8. September 2020

Zürich will Sonderschulquote senken

Die Schulkinder im Kanton Zürich sind, so scheint es, immer schwieriger zu erziehen: Die Zahl der Sonderschüler hat sich innert 15 Jahren mehr als verdoppelt, von 3000 auf über 6000. Heute besuchen 4 Prozent aller Kinder eine Sonderschule - obwohl der Kanton einen Grenzwert von 3,5 Prozent festgelegt hat. Aber bisher verpufften alle Versuche des Volksschulamts, wirksam Gegensteuer zu geben.

Volksschulamtschefin Myriam Ziegler kündigt deshalb einen neuen Anlauf an, das System in den Griff zu bekommen. «Wir wollen die Quote zuerst stabilisieren und dann wieder senken», sagt sie. Ihre Stossrichtung: das Personal in den Regelklassen so stärken, dass diese jene Buben und Mädchen mittragen können, die Mühe mit dem Schulstoff haben. So soll verhindert werden, dass zu viele dieser Kinder zu Sonderschülern erklärt werden. 


Woher kommen die Sonderschüler? Tages Anzeiger, 8.9. von Marius HuberDenn die Annahme, dass die Schulkinder im Kanton zunehmend schwieriger werden, ist ein Trugschluss. Philippe Dietiker, im Volksschulamt für die Besondere Förderung verantwortlich, sagt: «Der Grund für die hohe Quote ist nicht in erster Linie bei den Kindern zu suchen.» Die Ursache sei zu einem guten Teil ein Systemfehler. Dieser verleitet dazu, Sonderschüler zu produzieren. 

Dietiker spricht von einem «Ventileffekt», der Kinder in die integrierte Sonderschulung spült, obwohl sie dort nicht hingehören. Das funktioniert so: Viele benötigen aus relativ harmlosen Gründen Hilfe im Unterricht, etwa weil sie ein Aufmerksamkeitsdefizit, ein Motivationsproblem oder auch eine spezielle Begabung haben. Für solche Fälle wäre die integrative Förderung (IF) gedacht: Eine Heilpädagogin kommt in die Klasse und kümmert sich stundenweise um die betroffenen Kinder. Wer diese Art der Hilfe in Anspruch nimmt, taucht nicht in der Sonderschülerstatistik auf.



Druck hat sich verlagert

Der Haken: Das Angebot an IF-Massnahmen wurde bewusst begrenzt. Man wollte so verhindern, dass zu viele Kinder ein Spezialprogramm erhalten, weil etwa Eltern darauf pochen oder Lehrer Unterstützung fordern, denen der Aufwand zu gross ist. Passiert ist aber etwas anderes: Wo der Druck gross ist und die Nachfrage das begrenzte Angebot übersteigt, werden Kinder oft einfach weitergereicht - in ein integriertes Sonderschulprogramm.

Auch dieses findet in der Regelklasse statt. Es ist aber eigentlich für Kinder mit einer Behinderung oder einer gravierenden Verhaltensauffälligkeit gedacht, die die normalen Lernziele häufig nicht erfüllen können und oft eine aufwendigere Betreuung brauchen. Vor allem aber hat das Sonderschulprogramm eine unbegrenzte Anzahl Plätze. Zumindest solange die lokalen Behörden bereit sind, die Kosten zu tragen. Damit wird das Programm zum Überdruckventil, wenn es keine IF-Plätze mehr gibt.

Dieser Ventileffekt erklärt den Anstieg der Sonderschulungsquote, er vermag aber nicht die frappanten Unterschiede zwischen den Gemeinden zu erklären. Manche scheinen immun gegen den Effekt, andere sehr anfällig. Dies zeigen die jeweiligen Sonderschulungsquoten, die das Volksschulamt nun erstmals offenlegt - zumindest für Gemeinden mit mehr als 200 Schülerinnen und Schülern. 

