Die Schulkinder im Kanton Zürich sind, so scheint es, immer schwieriger zu erziehen: Die Zahl der Sonderschüler hat sich innert 15 Jahren mehr als verdoppelt, von 3000 auf über 6000. Heute besuchen 4 Prozent aller Kinder eine Sonderschule - obwohl der Kanton einen Grenzwert von 3,5 Prozent festgelegt hat. Aber bisher verpufften alle Versuche des Volksschulamts, wirksam Gegensteuer zu geben.
Volksschulamtschefin Myriam Ziegler kündigt deshalb einen neuen Anlauf an, das System in den Griff zu bekommen. «Wir wollen die Quote zuerst stabilisieren und dann wieder senken», sagt sie. Ihre Stossrichtung: das Personal in den Regelklassen so stärken, dass diese jene Buben und Mädchen mittragen können, die Mühe mit dem Schulstoff haben. So soll verhindert werden, dass zu viele dieser Kinder zu Sonderschülern erklärt werden.
Dietiker
spricht von einem «Ventileffekt», der Kinder in die integrierte Sonderschulung
spült, obwohl sie dort nicht hingehören. Das funktioniert so: Viele benötigen
aus relativ harmlosen Gründen Hilfe im Unterricht, etwa weil sie ein Aufmerksamkeitsdefizit,
ein Motivationsproblem oder auch eine spezielle Begabung haben. Für solche
Fälle wäre die integrative Förderung (IF) gedacht: Eine Heilpädagogin kommt in
die Klasse und kümmert sich stundenweise um die betroffenen Kinder. Wer diese
Art der Hilfe in Anspruch nimmt, taucht nicht in der Sonderschülerstatistik
auf.
Druck
hat sich verlagert
Der
Haken: Das Angebot an IF-Massnahmen wurde bewusst begrenzt. Man wollte so
verhindern, dass zu viele Kinder ein Spezialprogramm erhalten, weil etwa Eltern
darauf pochen oder Lehrer Unterstützung fordern, denen der Aufwand zu gross
ist. Passiert ist aber etwas anderes: Wo der Druck gross ist und die Nachfrage
das begrenzte Angebot übersteigt, werden Kinder oft einfach weitergereicht - in
ein integriertes Sonderschulprogramm.
Auch
dieses findet in der Regelklasse statt. Es ist aber eigentlich für Kinder mit
einer Behinderung oder einer gravierenden Verhaltensauffälligkeit gedacht, die
die normalen Lernziele häufig nicht erfüllen können und oft eine aufwendigere
Betreuung brauchen. Vor allem aber hat das Sonderschulprogramm eine unbegrenzte
Anzahl Plätze. Zumindest solange die lokalen Behörden bereit sind, die Kosten
zu tragen. Damit wird das Programm zum Überdruckventil, wenn es keine IF-Plätze
mehr gibt.
Dieser
Ventileffekt erklärt den Anstieg der Sonderschulungsquote, er vermag aber nicht
die frappanten Unterschiede zwischen den Gemeinden zu erklären. Manche scheinen
immun gegen den Effekt, andere sehr anfällig. Dies zeigen die jeweiligen
Sonderschulungsquoten, die das Volksschulamt nun erstmals offenlegt - zumindest
für Gemeinden mit mehr als 200 Schülerinnen und Schülern.
In
etwa der Hälfte dieser Gemeinden lag die Quote im Schnitt der vergangenen fünf
Jahre über dem Grenzwert von 3,5 Prozent. Mancherorts kommt auf 14 bis 15
Kinder ein Sonderschüler, was eine Quote von über 6 Prozent ergibt. Mehr als
drei Dutzend Gemeinden haben den Grenzwert in jedem einzelnen Jahr
überschritten.
Auffallend
ist, dass es kein einfaches Muster gibt, das diese Gemeinden verbindet. Neben
den wohlhabenden Goldküstengemeinden Herrliberg und Uetikon finden sich
Agglomerationsgemeinden wie Schlieren und Dietikon, neben den Winterthu rer
Stadtkreisen Töss und Oberwinterthur kleine Landgemeinden wie Buchs oder
Bauma-Sternenberg. Und für jedes Beispiel gibt es ein Gegenbeispiel. So hat
Herrlibergs Nachbargemeinde Erlenbach keine Mühe, den Grenzwert einzuhalten.
Das Gleiche gilt für Opfikon, obwohl dort ähnlich viele Ausländer und
Sozialhilfebezüger leben wie in Schlieren.
Für
Philippe Dietiker vom Volksschulamt ist daher klar: «Die Quote ist letztlich
eine bildungspolitische Setzung.» Anders gesagt: Sie ist so hoch, wie sie eine
Gemeinde haben will. Für viele Schulen ist diese Erkenntnis laut Dietiker
überraschend. Sie seien lange davon ausgegangen, dass die Quote kaum
beeinflussbar sei. Weil man glaubte, ein Sonderschüler lasse sich vom
Schulpsychologen eindeutig und nach einheitlichen Messkriterien
diagnostizieren. Dabei sei gerade die oft gestellte Diagnose der
Verhaltensauffälligkeit stark abhängig vom gesellschaftlichen Umfeld. «Was in
Zumikon eine Auffälligkeit ist, ist in Regensdorf vielleicht Klassennorm - und
umgekehrt.»
