Unter dem Titel der Chancengerechtigkeit und im Namen der Gesundheits-
und Frühförderung kommt die Familie als privater Ort kindlicher Prägung immer
mehr unter die Räder eines zunehmend kollektivistischen Staats, der den Eltern
je länger, je weniger Erziehungsfähigkeit zugesteht.
Das Kind, der Staat und die Eltern, NZZaS, 23.2. von Claudia Wirz
Das Ross hatte Augen aus Bernstein, Hufe aus Marmor und Zähne aus
Elfenbein – eine wahrhaft göttliche Erscheinung. Kann es einen Grund geben, ein
so wunderbares Geschöpf nicht hereinzulassen und direkt vor dem eigenen Tempel
aufzustellen, wenn es – sozusagen – gratis und geschenkt vor der Türe steht?
Mahner hatte es fürwahr gegeben. «Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie
Geschenke bringen», warnte der Seher Laokoon, und auch die Rufe der Kassandra
rieten zur Vorsicht. Doch leicht lässt sich der Mensch von Wohltaten blenden.
Gegen den Zauber der Verheissungen waren die Warner machtlos. Was dann mit der
stolzen und wehrhaften Stadt geschah, wissen wir. Aus der Distanz von ein paar
tausend Jahren mag man sich fragen, wie die kriegserprobten Trojer auf eine so
simple List hereinfallen konnten. Aber sind wir heute klüger?
Der Trick mit dem Geschenk funktioniert jedenfalls noch heute bestens.
Die Familienpolitik ist ein facettenreiches Beispiel dafür. Auf diesem Terrain
wimmelt es nur so von «Geschenkideen». Ob Elternzeit, subventionierte
Krippenplätze oder flächendeckende Frühförderung – der Staat, seine Fachkommissionen,
Professoren, die OECD, zahlreiche NGO und nicht zuletzt verschiedene
Abteilungen der Uno kümmern sich unermüdlich um das Wohlergehen der Familien
und zimmern eine vermeintlich gute Massnahme nach der anderen.
Die Welt der Kinder und Jugendlichen ist auf diese Weise zu einer wahren
Goldgrube für die Sozialarbeit geworden. Die Massnahmen, die propagiert werden,
haben neben ihrer Finanzierung durch den Steuerzahler mindestens zwei weitere
Dinge gemeinsam: Sie sind das geistige Kind einer staatsnahen akademischen
Expertenelite, und die Eltern spielen dabei eine immer weniger wichtige Rolle.
Für den Staat und seine Experten ist die Privatheit der Familie suspekt. Und
dass es in einer freien Welt Unterschiede unter den Familien gibt, ist ihnen
ein Dorn im Auge. Deshalb wollen sie im Namen der Chancengerechtigkeit am
Familientisch mitreden und umverteilen, und zwar möglichst ab Geburt der
Kinder. Den Eltern ist jedenfalls nicht recht zu trauen. Der Staat sieht sich
als der bessere und gerechtere Erzieher.
Schon lange träumen die Experten und ihre politischen Verbündeten von
einer «umfassenden Politik der frühen Kindheit». Mit dem jüngsten Entscheid der
zuständigen Nationalratskommission zu einem Vorstoss von SP-Nationalrat
Matthias Aebischer ist dieser Traum ein ganzes Stück realistischer geworden.
Die Verlierer in diesem Spiel sind die Eltern, deren Erziehungshoheit Stück für
Stück demontiert wird.
Wenn der Basler Ökonom Günther Fink in der Zeitschrift «Die
Volkswirtschaft» darüber fachsimpelt, wie man kleine Kinder möglichst gut
frühfördert, kommt das Wort Eltern nicht vor. Das gleiche anmassende Weltbild
vertritt die Forscherin Regina Guthold von der Weltgesundheitsorganisation
(WHO), die die Regierungen in der Pflicht sieht, die Kinder zu mehr
körperlicher Ertüchtigung zu erziehen. Und wenn der Pädagoge Andrea Lanfranchi
ein besorgniserregendes Bild der sozialen Situation der Kinder in der Schweiz malt,
dann deshalb, um mit neuen «Geschenken» neue staatliche Eingriffe in die
Privatsphäre der Familien zu legitimieren.
Während sich die Eltern also immer mehr staatlichen Stützunterricht in
Erziehung gefallen lassen müssen – den sie im Übrigen selber bezahlen –,
erleben die Kinder in der Schule so etwas wie eine Scheinemanzipation. Das
Reformkonzept des selbstorganisierten Lernens soll sie endlich vom Fluch der
Noten, des Frontalunterrichts und der starren Lehrpläne befreien. Doch diese
Freiheit ist trügerisch. Spätestens wenn die Kinder selber Eltern werden,
heisst es: nachsitzen.
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