In etwa der Hälfte dieser Gemeinden lag die Quote im Schnitt der vergangenen fünf Jahre über dem Grenzwert von 3,5 Prozent. Mancherorts kommt auf 14 bis 15 Kinder ein Sonderschüler, was eine Quote von über 6 Prozent ergibt. Mehr als drei Dutzend Gemeinden haben den Grenzwert in jedem einzelnen Jahr überschritten.

Auffallend ist, dass es kein einfaches Muster gibt, das diese Gemeinden verbindet. Neben den wohlhabenden Goldküstengemeinden Herrliberg und Uetikon finden sich Agglomerationsgemeinden wie Schlieren und Dietikon, neben den Winterthu rer Stadtkreisen Töss und Oberwinterthur kleine Landgemeinden wie Buchs oder Bauma-Sternenberg. Und für jedes Beispiel gibt es ein Gegenbeispiel. So hat Herrlibergs Nachbargemeinde Erlenbach keine Mühe, den Grenzwert einzuhalten. Das Gleiche gilt für Opfikon, obwohl dort ähnlich viele Ausländer und Sozialhilfebezüger leben wie in Schlieren.

Für Philippe Dietiker vom Volksschulamt ist daher klar: «Die Quote ist letztlich eine bildungspolitische Setzung.» Anders gesagt: Sie ist so hoch, wie sie eine Gemeinde haben will. Für viele Schulen ist diese Erkenntnis laut Dietiker überraschend. Sie seien lange davon ausgegangen, dass die Quote kaum beeinflussbar sei. Weil man glaubte, ein Sonderschüler lasse sich vom Schulpsychologen eindeutig und nach einheitlichen Messkriterien diagnostizieren. Dabei sei gerade die oft gestellte Diagnose der Verhaltensauffälligkeit stark abhängig vom gesellschaftlichen Umfeld. «Was in Zumikon eine Auffälligkeit ist, ist in Regensdorf vielleicht Klassennorm - und umgekehrt.»

Die Quote ist laut Dietiker also steuerbar. Und der Kanton möchte die Gemeinden dazu bewegen, sie tief zu halten. Nicht nur wegen der Kosten, an denen er sich beteiligen muss. «Wir finden es auch nicht sinnvoll, möglichst viele Kinder mit dem Etikett zu stigmatisieren, dass sie eine Beeinträchtigung haben.»

Grenzen der Freiwilligkeit

Der Kanton hat die Gemeinden vor einigen Jahren mit einem sogenannten Monitoring nervös gemacht, strengere Vorgaben blieben aber aus. Bislang beschränkte er sich darauf, seine Beratung anzubieten, wo der Grenzwert überschritten wird. Mitmachen ist freiwillig.

Dietiker ist sicher, dass die Einstellung einer Schule ein entscheidender Faktor ist - also die Frage, wie überzeugt Lehrpersonen und Schulleitung sind, dass sich Kinder mit Problemen in die Regelklasse integrieren lassen. Daher zielt die Beratung darauf ab, die Haltung der Lehrerteams zu verändern. Diese sollen sich zutrauen, auch verhaltensauffällige Kinder ohne sonderschulische Hilfe zu betreuen. Das überträgt sich oft auf die Schulpsychologen, die in der Folge seltener Sonderschulungen empfehlen, und eher eine Förderung in der Regelklasse.

Weil die Zahlen trotz solcher sanfter Massnahmen weiter steigen, prüft das Volksschulamt eine Korrektur des Systems. Klassenlehrerinnen und -lehrer sollen das Rüstzeug vermittelt bekommen, sich selbst um Kinder zu kümmern, die Mühe haben in der Schule, aber nicht behindert sind. 

Das bedeutet, dass die Lehrpersonen mehr Verantwortung übernehmen müssen. Absehbar ist, dass dieser Plan bei manchen auf Widerstand stossen wird. In einem Pilotprojekt an ausgewählten Schulen brachte es ein Lehrer so auf den Punkt: «Jetzt sollen wir also auch noch Heilpädagogen werden!» Nicht alle dürften die Neuerung mit Humor nehmen.

