Machen Sie folgendes Experiment: Gehen Sie auf eine wildfremde Person
zu, in einer Bar, an einer Vernissage, im Wartezimmer des Zahnarztes, wo auch
immer, und fragen Sie sie, was sie von unserem Schulsystem hält. Erst Stunden
später werden Sie beide sich trennen und einander erschöpft, aber glücklich in
den Armen liegen, im Wissen, einen weiteren Gefährten gefunden zu haben in der Klage
über den desolaten Zustand der Schweizer Volksschule.
Regt euch mal ab, ihr Schwarzmaler! Eine Abrechnung mit den Schulpessimisten, NZZaS, 19.1. von Thomas Grüninger
Nicht, dass dies irgendwann anders gewesen wäre: Bildung und Erziehung
waren schon immer die beliebtesten Prügelknaben unter den Gesellschaftsthemen.
Aber haben Sie nicht auch den Eindruck, dass der Ärger über unser Schulwesen in
letzter Zeit an Schärfe gewonnen hat?
Lassen Sie mich kurz zusammenfassen, wie sich mir, einem einfachen
Bildungsdienstleister im Primärsektor (Lehrer), die Situation nach fast
dreissig Jahren Schuldienst darstellt:
Die drei grossen Themen der Eltern
·
Wieso kommt mir mein Kind wie ein Versuchskaninchen vor?
Wieso muss ich nach der Arbeit Hausaufgaben erledigen?
Wieso nimmt mich niemand in den Arm und sagt mir, dass alles gut wird?
Die drei grossen Themen der Lehrerin oder des Lehrers
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Wie bewältige ich meine Aufgaben innerhalb des Klassenzimmers?
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Wie bewältige ich meine Aufgaben ausserhalb des Klassenzimmers?
·
Wie behalte ich meinen Verstand dabei?
Die drei grossen Themen des Schulentwicklers
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Wie verhindere ich den Vorwurf, unsere Schule sei unzeitgemäss?
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Wie verhindere ich den Vorwurf, unsere Schule sei zweitklassig?
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Wie verhindere ich den Vorwurf, es gäbe zu viele Schulentwickler?
Die drei grossen Themen des Bildungspolitikers
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Wie viele Fremdsprachen sollen Achtjährige lernen?
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Wie viele Analphabeten lassen sich in eine fünfte Klasse integrieren?
·
Wie viele Kollegen kann ich davon überzeugen, dass diese Themen relevant
sind?
Das grosse Thema der Kinder
·
Wieso sind hier alle so uncool?
Wie so häufig ist der Standpunkt der Kinder dabei der Schlüssel zum
Problem: Wann haben wir aufgehört, cool zu sein?
Hierzu gibt es so viele Antworten, dass ich mich etwas bremsen muss.
Lassen Sie mich also aus dem bunten Fächer, der sich vor mir ausbreitet,
vorerst nur ein Segmentchen herauslesen. Wie wäre es damit: Wir haben ein
gerüttelt Mass unserer Coolness verloren, weil wir auf einmal so scharf darauf
sind, unsere Kinder «aufs Leben vorzubereiten».
«Aber halt», werden Sie mir zurufen, «wollten wir das nicht schon
immer?» – «Gewiss, werde ich parieren, «aber mittlerweile verstehen wir unter
‹Leben› und ‹Vorbereitung› etwas ganz anderes als dazumal.» Das ist an und für
sich nichts Schlimmes, nur haben sich bei der Neudeutung dieser Begriffe einige
Denkfehler eingeschlichen.
Erstens: Wir sind davon überzeugt, dass das Leben unserer Kinder viel
komplexer ist als früher; folglich wird es morgen noch komplexer sein,
übermorgen noch viel mehr und so weiter. Versuchen Sie mal, ein Buch, eine
Broschüre, einen Artikel zum Thema zu finden, ohne als Einleitung Folgendes zu
lesen: «Die Kinder von heute sind mit einer Welt konfrontiert, die ihnen weit
mehr abverlangt als noch vor wenigen Jahren ...» blablabla.
