse für die Schule nutzbar zu machen.
Quellen:
Schulamt der Stadt
Zürich (Hrsg.): 150 Jahre Zürcher
Volksschule. Schule und Elternhaus, Heft 4, Zürich 1982.
Peter Ziegler: Die Volksaufsicht an den Zürcher Schulen
von 1830 bis 1993. Herausgeber:
Edmond M. Ermertz, Ferdinand F. Hürlimann, 1993
Stephanie
Appius, Amanda Nägeli: Zürich:
Schulreform als poltisches Gesamtpaket. In: Schulreformen im
Mehrebenensystem: Eine mehrdimensionale Analyse von Bildungspolitik. Springer
VS, Springer Fachmedien, Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-658-16850-6
Alessandro Pelizzari: Die Ökonomisierung
des Politischen: new public management und der neoliberale Angriff auf die
öffentlichen Dienste. Konstanz 2001, ISBN
3-89669-998-9
Lengwiler, Martin;
Rothenbühler, Verena; Ived, Cemile: Schule
macht Geschichte: Geschichte der Zürcher Volksschule, 1832-2007. Zürich:
Lehrmittelverlag des Kantons Zürich, Zürich 2007.
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