Wer mit offenen Augen
durchs Leben geht, erkennt verblüffende Zusammenhänge. So wurde 1985 auch der
relative Alterseffekt entdeckt, der den Sport bis heute prägt. Der kanadische
Psychologe Roger Barnsley besuchte ein Juniorenspiel der Lethbridge Broncos,
als seine Frau Paula im Matchprogramm blätterte und ihr auffiel, dass der
Grossteil der Spieler im Januar, Februar oder März geboren war. Im Sport wird
meist nach Jahrgang unterteilt, und die Älteren starten oft mit einem Vorteil,
der zu einer Aufwärtsspirale führen kann, der sie weit trägt. Bis heute tüfteln
Clubs und Verbände nach Gegenmitteln, um nicht spätgeborene Talente zu verpassen.
Der Altersunterschied wirkt sich besonders in Mathematik aus, Bild: Keystone
Haben Jüngere schlechtere Chancen in der Schule? Tages Anzeiger, 4.2. von Simon Graf
Der relative Alterseffekt
beschränkt sich aber nicht auf den Sport. Er ist überall dort feststellbar, wo
in Altersgruppen eingeteilt wird, also auch dort, wo es uns alle betrifft: in
der Schule. So sagt Urs Moser, Titularprofessor am Institut für
Bildungsevaluation der Universität Zürich: «Ende Kindergarten, Anfang Schule
kann fast ein Jahr einiges ausmachen. Die Älteren haben beim Schuleintritt
bessere kognitive, motivationale und emotionale Voraussetzungen.»
Das Phänomen ist
international breit erforscht. Gemäss einer englischen Studie aus dem Jahr 2013
(«When you are born matters») erzielten die Jüngeren eines Schuljahrgangs nicht
nur tiefere Noten, sie entwickeln sich auch sozial-emotional schlechter und
haben weniger Selbstvertrauen. Als Lösung wird unter anderem vorgeschlagen, die
Jüngeren und ihren Selbstwert zu stärken, indem man abgestuft nach Alter einen
Notenbonus vergibt. Ein Modell, das indes nicht praktikabel erscheint.
In der Mathematik haben es
die Jüngsten schwer
In der Schweiz
wurde der relative Alterseffekt in der Forschung bis dato kaum berücksichtigt.
Moser wirkte an einer 2008 publizierten Studie mit, bei der unter anderem die
Leistungskurve der Kinder nach relativem Alter ermittelt wurde. Dabei ergab
sich, dass die älteren Schüler generell einen Startvorteil haben, den die
Jüngeren in den folgenden drei Jahren nicht in allen Bereichen aufholen. In
Deutsch fällt es ihnen leichter als in Mathematik.
Interessant
wäre, ganze Studienjahrgänge nach Geburtsdaten zu analysieren. Die «Schweiz am
Wochenende» errechnete im Oktober 2017, dass es an Basler Gymnasien fast zehn
Prozent mehr Jugendliche hat, die in den ersten sechs Monaten eines
Schuljahrgangs geboren sind. Und titelte: «Geburtsmonat beeinflusst Karrierechance».
Bildungsforscher
Moser relativiert: «In der Schule wirkt sich das relative Alter nicht so stark
aus wie im Sport. Denn hier ist es nur ein Faktor von vielen.» Zu nennen wären
soziale Herkunft, Sprache oder Unterstützung der Eltern. Moser führt aus: «In
der Schule haben wir einen Schnitt durch die gesamte Population, bei
ambitionierten Jungsportlern eine selektive Gruppe von Talentierten und
Begeisterten. Und die meisten Eltern stehen hinter diesem Projekt.» Das Umfeld
ist kompetitiver, was den relativen Alterseffekt begünstigt.
Klassen zu überspringen
ist heikel
Viel könne man
als Schule auch nicht unternehmen gegen diesen Effekt, sagt Moser. «Es braucht
ein Stichdatum für Schüler, nur schon aus organisatorischen Gründen.» Er hat
aber festgestellt, dass die Tendenz zum früheren Einschulen oder Überspringen
von Klassen abgenommen hat. «Früher dachte man: Wenn ein Kind schon im
Kindergarten lesen kann, kann es eine Klasse überspringen. Heute betrachtet man
auch die sozialen Faktoren. Man hat beim Überspringen von Klassen die Erfahrung
gemacht, dass dies emotional zu Problemen führen kann. Nun schaut man vielmehr,
dass man innerhalb der Klasse individualisiert.»
Inzwischen
schlägt das Pendel in die andere Richtung: Man wartet lieber noch ein Jahr mit
dem Einschulen, stellt das Kind zurück. So kann man den relativen Alterseffekt
ausdribbeln – anders als im Sport, wo der Jahrgang ab nationaler und
internationaler Ebene verbindlich ist.
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