14. Januar 2020

Selbstorganisiertes Lernen produziert Chancenungleichheit


Vor ein paar Wochen konnte man in verschiedenen Zeitungen lesen, Tausende Schülerinnen und Schüler würden wegen des enormen Schuldrucks in der Psychiatrie landen. Der Leistungsdruck in unseren Schulen sei absolut besorgniserregend, wie Psychiater, aber auch Franziska Peterhans, Zentralsekretärin des Dachverbandes der Lehrerinnen und Lehrer der Schweiz, meinen. Der Druck habe in den letzten Jahren stark zugenommen. Der Schüler müsse überall Topleistungen bringen. Wenn nicht, werde er abgeklärt und in die Nachhilfe geschickt. Die Folgen seien grosse Unsicherheit, Angst und Orientierungslosigkeit. Funktioniere alles nicht mehr, komme es oft zum Zusammenbruch.
Wenn die Schule überfordert, BZ Basel, 14.1. von Mario Andreotti


Dass Schüler heute zunehmend Probleme in der Schule haben, das zu leugnen, wäre verfehlt. Aber einmal mehr werden die wahren Gründe für diese Probleme elegant verschwiegen. In den einzelnen Unterrichtsfächern wird heute kaum mehr verlangt als noch vor vierzig Jahren. Lehrer sind keine Schinder, die von ihren Schülern lauter Topleistungen fordern, wie gerne behauptet wird. Aber die Lernformen haben sich grösstenteils verändert.

Schüler werden heute im Regelfall nur noch in einzelnen Lektionen im Klassenverband unterrichtet; den überwiegenden Rest der Zeit verbringen sie in sogenannten «Lernateliers». Dort sitzen sie hinter ihren Tablets einzeln an Arbeitstischen. Der einzelne Schüler, zunehmend unfähig, mit anderen zu kooperieren, droht so, im wahrsten Sinne des Wortes, zu vereinsamen. Er fühlt sich allein gelassen, was Überforderung und Stress auslöst. Die neue Lernkultur mit ihrem «Selbstorganisierten Lernen» postuliert Chancengleichheit. Doch sie produziert genau das Gegenteil von dem, was sie vorgibt: nämlich eine gewaltige Chancenungleichheit. In der Pädagogik weiss man schon seit den 1980er-Jahren, dass «offener Unterricht», also ein Unterricht, in dem sich die Schüler selber Lernziele setzen können, gerade die schwächeren Schüler benachteiligt. Die Erklärung dafür ist einfach: Schüler mit geringerer Vorbildung, aus Elternhäusern, in denen sie wenig Anregung, Anleitung und Vorwissen erhalten, die unruhig und unkontrolliert sind, weil ihnen zu Hause eine stabile Beziehung fehlt, gerade diese Schüler sind mit offenen Lernformen heillos überfordert. Sie gehen in der allgemeinen Betriebsamkeit unter. Sie bräuchten eine stabile, emotional warme Beziehung zur Lehrperson bei gleichzeitig klarer Führung und gutem Aufbau des Lernstoffs. «Offener Unterricht» ist nur für Kinder aus bildungsbürgerlichen Verhältnissen, die in ihrer Persönlichkeit soweit stabil sind, dass sie damit umgehen können, einigermassen verkraftbar. Die Verlierer sind einmal mehr die Kinder aus bildungsfernem Milieu.

Erstaunt es da, dass Kinder in einer Schule, in der sie sich teils selbst überlassen sind, sich manchmal vernachlässigt fühlen, an Überforderung leiden? Es ist aber nicht die Schule allein, die an dieser Überforderung die Schuld trägt. Schuld sind zweifellos auch Medien wie Fernsehen, Video, Computerspiele, Smartphone und Internet. Studien konnten längst belegen, dass ein klarer Zusammenhang zwischen schlechten Schulleistungen und der Dauer des Medienkonsums besteht. Darunter leiden besonders Buben, was deren schlechteres Abschneiden etwa bei den Pisa-Studien teils erklärt. Und erneut trifft der Effekt die Schüler mit bildungsfernem Hintergrund stärker, da sie erfahrungsgemäss mehr Medien konsumieren.

Viele Eltern neigen dazu, ihre Kinder mit einem lückenlosen Freizeitprogramm permanent bei Laune zu halten und ihnen das Leben wunsch- und mundgerecht zu servieren. Dieser verwöhnende Erziehungsstil bewirkt eine Schwächung der kindlichen Antriebskräfte. Die Folgen sind in der Schule ablesbar, vor allem an leistungsunwilligen Schülern, denen selbstständiges Denken als überflüssige Mühsal, ja als Überforderung erscheint. Darüber sollten Eltern vermehrt nachdenken.

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