Sehr geehrte
Damen und Herren
Gestatten Sie
mir, dass ich Ihnen eine Angelegenheit unterbreite, welche in unserem Kanton
nicht nur für Gesprächsstoff, sondern zunehmend auch für Ärger und Missstimmung
sorgt. Es geht um die Integration in den Volksschulen. Bekanntlich sollen
gemäss Theorie sämtliche Kinder in Normalklassen eingeteilt werden, auch wenn
sie zum Teil erheblichen Förderbedarf infolge Beeinträchtigungen aller Art
aufweisen. Dieses System wurde von Fachleuten von allem Anfang an als
untauglich beurteilt; trotzdem setzten es seine Befürworter aus ideologischen
Gründen in Kraft und halten auch heute noch krampfhaft daran fest, obwohl die
Mängel immer offenkundiger und die Proteste zusehnds lauter werden.
Offener Brief an die Mitglieder des Bildungsrates Kt. Zürich, 12.3. von Hans-Peter Köhli
Nur: unter dem
Wort „Mängel“ können sich die wenigsten Leute etwas vorstellen. Deshalb erlaube
ich mir, nachstehend eine Situation zu beschreiben, welche in manchen
Schulzimmern der verschiedenen Stufen leider momentan häufig vorkommt, ohne
dass dies den massgebenden Leuten in Politik und Behörden bewusst ist. Als
Freiwilliger der Pro Senectute besuche ich seit Jahren Kindergärten, was mir
viel Spass und Freude bereitet. Ich bewundere auch das Wirken der
Kindergärtnerinnen, welche ihre Aufgabe hervorragend versehen, obwohl die
Anforderungen mit fremdsprachigen, zugezogenen Kindern aus anderen Kulturkreisen
einerseits und den obgenannten „Integrierten“
immer anspruchsvoller werden.
So einem
Kindergarten mit 20 Kindern wurde vor einiger Zeit ein Knabe zugeteilt, weil es
offenbar an einem andern Ort zu „Schwierigkeiten“ mit ihm gekommen war. Das verwundert
nicht. Beim meinem Eintreffen an einem Vormittag sass er lächelnd in einer
Ecke, eng „bewacht“ von einer Klassenassistentin. Lässt man ihn frei, bewegt
er sich im Zimmer nach Lust und Laune, macht, was er will und fügt sich in keiner
Weise den Anordnungen der Kindergärtnerin. Sollten die Kinder ruhig im Kreis
sitzen, rennt er herum oder wälzt sich am Boden, sollte es leise sein, kräht
er laut hinaus, neckt und plagt die andern oder wirft Gegenstände herum.
Sollten die Kinder nach dem Spielen im Freien nach einem Signal zurück zum
Besammlungsort, kann man meist vergessen, dass dieser Bub auch kommt. Er muss
z.B. irgendwo hinter einem Gebüsch persönlich mit Gewalt abgeholt werden, und
es ist nicht ausgeschlossen, dass beim Vorbeigehen an den Kameraden ein anderer
noch mit einem Fusstritt in den Hintern bedient wird. Sanktionsmöglichkeiten gibt es praktisch
keine oder sie beeindrucken überhaupt nicht. Die Assistentin kann höchstens mit
ihm in den Korridor dislozieren und ihn dort unter vier Augen irgendwie
unterhalten oder eben gar festhalten; ein normales Eingliedern in den
Klassenverband ist unmöglich.
Sehr geehrte
Frau Bildungsdirektorin, sehr geehrte Damen und Herren! Das kann es ja wohl
nicht sein. Solche Szenen sind einer normalen Klasse unserer Volksschule
schlicht und einfach unwürdig, und es handelt sich nicht um einen Einzelfall.
Eine gezielte, regelmässige Therapie durch eine heilpädagogisch ausgebildete
Person fehlt. Es ist reiner Irrwitz: Irgendeine Hilfskraft wird quasi nur
deshalb als Assistentin eingestellt, um einen einzigen Buben zu beaufsichtigen!
Schulleitung und Schulpflege sind informiert. Von dort heisse es nur, man könne
nichts machen. Das Volk habe abgestimmt und diese Integration gewollt.
Nein, behaupte ich
mit aller Entschiedenheit. Das Stimmvolk wünscht ganz sicher keine solchen
Zustände; es hörte leider im Abstimmungskampf auf all die Schalmeien, welche
die Integration in höchsten Tönen anpriesen. Dabei war schon vor Einführung
klar, dass niemals genügend Therapeutinnen zur Verfügung stehen würden, um die
Versprechungen einzuhalten und dass viele Fachleute auch aus andern Gründen ein
Fiasko kommen sahen. Wenn nun die Schulhäuser von der Bildungsdirektion mit
Assistenzen geflutet werden, ist das eine völlig untaugliche Lösung. Diesen
Zusatzkräften verschiedenster Provenienz
ist es ja gemäss Erlass explizit untersagt, therapeutische Handlungen
vornehmen; sie können nur allgemein beschränkt etwas helfen, weil die pädagogische
Ausbildung und meist auch die nötige Erfahrung fehlt. Niemandem ist mit
derartigen Abläufen geholfen.
∎ Am
meisten zu bedauern ist dieser Knabe selber. Er hat offensichtlich Probleme,
ist vermutlich irgendwie traumatisiert und bedürfte einer klaren
heilpädagogischen Behandlung. Könnte eine Therapeutin in einer seiner mitunter
auch einmal vorkommenden ruhigeren Phasen gezielt mit ihm arbeiten, liessen
sich vermutlich langfristig doch gewisse Fortschritte erzielen. Die
Zwangseingliederung in einen normalen Kindergarten bringt ihm jedoch überhaupt
nichts, sondern ist ein total falsches Rezept und verschlimmert nur seine
tragische Situation.
∎ Hut
ab vor der Kindergärtnerin, die durchhält, auf die Zähne beisst und versucht,
trotz allem den Betrieb noch aufrecht zu erhalten. Es ist jedoch eine Zumutung,
der Lehrperson nebst den üblichen Herausforderungen (auch bei den andern Kinder
sind längst nicht alles Engel!) noch einen derart harten Brocken aufzuladen.
Vielerorts schwindet deshalb die Bereitschaft, solches noch länger mitzumachen,
immer mehr.
∎ In
höchstem Masse ungünstig ist das Geschehen für die übrigen Kinder. Die ganze
Atmosphäre im Kindergarten ist beeinträchtigt. Ständig muss man mit
irgendwelchen Eskapaden dieses Buben rechnen. Einige scheue Kinder bekunden Angst,
während bei anderen die Gefahr besteht, dass sie sich beeinflussen lassen und
auch ins Fahrwasser von Allotria und Befehlsverweigerung geraten.
∎ In grossem Masse betrogen kommen sich
die Eltern vor, welche derartige Kinder mit Förderbedarf in die Regelklassen
abgeben bzw. abgeben müssen. Wie oben erwähnt wurde vor den betr.
Reformabstimmungen beteuert, besonders ausgebildete Heilpädagoginnen würden
alles tun, um solchen Kindern im Rahmen einer Normalklasse grösstmöglichste
Unterstützung angedeihen zu lassen. Oft ist man nun aber in keiner Weise in der
Lage, dieses Versprechen einzuhalten. Und weil die Prognosen punkto Kinderzahl
in den nächsten Jahren einen enormen Anstieg voraussagen, ist auch mit
zunehmendem Bedarf an Heilpädagoginnen zu rechnen, die künftig trotz vermehrter
Rekrutierung erst recht fehlen werden.
∎ Aber auch den Eltern der „normalen“
Kinder bleiben die Geschehnisse auf die Dauer nicht verborgen; gewisse Kinder
rapportieren genau, was im Chindsgi läuft. Die einen Eltern dürften sich
fragen, was denn da los ist, bei andern stellt sich schon rasch Empörung ein
und manch ein Elternpaar findet wohl wie jeder aussenstehende Beobachter auch,
dieser Aufwand für ein einziges Kind sprenge jeden Rahmen.
∎ Bewusst
zuletzt sei auch auf die Finanzen hingewiesen. Wir sind uns wohl einig: bei der
Bildung soll wenn möglich nicht gespart werden. Aber hier drängt es sich schon
auf, etwas zu rechnen. Irgendeinmal wird dann auskommen, was all diese
Klassenassistenzen kosten, obwohl sie die Misere überhaupt nicht beheben. Und
man wird mit jenem Betrag vergleichen müssen, der die Wiedereinführung von
Kleinklassen kosten würde, welche in der Sache dem Assistenzmodell weit
überlegen sind. Ich wage zu behaupten, die Aufwendungen für Kleinklassen wären
klar geringer, und ein Einschreiten würde sich auch in finanzieller Hinsicht
lohnen.