Wirklich? Können Sie sich an Ihre Kindheit erinnern? Wie viele Themen
haben Sie umgetrieben? Vor wie vielen Aufgaben haben Sie gestanden? Wie
zahlreich waren die Dinge, die Sie bewegt haben? Ihre Kindheit war mit grosser
Sicherheit erfüllt von Herausforderungen, von widersprüchlichen Momenten und
Gefühlen, durchgeschüttelt von Turbulenzen auf einem eindrucksvollen Flug ins
Ungewisse.
Für Sie war alles neu, spannend und herausfordernd, häufig aber auch
enttäuschend, frustrierend und einfach viel zu viel, wissen Sie noch? Selbst
die Dinge, die Ihnen heute so vertraut und wenig bedrohlich erscheinen, sie
waren einmal Grund genug, das Heranwachsen als «komplex» zu erleben.
Wieso sollte für Ihre Kinder die Gegenwart also anspruchsvoller sein?
Weil sie mittlerweile ein Smartphone besitzen? Das macht doch nicht deren Leben
komplizierter, sondern Ihres!
Hier liegt der Kern des Missverständnisses: Sie haben in den letzten
Jahren so viele Veränderungen erlebt, dass Ihnen die Welt in der Tat viel
weniger überschaubar erscheint. (Ihre Kinder würden dazu nur sagen: «Willkommen
im Klub.»)
Was Sie aber gerne vergessen: Sie kommen mit der Komplexität unserer
Zeit trotzdem erstaunlich gut zurecht. Sie mögen hin und wieder zwar den
Eindruck haben, alles um Sie herum löse sich in Wahnsinn und Beliebigkeit auf,
aber Sie haben Wege gefunden, damit umzugehen, und sind in der Regel nicht
ständig überfordert.
Sie erledigen Ihre Arbeiten und Pflichten, pflegen Freundschaften und
fahren hin und wieder in die Ferien. Sie leben eben nicht in jenem
Ausnahmezustand, der Ihnen vorgegaukelt wird.
Aber: Sie ängstigen sich um die kommende Generation. Sie sind der
Überzeugung, wir müssten uns nun beherzter denn je darum bemühen, dass die
Kinder von heute die Welt von morgen bewältigen lernen. Viele teilen diese
Überzeugung mit Ihnen.
Ganz besonders die Schule. Leider.
Womit wir beim zweiten Irrtum wären: In der Pädagogik hat die fixe Idee
Einzug gehalten, dass Heranwachsende den Anforderungen einer verwirrenden,
unberechenbaren Zukunft nur dann gewachsen sind, wenn man ihnen so viel wie
möglich von der ebenso verwirrenden, unberechenbaren Gegenwart ins Schulzimmer
schaufelt. Lernen am Problem sozusagen, 1 : 1.
Die sexuellen Selbstzuschreibungen der Menschen haben sich sprunghaft
vermehrt? – Lasst uns daraus ein Schulfach machen! Die Gesellschaft wird immer
heterogener? – Lasst uns jedwede Homogenität in der Klasse zerschlagen! Google,
Microsoft und Apple geben global den Ton an? – Lasst uns den gesamten
Unterricht digitalisieren! Den Nachrichten kann man nicht mehr trauen? –
Medienkunde muss her, und zwar subito!
Kaum erspähen wir am Horizont eine Aufgabe, die uns die neue Zeit zu
stellen droht, – zack! – ist sie ein Unterrichtsfach. Was sind wir ausgebufft!
Wer sich derart nahe am Puls des Geschehens aufhält wie die Schule, darf
natürlich nicht schlafen. Insbesondere das Personal muss auf Trab gehalten
werden, allem voran die Lehrerschaft.
Diese kommt in den Genuss einer mittlerweile höchst anspruchsvollen,
stark professionalisierten Ausbildung, in deren Verlauf ein Credo ganz
besonders hochgehalten wird: Hört nie auf, euch weiterzubilden! Seid à jour!