Die
Quote ist laut Dietiker also steuerbar. Und der Kanton möchte die Gemeinden
dazu bewegen, sie tief zu halten. Nicht nur wegen der Kosten, an denen er sich
beteiligen muss. «Wir finden es auch nicht sinnvoll, möglichst viele Kinder mit
dem Etikett zu stigmatisieren, dass sie eine Beeinträchtigung haben.»
Grenzen
der Freiwilligkeit
Der
Kanton hat die Gemeinden vor einigen Jahren mit einem sogenannten Monitoring
nervös gemacht, strengere Vorgaben blieben aber aus. Bislang beschränkte er
sich darauf, seine Beratung anzubieten, wo der Grenzwert überschritten wird.
Mitmachen ist freiwillig.
Dietiker
ist sicher, dass die Einstellung einer Schule ein entscheidender Faktor ist -
also die Frage, wie überzeugt Lehrpersonen und Schulleitung sind, dass sich
Kinder mit Problemen in die Regelklasse integrieren lassen. Daher zielt die
Beratung darauf ab, die Haltung der Lehrerteams zu verändern. Diese sollen sich
zutrauen, auch verhaltensauffällige Kinder ohne sonderschulische Hilfe zu
betreuen. Das überträgt sich oft auf die Schulpsychologen, die in der Folge
seltener Sonderschulungen empfehlen, und eher eine Förderung in der
Regelklasse.
Weil
die Zahlen trotz solcher sanfter Massnahmen weiter steigen, prüft das
Volksschulamt eine Korrektur des Systems. Klassenlehrerinnen und -lehrer sollen
das Rüstzeug vermittelt bekommen, sich selbst um Kinder zu kümmern, die Mühe
haben in der Schule, aber nicht behindert sind.
Das
bedeutet, dass die Lehrpersonen mehr Verantwortung übernehmen müssen. Absehbar
ist, dass dieser Plan bei manchen auf Widerstand stossen wird. In einem
Pilotprojekt an ausgewählten Schulen brachte es ein Lehrer so auf den Punkt:
«Jetzt sollen wir also auch noch Heilpädagogen werden!» Nicht alle dürften die
Neuerung mit Humor nehmen.
Ein
heisses Eisen: Wie es sich die Schulen erklären
Gerne
hätte der TA von auffälligen Schulen erfahren, wie sie sich die frappanten Unterschiede
bei der Sonderschulungsquote erklären. Nach Gesprächen mit zwei
Schulleiterinnen - eine mit tiefer, eine mit hoher Quote - entschieden diese
aber, dass ein Vergleich zu heikel sei und sie deshalb nicht offen zu ihren
Aussagen stehen wollen.
In
den Gesprächen wurden unterschiedliche Einstellungen sichtbar, die entscheidend
sein könnten. So sagte die Leiterin der Schule mit hoher Quote, dass in ihrer
Gemeinde die Schere zwischen starken und schwachen Schülern sehr gross sei.
Wenn man alle in der Klasse behalten wolle, sei dies zum Teil nicht ohne
Sonderschulung möglich - dabei gehe es weniger um echte
Verhaltensauffälligkeiten, sondern primär um die schulischen Leistungen.
Eine
Rolle spielt, ob sich in der Schulleitung Personen mit Erfahrungen in
Sonderpädagogik befinden, wie in der Schule mit tiefer Quote. Dort verlässt man
sich weniger stark aufs Urteil des Schulpsychologen, wenn dieser eine
Sonderschullösung empfiehlt. Jeder Fall wird im Team besprochen - mit dem Ziel,
eine andere Lösung zu finden. Zudem wird jedes halbe Jahr geprüft, ob
bestehende Sonderschulmassnahmen aufgehoben werden können. Beide
Schulleiterinnen betonen aber, dass es auch Faktoren gibt, die sich nicht
beeinflussen lassen: Gibt es etwa ein Heim im Ort oder zieht eine Familie mit
verhaltensauffälligen Kindern zu, könne dies das Bild verzerren. (hub)
"das Personal in den Regelklassen so stärken, dass diese jene Buben und Mädchen mittragen können, die Mühe mit dem Schulstoff haben." Entweder Mehrarbeit für die Lehrer oder noch mehr Lehrkräfte im Schulzimmer.
AntwortenLöschenDie 2006 gesetzlich verordnete Totalintegration ist gescheitert, weil man glaubte, mit der Aufhebung der von Heilpädagogen geführten Kleinklassen, würde das „Stigma“ des Sonderschülers sich in Luft auflösen. Offenbar taucht das „Stigma“ nun innerhalb der neu geschaffenen „Regelklasse“ wieder auf, obwohl das Sonderschulprogramm jetzt in der Regelklasse erfolgt. Weil man das Sonderschulprogramm nicht begrenzt hat, werden immer mehr Sonderschüler „produziert“.
AntwortenLöschenAnstatt wieder von Heilpädagogen geführte Kleinklassen einzuführen, will man aus den Lehrern in ein paar Weiterbildungstagen Heilpädagogen machen, während die Heilpädagogen-Ausbildung normalerweise 3 Jahre dauert. Die Lehrer sind jedoch bereits mit der Heterogenität der Regelklassen und dem ineffizienten individualisierten Lernen zeitlich überfordert. Die schlecht geredete Separation hat die Homogenität gefördert und damit den wirksamen und effizienten Direkten Unterricht ermöglicht, mit dem praktisch alle Schüler das jährliche Klassenziel erreicht haben. Die Totalintegration ist ein fundamentaler Systemfehler, der auch mit unbegrenzten Geldmitteln nicht behoben werden kann.