Vor ein paar Wochen konnte
man in verschiedenen Zeitungen lesen, Tausende Schülerinnen und Schüler würden wegen
des enormen Schuldrucks in der Psychiatrie landen. Der Leistungsdruck in unseren
Schulen sei absolut besorgniserregend, wie Psychiater, aber auch Franziska
Peterhans, Zentralsekretärin des Dachverbandes der Lehrerinnen und Lehrer der Schweiz,
meinen. Der Druck habe in den letzten Jahren stark zugenommen. Der Schüler müsse
überall Topleistungen bringen. Wenn nicht, werde er abgeklärt und in die Nachhilfe
geschickt. Die Folgen seien grosse Unsicherheit, Angst und Orientierungslosigkeit.
Funktioniere alles nicht mehr, komme es oft zum Zusammenbruch.
Wenn die Schule überfordert, BZ Basel, 14.1. von Mario Andreotti
Dass Schüler heute zunehmend
Probleme in der Schule haben, das zu leugnen, wäre verfehlt. Aber einmal mehr werden
die wahren Gründe für diese Probleme elegant verschwiegen. In den einzelnen Unterrichtsfächern
wird heute kaum mehr verlangt als noch vor vierzig Jahren. Lehrer sind keine Schinder,
die von ihren Schülern lauter Topleistungen fordern, wie gerne behauptet wird. Aber
die Lernformen haben sich grösstenteils verändert.
Schüler werden heute im Regelfall
nur noch in einzelnen Lektionen im Klassenverband unterrichtet; den überwiegenden
Rest der Zeit verbringen sie in sogenannten «Lernateliers». Dort sitzen sie hinter
ihren Tablets einzeln an Arbeitstischen. Der einzelne Schüler, zunehmend
unfähig, mit anderen zu kooperieren, droht so, im wahrsten Sinne des Wortes, zu
vereinsamen. Er fühlt sich allein gelassen, was Überforderung und Stress auslöst.
Die neue Lernkultur mit ihrem «Selbstorganisierten Lernen» postuliert
Chancengleichheit. Doch sie produziert genau das Gegenteil von dem, was sie vorgibt:
nämlich eine gewaltige Chancenungleichheit. In der Pädagogik weiss man schon seit
den 1980er-Jahren, dass «offener Unterricht», also ein Unterricht, in dem sich die
Schüler selber Lernziele setzen können, gerade die schwächeren Schüler
benachteiligt. Die Erklärung dafür ist einfach: Schüler mit geringerer Vorbildung,
aus Elternhäusern, in denen sie wenig Anregung, Anleitung und Vorwissen erhalten,
die unruhig und unkontrolliert sind, weil ihnen zu Hause eine stabile Beziehung
fehlt, gerade diese Schüler sind mit offenen Lernformen heillos überfordert. Sie
gehen in der allgemeinen Betriebsamkeit unter. Sie bräuchten eine stabile, emotional
warme Beziehung zur Lehrperson bei gleichzeitig klarer Führung und gutem Aufbau
des Lernstoffs. «Offener Unterricht» ist nur für Kinder aus bildungsbürgerlichen
Verhältnissen, die in ihrer Persönlichkeit soweit stabil sind, dass sie damit umgehen
können, einigermassen verkraftbar. Die Verlierer sind einmal mehr die Kinder aus
bildungsfernem Milieu.
Erstaunt es da, dass Kinder
in einer Schule, in der sie sich teils selbst überlassen sind, sich manchmal vernachlässigt
fühlen, an Überforderung leiden? Es ist aber nicht die Schule allein, die an dieser
Überforderung die Schuld trägt. Schuld sind zweifellos auch Medien wie Fernsehen,
Video, Computerspiele, Smartphone und Internet. Studien konnten längst belegen,
dass ein klarer Zusammenhang zwischen schlechten Schulleistungen und der Dauer des
Medienkonsums besteht. Darunter leiden besonders Buben, was deren schlechteres Abschneiden
etwa bei den Pisa-Studien teils erklärt. Und erneut trifft der Effekt die Schüler
mit bildungsfernem Hintergrund stärker, da sie erfahrungsgemäss mehr Medien konsumieren.
Viele Eltern neigen dazu, ihre
Kinder mit einem lückenlosen Freizeitprogramm permanent bei Laune zu halten und
ihnen das Leben wunsch- und mundgerecht zu servieren. Dieser verwöhnende Erziehungsstil
bewirkt eine Schwächung der kindlichen Antriebskräfte. Die Folgen sind in der Schule
ablesbar, vor allem an leistungsunwilligen Schülern, denen selbstständiges Denken
als überflüssige Mühsal, ja als Überforderung erscheint. Darüber sollten Eltern
vermehrt nachdenken.
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