Viele
Jugendliche bekunden grosse Mühe mit der verordneten Isolation. Ihre
Emotionskontrolle ist noch unausgereift.
Corona - ein Albtraum auch für Jugendliche, NZZ, 2.4. von Allan Guggenbühl
Inzwischen hat die
Realität die Jugendlichen eingeholt. Für viele wurde die schulfreie Zeit zu
einer riesigen Herausforderung oder gar zu einem Albtraum. Obwohl die
Lehrpersonen dank der Digitalisierung, Kontakttagen und speziellen Präparationen
grosse Anstrengungen unternehmen, weiterhin zu unterrichten, sind die
Jugendlichen mit der neuen Situation überfordert. Die Nähe zu den Eltern führt
zu Konflikten. Man ist ihnen ausgeliefert. Das Streben nach Unabhängigkeit und
einer eigenen Identität wird blockiert. Der mütterlichen Fürsorge kann man nur durch
Rückzug ins eigene Zimmer entfliehen, und das Herumtigern des Vaters regt einen
auf.
Andere Jugendliche setzen die Eltern als Hilfskräfte bei den Schulaufgaben
ein, provozieren regelmässig Streite, um ihre Frustrationen abzureagieren.
Familiäre Konflikte eskalieren, Gewalt droht. Wieder andere Jugendliche
kompensieren ihre Unsicherheit durch eine unnatürliche Beflissenheit, wenn es
um die Aufgaben der Schule geht, und nicht wenige verfallen in eine Depression.
Zweifel an sich selber brechen auf, und Komplexe werden aktiviert. Sie beginnen
am Sinn des Lebens zu zweifeln und wissen nicht weiter.
Die meisten
Jugendlichen verfügen nicht über die Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung, um
die verordnete Isolation ruhig zu ertragen. Ihre Emotionskontrolle ist noch
nicht ausgereift, Anweisungen der Erwachsenen begegnen sie mit Skepsis, und
ausserdem wäre eine gewisse Distanz zu den Eltern angesagt. Die Begründungen
der politischen Akteure erreichen nicht alle, und alternative Erklärungen
werden attraktiv: Die Corona-Krise sei bewusst von den Chinesen ausgelöst
worden, um die Weltherrschaft zu übernehmen. Die Isolation widerspricht den
Bedürfnissen ihrer Entwicklungsphase. – Die Schule leistet Grossartiges, um das
Lernprogramm digital weiterzuführen. Die Schule hat für Jugendliche jedoch auch
Funktionen, die nichts mit dem Lernen zu tun haben. Aus ihrer subjektiven Warte
sind Stoffvermittlung und Lernen sekundär. Sie sehen in der Schule vor allem
einen Raum, wo man gleichaltrige Kollegen und Kolleginnen trifft und
Eigenständigkeit probt. Man kann mit den Mitschülern News austauschen,
klatschen, flirten, blödeln, über Lehrpersonen und Eltern lästern oder einfach
zusammen sein. Jugendliche erfahren sich als soziale Wesen, können
experimentieren und neue Kontakte knüpfen. Unter dem Radar der Erwachsenen
werden Gegenwelten inszeniert, die für die eigene Identitätsentwicklung wichtig
sind. Die Lehrpersonen bleiben wichtige Akteure. Oft repräsentieren sie einen
Gegenpol zur eigenen Haltung. Ihr persönlicher Einsatz und ihre Aufregung
dienen als Orientierungshilfe. Lehrpersonen haben sich jedoch auf den
Unterricht zu konzentrieren, auch wenn sie realisieren, dass diese emotionalen
Prozesse und persönliche Begegnungen entscheidend für eine erfolgreiche Schule
sind.
Diese Bedeutung der Schule verhilft vielen Jugendlichen zu emotionaler
Stabilität. Die Nähe zu den Eltern ist ertragbar, weil man sich zwischendurch
abmelden und den sozialen Dynamiken und Kontakten der Schule widmen kann.
Aspirationen werden ausgelebt, Interessen verfolgt, Trends wird nachgegangen,
und eigene Grenzen werden getestet. Die Schule ist für Jugendliche eine Arena,
wo man sich individuieren darf, ohne dass Erwachsene dreinreden. Wenn diese
entfällt, dann droht eine innere Leere, die sich auf die psychische
Befindlichkeit auswirkt. Depressive Reaktionen, Familienkonflikte und sogar
Gewalt können die Folge sein.
Online-Lernen und -Kontakte sind
Überbrückungshilfen, doch sie genügen nicht, um diese schwierige Zeit
durchzustehen. Jugendliche müssen auch in ihrer Psycho-Emotionalität abgeholt
werden. Eine Möglichkeit ist der systematische Einsatz von Geschichten über
Grunderfahrungen und Dilemmas des Lebens. Es kann sich um persönliche Berichte
der Eltern oder Fremdgeschichten handeln, die im Familienkreis erzählt werden,
oder eine fortlaufende Online-Geschichte, wie es im Projekt «Kinder helfen
Kindern über Geschichten» gemacht wird. Jugendliche brauchen auch weiterhin
Tätigkeiten, damit sie sich ausserhalb der Familie profilieren können:
Zeitungsvertragen, Nachbarschaftshilfe, Einkaufen, Kochen. Über Geschichten
oder Tätigkeiten bleiben sie mit der Aussenwelt verbunden, und es drohen
weniger innerfamiliäre Konflikte.
Allan Guggenbühl, Psychologe und Pädagoge,
leitet das Institut für Konfliktmanagement und Mythodrama in Zürich und Bern
und lehrt an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Zürich.
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