Lest die Bulletins! Setzt sämtliche aktuellen Obligatorien um! Macht euch
ständig auf neue Lehrmittel gefasst und erlernt deren Gebrauch, indem ihr all
die entsprechenden Kurse besucht! Gewöhnt euch zudem an einen bunten Strauss
von «Evaluationsinstrumenten», die eure Eignung immer wieder aufs Neue
überprüfen! Strengt euch an, denn die Schule braucht Bildungsprofis, die
jederzeit ihre Handlungen mit den aktuellsten pädagogischen und
bildungspolitischen Grundsätzen begründen können, am besten auf zwanzig Seiten
A4!
Man verstehe mich nicht falsch: Ich bin sehr dafür, Berufsleute gut
auszubilden und dafür zu sorgen, dass im Klassenzimmer keine Laien ihr Unwesen
treiben. Nur befürchte ich, dass das gegenwärtige Anforderungsprofil des
Pädagogen sehr unattraktiv geworden ist für Menschen, die keine Workaholics
sind, an Bürokratie wenig Freude haben und sich nicht ständig anpassen möchten
an den jeweils neuesten Schrei aus den kantonalen Bildungsdirektorien.
Womit ich mich selbst beschrieben hätte.
Ich absolvierte in den neunziger Jahren ein Lehrerseminar alter Schule
und studierte zehn Jahre später Heilpädagogik an der Hochschule für
Heilpädagogik. Der Unterschied hätte nicht heftiger sein können! Beide
Institute würde ich als hervorragend bezeichnen, aber hätte ich meine Erstausbildung
an der Pädagogischen Hochschule genossen, ich wäre heute wohl
Versicherungsberater.
Was wehte dort ein steifer Wind! Die Kurse waren erstklassig – Respekt!
Doch der Leistungsdruck trieb einem die Tränen ins Gesicht. Der Weg zum Diplom
war für viele mit Nervenzusammenbrüchen gepflastert, und mein Mentor war ein
Mensch, den man zum Auftauen in einen Kühlschrank hätte stellen können (womit
er eine Ausnahme bildete, zugegeben).
Da ich heute das Vergnügen habe, auch mit sehr jungen Kolleginnen und
Kollegen zusammenzuarbeiten, weiss ich: Der moderne Lehrer hat eine Maschine zu
sein, ein Tausendsassa, ein Hansdampf, belastbar, agil, zeitgemäss,
aufgeschlossen, biegsam, kurz: das emsigste Bienchen im Korb! Er hilft mit, den
Karren ins neue Zeitalter zu ziehen; die Uhr dreht sich weiter, wir wollen eine
fortschrittliche, zeitgerechte Schule sein, und dazu gehört ein Höchstmass an
Bereitschaft, den Stall nicht nur sauberzuhalten, sondern ihn immer wieder
umzubauen. Schliesslich geht es um unsere Kinder! Sie sind unsere Zukunft!
Eine Zukunft, die immer weniger gut lesen, schreiben und rechnen kann,
erstaunlicherweise. Eine Zukunft, die bei Intelligenz- und Leistungstests immer
schlechter abschneidet. Eine Zukunft, die sich immer schwerer in die Arbeitswelt
integriert.
Was haben wir übersehen?
Vielleicht gar nicht so viel. Ich bin überzeugt, dass ein paar wenige
Leitgedanken genügen, um sich einen Weg durch das zeitgenössische schulische
Dickicht zu bahnen. Lassen Sie mich drei davon formulieren:
Erstens dürfen wir uns alle beruhigen: Unsere Kinder stehen im Prinzip
vor denselben Herausforderungen, vor denen Heranwachsende schon immer gestanden
haben: Vertrauensbildung, Ich-Findung, Konfliktbewältigung, Aufbau des
Selbstwertes, Befriedigung der Neugier, Erkennen der eigenen Bedürfnisse und
Möglichkeiten und dergleichen mehr. Diese Dinge sind seit Tausenden von Jahren
Gegenstand des Heranwachsens und werden es auch die kommenden Jahrtausende
bleiben.
