Wir sind
stolz auf das Bildungssystem in unserem Land. Dass die Ausbildungsqualität aber
stetig und massiv erodiert, merken viele Bildungspolitiker und -funktionäre
nicht. Sie reden unangenehmen Befunde schön und vertuschen, was nicht in ihr
doch so «modernes» Konzept passt. Nachstehend die vier wesentlichsten
Erosionszonen.
Die Bildungs-Missstände werden schöngeredet, Schweizerzeit, 17.1. von Gerhard Steiner
Erosionszone
1: Künstliche Vergrösserung der Heterogenität in den Klassen
Die
Heterogenität in den Schulklassen bezüglich Lernfähigkeit und -willigkeit war
schon immer eine Herausforderung für die Lehrkräfte. Viele glauben, dass die
Individualisierung des Unterrichts die Lösung sei. Aber erstens geht die
Individualisierung schon aufgrund der Personalkapazitäten nicht, und zweitens
ist sie gar nicht erwünscht. Denn vieles, was erfolgreich gelernt wird,
geschieht in den sozialen Interaktionen im Klassenverband, wo die etwas
Schwächeren mitgenommen werden und so am kollektiven Erfolg teilhaben können.
Und es passiert in Gruppen etwa gleich starker Lernender, wo Schülerinnen und
Schüler optimal herausgefordert werden und voneinander lernen. Darum haben
immer schon viele Lehrkräfte kleine, aber relativ homogene Lerngruppen
gebildet, was ebenso ökonomisch wie wirksam war. Nun wird in vielen Kantonen
aber die bestehende Heterogenität in den Klassen noch künstlich dadurch
vergrössert, dass entweder mehrere Schüler-Jahrgänge parallel in der gleichen
Klasse unterrichtet werden oder dass mit sogenannt integrativem Unterricht auch
verhaltensgestörte Kinder, Retardierte oder Behinderte in derselben Klasse
geschult werden. Diese unnötige Vergrösserung der Heterogenität in den Klassen
führt nicht etwa zu Integration, sondern vor allem zu lernpsychologisch
katastrophalen Bedingungen und zu chaotischen Abläufen im Unterricht. Schüler
aller Leistungsniveaus werden zu Verlierern. Dennoch hat sich die
Erziehungsdirektorin des Kantons Zürich zur Aussage verstiegen: «Der
integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein Menschenrecht.
Jeder sollte, wenn möglich, integriert unterrichtet werden» (NZZ, 28.01.2019).
So kann nur eine Person reden, die von den Voraussetzungen für ein effizientes
Lernen keinen blassen Dunst hat.
Erosionszone
2: Lesen und Leseverständnis
Ein hoher
Prozentsatz von Schülern versteht nicht, was sie lesen (PISA 2019). Dieser
Mangel hat sehr frühe Ursachen. Verstehendes Lesen entsteht dadurch, dass der
Wortabfolge, die gelesen wird, Bedeutungen entnommen werden. Das braucht im
Gedächtnis aber freie Kapazitäten. Diese sind aber nicht vorhanden, weil schon
das Zusammenfügen von Buchstaben zu Wörtern sehr mühsam vor sich geht. Damit
wird die limitierte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses schon weitgehend
aufgebraucht, und für ein Erkennen von Bedeutungen und damit für ein Verstehen
bleibt nichts mehr übrig. Genau da liegt die Ursache für die Erosion der
Lesequalität, und die Freude am Lesen geht verloren, weil sich kein sichtbarer
Erfolg einstellt.
Erosionszone
3: Üben war gestern
«Üben war
gestern»: Wer so denkt, missachtet den zentralen Grundsatz «Lernen ist immer
Aufbauen und Konsolidieren», beides und mit System. Das sind die Grundpfeiler
jeglichen Lernens. Aufgebaut werden Bedeutungen, Zusammenhänge oder Abläufe.
Das Ergebnis dieses Aufbauens ist das Verstehen. Konsolidieren heisst «solid»
machen, d.h. dafür sorgen, dass Verstandenes sowohl behalten als auch wieder
erinnert werden kann, wenn man es braucht. Das ist aber nicht gratis.
Konsolidieren braucht wiederholendes Üben, in variierenden Formen mit graduell
steigenden Anforderungen. Sonst erodiert die Qualität der Ausbildung.
Erosionszone
4: Digitalisierung und die Frage nach der Nutzung der Lernzeit
Die
«digitale Transformation» der Schule bzw. der Ausbildung ist in aller Munde.
Die Schüler werden ab der 5. Klasse mit teuren Tablets ausgerüstet. Das Tablet
gilt als Wunderdroge für erfolgreiches Lernen. In Wirklichkeit wird einfach
gelernt, mit einem Gerät umzugehen. Die Inhalte, die mithilfe von Tablets
gelernt werden, liessen sich auch ohne diese Geräte erlernen. Die Aufgaben
mögen für viele Lernende attraktiv sein, aber lernwirksam sind sie nicht, denn
es fehlt ihnen eine spezifische Zielsetzung, die nur mit diesen Geräten
erreicht werden kann. Letztlich ist auf früher Stufe alle «Digitalisierung» nur
Unterhaltung oder Beschäftigung.
Weitere
Erosionszonen beziehen sich auf die Entmündigung der Lehrerschaft durch
«abgehobene» Lehrpläne oder auf scheinbare Kleinigkeiten wie die faktische
Eliminierung der flüssigen Handschrift aus dem Lernprozess. Die Erosion des
Bildungswesens ist ein abendfüllendes Thema.
Prof.
Dr. Gerhard Steiner ist emeritierter Ordinarius für Psychologie (Entwicklung,
Lernen und Gedächtnis) an der Universität Basel.
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