Ein heisses Eisen: Wie es sich die Schulen erklären

Gerne hätte der TA von auffälligen Schulen erfahren, wie sie sich die frappanten Unterschiede bei der Sonderschulungsquote erklären. Nach Gesprächen mit zwei Schulleiterinnen - eine mit tiefer, eine mit hoher Quote - entschieden diese aber, dass ein Vergleich zu heikel sei und sie deshalb nicht offen zu ihren Aussagen stehen wollen.

In den Gesprächen wurden unterschiedliche Einstellungen sichtbar, die entscheidend sein könnten. So sagte die Leiterin der Schule mit hoher Quote, dass in ihrer Gemeinde die Schere zwischen starken und schwachen Schülern sehr gross sei. Wenn man alle in der Klasse behalten wolle, sei dies zum Teil nicht ohne Sonderschulung möglich - dabei gehe es weniger um echte Verhaltensauffälligkeiten, sondern primär um die schulischen Leistungen.

Die Leiterin einer Schule mit tiefer Quote betonte, tiefe Noten allein seien nie ein Grund für eine Sonderschullösung. Eine solche werde nur Thema, wenn ein Kind wirklich leide - und dies äussere sich stets in auffälligem Verhalten wie Verweigerung, Rückzug oder Aggression.

Eine Rolle spielt, ob sich in der Schulleitung Personen mit Erfahrungen in Sonderpädagogik befinden, wie in der Schule mit tiefer Quote. Dort verlässt man sich weniger stark aufs Urteil des Schulpsychologen, wenn dieser eine Sonderschullösung empfiehlt. Jeder Fall wird im Team besprochen - mit dem Ziel, eine andere Lösung zu finden. Zudem wird jedes halbe Jahr geprüft, ob bestehende Sonderschulmassnahmen aufgehoben werden können. Beide Schulleiterinnen betonen aber, dass es auch Faktoren gibt, die sich nicht beeinflussen lassen: Gibt es etwa ein Heim im Ort oder zieht eine Familie mit verhaltensauffälligen Kindern zu, könne dies das Bild verzerren. (hub)

 

2 Kommentare:

  1. "das Personal in den Regelklassen so stärken, dass diese jene Buben und Mädchen mittragen können, die Mühe mit dem Schulstoff haben." Entweder Mehrarbeit für die Lehrer oder noch mehr Lehrkräfte im Schulzimmer.

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  2. Die 2006 gesetzlich verordnete Totalintegration ist gescheitert, weil man glaubte, mit der Aufhebung der von Heilpädagogen geführten Kleinklassen, würde das „Stigma“ des Sonderschülers sich in Luft auflösen. Offenbar taucht das „Stigma“ nun innerhalb der neu geschaffenen „Regelklasse“ wieder auf, obwohl das Sonderschulprogramm jetzt in der Regelklasse erfolgt. Weil man das Sonderschulprogramm nicht begrenzt hat, werden immer mehr Sonderschüler „produziert“.
    Anstatt wieder von Heilpädagogen geführte Kleinklassen einzuführen, will man aus den Lehrern in ein paar Weiterbildungstagen Heilpädagogen machen, während die Heilpädagogen-Ausbildung normalerweise 3 Jahre dauert. Die Lehrer sind jedoch bereits mit der Heterogenität der Regelklassen und dem ineffizienten individualisierten Lernen zeitlich überfordert. Die schlecht geredete Separation hat die Homogenität gefördert und damit den wirksamen und effizienten Direkten Unterricht ermöglicht, mit dem praktisch alle Schüler das jährliche Klassenziel erreicht haben. Die Totalintegration ist ein fundamentaler Systemfehler, der auch mit unbegrenzten Geldmitteln nicht behoben werden kann.

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