Wir überhöhen uns und unsere Zeit masslos, wenn wir glauben, wir stünden
nun an der Schwelle zu etwas völlig Neuem. Das tun wir nicht. Wir sind die
Gleichen geblieben. Die Patina aus Industrialisierung, die uns umgibt, mag uns
zu Recht beeindrucken, da sie unsere Lebensumstände radikal verändert hat,
zugegeben. Aber wir haben diese Veränderungen bewältigt, ohne dass wir im
19. Jahrhundert das Fach «Industrialisierung» eingeführt haben.
Solange wir gekränkt sind, wenn uns jemand erniedrigt, solange wir uns
freuen, wenn uns etwas gelingt, solange wir mit Ehrfurcht und Staunen
reagieren, wenn wir den Petersdom betreten, können wir sicher sein, dass wir
uns nicht wesentlich unterscheiden von den Zeitgenossen Michelangelos.
Zweitens muss der Lehrer die «coolste» Person im Schulzimmer sein.
Sollten Sie zufälligerweise zu dieser Berufsgruppe gehören und zur Einsicht
gelangen, dass Sie vor Ihrer Klasse wohl eher einem Nervenbündel gleichen als
einem entspannten Menschen, dann dürfen Sie keinen weiteren Tag auf diese Weise
verstreichen lassen! Sie haben ein Recht darauf, dass Ihr Arbeitsplatz Ihnen
Freude bereitet! Wir wollen glückliche Schüler? Dann brauchen wir glückliches
Personal!
Drittens haben wir Pädagogen uns in der Praxis zusehends den Boden unter
den Füssen wegziehen lassen. Unsere Aufgabe sollte eigentlich weitgehend darin
bestehen, Basiskompetenzen aufzubauen und zu sichern. Wenn beispielsweise das
sinnerfassende Lesen nicht vollständig sitzt, hat die Ausbildung von
Medienkompetenz keinerlei Chance.
Viele der neuen Themen, die heute «per Dekret» ins Schulzimmer
verpflanzt werden, sind aber sogenannte Aufbaukompetenzen. Diese verbrauchen
mittlerweile so viel Zeit und Arbeit, dass für die Festigung grundlegender
Fertigkeiten zu wenig Ressourcen verbleiben. Wir können keine Torte backen,
wenn wir uns zwar mit der Glasur beschäftigen, aber noch nicht gelernt haben,
einen Teig zu rühren.
Basiskompetenzen sind eine wundersame Sache; zu ihnen zählen Dinge wie
Logik, Leseverständnis, Handlungsfähigkeit, aber auch Vorstellungsvermögen,
Phantasie, Körperbeherrschung oder Beobachtungsgabe. (Zwei, drei Dinge zu
wissen, also eine gewisse Allgemeinbildung zu besitzen, kann zudem keineswegs
schaden.) Wer in diesen Disziplinen ordentlich geschult wurde, besitzt einen
grossartigen Werkzeugkasten, der ihm alles Weitere ermöglicht, sogar das
Bewältigen neuer Aufgaben.
Je mehr wir uns der Bestückung dieses Kastens widmen, desto weniger
müssen wir uns um die Vermittlung von Aufbaukompetenzen kümmern. Wer gelernt
hat, folgerichtig zu denken, zielgerichtet zu handeln und sich auf eine Aufgabe
zu konzentrieren; wer sich zudem seinen Wissensdurst und seinen Ehrgeiz
bewahren konnte, der wird bei Bedarf programmieren lernen, ohne in der
Volksschule je Informatikunterricht gehabt zu haben.
Anders gesagt: Wenn die Jugendlichen die Schule verlassen, sollten sie –
stark zugespitzt – wahrnehmen, denken, sprechen, fühlen und handeln können.
Alles andere wird sich ergeben. Folglich dürfen wir uns im Unterricht ganz viel
Nonsens sparen.
Also cool down, o. k.?
Thomas Grüninger, 52, unterrichtete nach der Lehrerausbildung an der
Primarschule Rüti (ZH) und später an der Sekundarschule Zollikon (ZH). Seit
1991 ist er Mittel- und Oberstufenlehrer an der familieneigenen Privatschule in
Thalwil. Er betritt jeden Tag mit Freude sein Schulzimmer und hält dies für
eine Selbstverständlichkeit.
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