Man könne
„nichts machen“, heisst es. Doch! Andere Behörden handelten und gaben zu, dass
sich die Idee mit der Integration nicht bewährt hat. Es fiel ihnen deshalb kein
Zacken aus der
Krone. Der Kanton Basel Stadt hat in vorbildlicher Weise wieder
heilpädagogische Kindergärten und heilpädagogische Klassen auf Primar- &
Oberstufe eingeführt, die sogenannten „SpA“, „Klassen mit Spezialangeboten“.
Abgesehen davon existieren auch im Kanton Zürich Gemeinden, welche auf eigene
Faust bereits wieder mit gewissen Kleingruppen arbeiten und es wagen, sich dem
unsinnigen Diktat von oben zu widersetzen.
Ängstliche
Stimmen geben vielleicht zu bedenken, mit der Rückkehr zu Kleinklassen würde
der Kanton Zürich einen Volksentscheid missachten. Erstens, wie oben erwähnt,
wurde das Volk vor der Abstimmung in Sachen Therapeutinnen brandschwarz
angelogen, und es will sicher kein Tohuwabohu in seinen Schulklassen. Zweitens
nehmen es Bildungsdirektion und Pädagogische Hochschule mit der exakten
Durchsetzung von Volksentscheiden und dem Respekt vor dem Stimmvolk auch nicht
immer peinlich genau. Stichwort Grundstufe...
Als
Stimmbürger unseres Kantons fordere ich deshalb den Bildungsrat des Kantons
Zürich auf, endlich, aber nun raschmöglichst, wieder flächendeckend die früher
bewährten Kleinklassen mit heilpädagogisch ausgebildetem Personal einzuführen. Es wäre unverantwortlich, noch lange
zuzuwarten. Nicht nur für verhaltensgestörte Kinder sind solche Abteilungen
vorzusehen, sondern je nach Bedarf auch für das ganze Spektrum der früheren
Typen A, B, C, D und E. Dies allerdings darf keinesfalls auf Konto der
Gemeinden erfolgen, sondern muss der früheren Finanzregelung im
sonderpädagogischen Sektor entsprechen.
Was den
Namen der neuen Einrichtung betrifft, wäre meines Erachtens durchaus
vorstellbar, sich den Baslern anzuschliessen. Ältere Leute erinnern sich noch gut,
dass die heilpädagogischen Klassen bei uns aus taktischen Gründen mehrmals den
Namen wechselten, obwohl Aufgaben und Ziele nicht änderten: Hilfsklasse,
Spezialklasse, Sonderklasse, Kleinklasse und jetzt – ja, die schlauen Basler
haben Recht. Mit der freundlich wirkenden Bezeichnung „Klassen mit
Spezialangeboten“ bzw. „Kindergärten mit Spezialangeboten“ und der Abkürzung
„SpA“ hat man de facto die Sonderklassen wieder – aber das SPA tönt weit besser
und weckt zudem positive Assoziationen, während gleichzeitig die Schulbehörden
ihr Gesicht wahren können.
Noch ein
letzter Hinweis: Es läuft einem kalt den Rücken hinunter, wenn man erfährt, wie
gross der zunehmende Bedarf an Lehrpersonen aller Art in den nächsten Jahren
sein wird. Der Bildungsrat täte gut daran, auch diesen Gesichtspunkt prioritär
in seine Überlegungen einzuschliessen. Was in solchen Klassen wie der
beschriebenen geschieht, spricht sich herum und ist alles andere denn Werbung
für die sonst schöne und befriedigende Tätigkeit einer Lehrerin oder eines
Lehrers. Der Beruf sollte aber unbedingt wieder eine positive Ausstrahlung
bekommen; steigende gesellschaftliche Anerkennung
würde
garantiert ebenfalls mithelfen, den nötigen Nachwuchs problemlos zu gewinnen.
Mit
freundlichen Grüssen
Hans-Peter
Köhli
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen