16. Februar 2020

Erosion des Bildungswesens


Wir sind stolz auf das Bildungssystem in unserem Land. Dass die Ausbildungsqualität aber stetig und massiv erodiert, merken viele Bildungspolitiker und -funktionäre nicht. Sie reden unangenehmen Befunde schön und vertuschen, was nicht in ihr doch so «modernes» Konzept passt. Nachstehend die vier wesentlichsten Erosionszonen.
Die Bildungs-Missstände werden schöngeredet, Schweizerzeit, 17.1. von Gerhard Steiner

Erosionszone 1: Künstliche Vergrösserung der Heterogenität in den Klassen
Die Heterogenität in den Schulklassen bezüglich Lernfähigkeit und -willigkeit war schon immer eine Herausforderung für die Lehrkräfte. Viele glauben, dass die Individualisierung des Unterrichts die Lösung sei. Aber erstens geht die Individualisierung schon aufgrund der Personalkapazitäten nicht, und zweitens ist sie gar nicht erwünscht. Denn vieles, was erfolgreich gelernt wird, geschieht in den sozialen Interaktionen im Klassenverband, wo die etwas Schwächeren mitgenommen werden und so am kollektiven Erfolg teilhaben können. Und es passiert in Gruppen etwa gleich starker Lernender, wo Schülerinnen und Schüler optimal herausgefordert werden und voneinander lernen. Darum haben immer schon viele Lehrkräfte kleine, aber relativ homogene Lerngruppen gebildet, was ebenso ökonomisch wie wirksam war. Nun wird in vielen Kantonen aber die bestehende Heterogenität in den Klassen noch künstlich dadurch vergrössert, dass entweder mehrere Schüler-Jahrgänge parallel in der gleichen Klasse unterrichtet werden oder dass mit sogenannt integrativem Unterricht auch verhaltensgestörte Kinder, Retardierte oder Behinderte in derselben Klasse geschult werden. Diese unnötige Vergrösserung der Heterogenität in den Klassen führt nicht etwa zu Integration, sondern vor allem zu lernpsychologisch katastrophalen Bedingungen und zu chaotischen Abläufen im Unterricht. Schüler aller Leistungsniveaus werden zu Verlierern. Dennoch hat sich die Erziehungsdirektorin des Kantons Zürich zur Aussage verstiegen: «Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein Menschenrecht. Jeder sollte, wenn möglich, integriert unterrichtet werden» (NZZ, 28.01.2019). So kann nur eine Person reden, die von den Voraussetzungen für ein effizientes Lernen keinen blassen Dunst hat.

Erosionszone 2: Lesen und Leseverständnis
Ein hoher Prozentsatz von Schülern versteht nicht, was sie lesen (PISA 2019). Dieser Mangel hat sehr frühe Ursachen. Verstehendes Lesen entsteht dadurch, dass der Wortabfolge, die gelesen wird, Bedeutungen entnommen werden. Das braucht im Gedächtnis aber freie Kapazitäten. Diese sind aber nicht vorhanden, weil schon das Zusammenfügen von Buchstaben zu Wörtern sehr mühsam vor sich geht. Damit wird die limitierte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses schon weitgehend aufgebraucht, und für ein Erkennen von Bedeutungen und damit für ein Verstehen bleibt nichts mehr übrig. Genau da liegt die Ursache für die Erosion der Lesequalität, und die Freude am Lesen geht verloren, weil sich kein sichtbarer Erfolg einstellt.

Erosionszone 3: Üben war gestern
«Üben war gestern»: Wer so denkt, missachtet den zentralen Grundsatz «Lernen ist immer Aufbauen und Konsolidieren», beides und mit System. Das sind die Grundpfeiler jeglichen Lernens. Aufgebaut werden Bedeutungen, Zusammenhänge oder Abläufe. Das Ergebnis dieses Aufbauens ist das Verstehen. Konsolidieren heisst «solid» machen, d.h. dafür sorgen, dass Verstandenes sowohl behalten als auch wieder erinnert werden kann, wenn man es braucht. Das ist aber nicht gratis. Konsolidieren braucht wiederholendes Üben, in variierenden Formen mit graduell steigenden Anforderungen. Sonst erodiert die Qualität der Ausbildung.

Erosionszone 4: Digitalisierung und die Frage nach der Nutzung der Lernzeit
Die «digitale Transformation» der Schule bzw. der Ausbildung ist in aller Munde. Die Schüler werden ab der 5. Klasse mit teuren Tablets ausgerüstet. Das Tablet gilt als Wunderdroge für erfolgreiches Lernen. In Wirklichkeit wird einfach gelernt, mit einem Gerät umzugehen. Die Inhalte, die mithilfe von Tablets gelernt werden, liessen sich auch ohne diese Geräte erlernen. Die Aufgaben mögen für viele Lernende attraktiv sein, aber lernwirksam sind sie nicht, denn es fehlt ihnen eine spezifische Zielsetzung, die nur mit diesen Geräten erreicht werden kann. Letztlich ist auf früher Stufe alle «Digitalisierung» nur Unterhaltung oder Beschäftigung.

Weitere Erosionszonen beziehen sich auf die Entmündigung der Lehrerschaft durch «abgehobene» Lehrpläne oder auf scheinbare Kleinigkeiten wie die faktische Eliminierung der flüssigen Handschrift aus dem Lernprozess. Die Erosion des Bildungswesens ist ein abendfüllendes Thema.

Prof. Dr. Gerhard Steiner ist emeritierter Ordinarius für Psychologie (Entwicklung, Lernen und Gedächtnis) an der Universität Basel.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen