23. Januar 2020

St. Galler Primarschule schafft Hausaufgaben ab


Für die einen sind sie ein notwendiges Übel, für die anderen ein Reizthema: die Hausaufgaben. Kinder aus den Primarschulhäusern Feldli und Schoren müssen sich seit den Sommerferien nicht mehr damit herumschlagen. Dort wurden die Hausaufgaben von der ersten bis zur sechsten Klasse für ein halbes Jahr abgeschafft.
"Unsere ersten Erfahrungen sind sehr positiv": Diese St. Galler Primarschule hat die Hausaufgaben abgeschafft, St. Galler Tagblatt, 23.1. von Christina Weder



Nun wird das Experiment um ein weiteres halbes Jahr verlängert, da die Zeitspanne für die Evaluation zu kurz gewesen sei, wie Schulleiter Ralf Schäpper bestätigt.
«Unsere ersten Erfahrungen sind sehr positiv.»

Das Experiment wurde aufgegleist, bevor Schäpper vor einem halben Jahr die Stelle als Schulleiter angetreten hat. Er sei aber sofort bereit gewesen, es umzusetzen. «Für viele Kinder sind die Hausaufgaben ein Stress», begründet er.
«Schülerinnen und Schüler, deren Eltern arbeiten oder aus bildungsfernen Schichten stammen, können niemanden um Hilfe fragen.»

Das Hauptargument für die Abschaffung der Hausaufgaben sei denn auch die Chancengleichheit gewesen. Doch es gebe weitere Gründe: So ist der Nutzen der Hausaufgaben unter Bildungsforschern umstritten. Einer der Kritiker ist der Kinderarzt und Buchautor Remo Largo, der seit Jahren für die Abschaffung der Ufzgi plädiert. Lehrer und Kinder würden damit nur schikaniert.


Primarschüler sieht Abschaffung auch kritisch
Bei den Sechstklässlern aus dem Schulhaus Feldli kommt die Neuerung jedenfalls gut an. «Ich habe die Hausaufgaben nicht gehasst, aber auch nicht geliebt», sagt etwa der 11-jährige Jamal. Doch manchmal hätten sie ihn gestresst. Vor allem bei schönem Wetter, wenn er lieber draussen gespielt hätte, aber zuerst drinnen die Hausaufgaben erledigen musste. Für ihn ist klar:
«Ohne Ufzgi ist es viel entspannter.»

Und dennoch sieht er den Versuch auch kritisch: «Wenn man in die Sek kommt, hat man mega viele Hausaufgaben.» Darauf müsse man vorbereitet sein.
Die 12-jährige Ina findet es positiv, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr ermahnen müssen: «Jetzt mach mal die Ufzgi! Zeig mal das Aufgabenheft!» Das sei für viele ihrer Mitschüler eine Belastung gewesen. Schön sei auch, dass sie jetzt Zuhause mehr Zeit zum Bücherlesen und für ihre anderen Hobbys habe, denen sie an drei Nachmittagen pro Woche nachgeht. Zwischen Schule und Hobby sei die Zeit jeweils knapp gewesen, um auch noch Hausaufgaben zu lösen.
«Jetzt kann ich etwas für die Schule tun, wenn ich Lust dazu habe. Ich muss aber nicht.»

Die Lehrerin fühlt sich nicht mehr als Polizistin
Lehrerin Liridona Fetahu sagt, von der Abschaffung der Hausaufgaben könnten jene Kinder profitieren, die viele Hobbys hätten, aber auch jene, die teils überfordert seien. Es sei eine Entlastung für alle – nicht zuletzt für sie als Lehrerin. «Ich muss nicht mehr jeden Morgen die Polizistin spielen und als erstes die Hausaufgaben kontrollieren.»

Meist hatten ein paar Kinder die Ufzgi nicht gemacht, andere hatten sie nicht verstanden. Und wieder andere die Hefte zu Hause vergessen. «Da lag immer schon etwas Negatives in der Luft.» Nun könne die Klasse anders in den Tag starten. Die Zeit, die sie früher brauchte, um die Hausaufgaben einzusammeln und zu kontrollieren, werde nun fürs Lernen genutzt.

Die Hausaufgaben wurden in den beiden Schulhäusern nicht ersatzlos gestrichen. Neu findet viermal pro Woche eine 20- bis 30-minütige Lernzeit statt, die von der Lehrperson betreut wird. Die Fünft- und Sechstklässler von Liridona Fetahu kommen morgens um 7.50Uhr ins Klassenzimmer und finden an der Tafel eine Reihe von Aufgaben vor. Sie setzen sich an ihre Pulte und entscheiden selbstständig, in welchem Fach sie weiterarbeiten wollen.

Während die einen Kinder Englischwörtli büffeln, schreiben die anderen einen Französischtext ins Reine oder lösen Matheaufgaben. Die Lehrerin betreut jene Schüler, die Unterstützung brauchen oder eine Frage haben. Liridona Fetahu ist überzeugt, dass die Schüler von der Lernzeit mehr profitieren als von den Hausaufgaben.

Sechstklässlerin Esma ist jedenfalls froh, dass sie in der betreuten Aufgabenstunde die Lehrerin fragen kann, wenn sie unsicher ist oder nicht weiter weiss. Als sie noch Zuhause Hausaufgaben machen musste, half ihr manchmal die ältere Schwester, doch die hatte immer weniger Zeit.

«Wenn ich die Ufzgi nicht verstanden habe, musste ich sie ungelöst in die Schule mitbringen und dann die Lehrerin fragen.»
Das sei ein blödes Gefühl gewesen, sagt die 11-Jährige, die zu Hause Albanisch spricht. «Ausserdem hat es Striche gegeben, wenn man die Aufgaben vergessen hat.»

Das weiss auch der 12-jährige Ayuub, dessen Eltern aus Somalia stammen. Einmal habe er eine Strafaufgabe lösen müssen, weil er fünf Striche hatte. Auf Tests kann sich Ayuub nur mit seiner jüngeren Schwester vorbereiten. Die neu eingeführte Lernzeit findet er «cool». Manchmal komme er nun früher in die Schule, um noch etwas fertig zu machen.

Kritikpunkt: Eltern erhalten weniger Einblick
Seit es keine Hausaufgaben mehr gibt, sei mehr Ruhe im Schulhaus eingekehrt, beobachtet Heilpädagogin Ursula Hartz. «Die Atmosphäre hat sich verbessert.» Viele Kinder seien entlastet. Man müsse sie weniger ermahnen und weniger schimpfen.
«Unser Ziel ist es, die Lernfreude und die Selbstverantwortung zu fördern.»
Da sei man auf gutem Weg, sagt Hartz.

Rückmeldungen von Elternseite seien mehrheitlich positiv, sagt Schulleiter Ralf Schäpper. Doch es gibt auch kritische Stimmen. Manche Eltern finden es schade, dass sie weniger Einblick erhalten, was ihre Kinder in der Schule überhaupt machen. Dank der Hausaufgaben waren sie früher informiert. «Diesen Einblick müssen wir weiterhin gewährleisten», sagt Schäpper.

Er plant deshalb, dass Eltern wöchentlich Rückmeldungen der Lehrpersonen erhalten. «Wir entwickeln das Projekt laufend weiter», sagt er. Vor den Sommerferien soll es evaluiert werden. Ob es danach mit oder ohne Hausaufgaben weitergeht, ist noch offen.

1 Kommentar:

  1. "Nun könne die Klasse anders in den Tag starten. Die Zeit, die sie früher brauchte, um die Hausaufgaben einzusammeln und zu kontrollieren, werde nun fürs Lernen genutzt." Wie wäre es, wenn die Lehrerin die Hausaufgaben selbst korrigieren würde. Dann hätten die Kinder ebenfalls mehr Zeit und gleichzeitig wüsste die Lehrerin auch, wo die Probleme sind. Nur so als Tipp :-)

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