Das Leben ist kein Ponyhof, schon gar nicht am frühen Samstagmorgen. «Du
könntest ja eine To-do-Liste führen», sagt Lihnida zu Luc, der zustimmend
nickt. «Ich nehme mir vor, motivierter für die Prüfungen zu lernen», bekennt
Omar. Lola meint: «Ich versuche, in der Schulstunde vermehrt runterzufahren,
damit ich aufmerksamer bin.» Luc erzählt, dass sich sein Smartphone nach einer
halben Stunde Benutzung automatisch ausschaltet.
Die vier zwölfjährigen Kinder decken sich mit Tipps und Tricks für
bessere Schulleistungen ein. Vorher haben sie Fotos ausgewählt, die zu ihnen
passen sollen – Wüstenlandschaften, romanische Klöster, ein Bergsteiger auf dem
Gipfel. Die von der Geschichtslehrerin mitgebrachten Hochglanzbilder würden
sich auch als Wandschmuck eines Reisebüros eignen.
Förderprogramm ist
einmalig in der Deutschschweiz
Die Gymnasiasten besuchen die erste Klasse der Kantonsschule Reussbühl
Luzern, die Lehrerin ist ihr «Coach». Von heute an treffen sie sich regelmässig
für das Förderprogramm «Chance KSR», das diesen Samstag startet. Das Programm
ist in der Deutschschweiz einmalig. Es soll die Schüler dereinst bis zur Matura
unterstützen. Ein ähnliches Programm namens «Chagall+» gibt es am Zürcher
Gymnasium Unterstrass. Diese ursprünglich auf den Übertritt an die Kanti fokussierte
Programm wurde später bis zum Schulaustritt ausgeweitet und diente der Kanti
Reussbühl als Vorbild.*
Dringlichkeit ist gegeben: Kürzlich hat der Schweizerische
Wissenschaftsrat wieder einmal auf die starke «soziale Selektivität» des
hiesigen Bildungssystems hingewiesen. Wer also finanziell schwache Eltern
hat – was oft mit Migrationshintergrund einhergeht –, schafft es kaum ans
Gymnasium, und wenn doch, dann bricht er oder sie dieses überdurchschnittlich
häufig ab. Und natürlich kommt er oder sie auch viel seltener an die
Universität.
Nicht die Besten
schaffen es an die Hochschulen
Vereinfacht gesagt: An den Hochschulen studieren nicht die Schlausten
und Leistungsfähigsten, sondern die Privilegierten. Dieser Umstand ist
ungerecht, volkswirtschaftlich ineffizient und schlecht für die Integration der
Gesellschaft, wie der Wissenschaftsrat betont. Und er vertieft nicht nur
soziale Gräben, sondern verursacht auf die Dauer auch psychische Wunden.
Der Grund für die soziale Schere ist einfach: Eltern mit höherer
Bildungserfahrung können ihre Kinder unterstützen, weil sie das Schulsystem
kennen und eine Familienkultur pflegen, die den Anforderungen des Gymnasiums
entspricht. Zudem verfügen sie über die finanziellen Möglichkeiten nicht nur
für Nachhilfestunden, sondern auch für den Kantonsschulbesuch ihrer Kinder. Die
nachobligatorische Schule ist im Kanton Luzern nicht gratis.
Gemeinde mit hohem
Ausländeranteil
Die Kantonsschule Reussbühl ist prädestiniert für das Projekt. Sie steht
zwar auf dem Boden der Stadt Luzern. Doch viele Schüler kommen aus Emmenbrücke,
von manchen Einheimischen spöttisch, aber auch liebevoll «Emmenbronx» genannt.
Die Agglomerationsgemeinde weist einen Ausländeranteil von rund 35 Prozent auf.
Secondos vom Balkan, aus Asien und Afrika sind an der Kantonsschule keine
Seltenheit, anders als an den städtischen Gymnasien des Bildungsbürgertums.
Mehr als zwei Dutzend Sprachen werden hier gesprochen.
Das Leitbild der Schule geht auf die vielen Herkunftsländer der
Gymnasiasten ein. «Bei einer Weiterbildung zum Thema Schulkultur kam uns die
Idee, unser Förderprogramm aufzubauen», sagt Annette Studer, die Rektorin.
«Dass ein weit überproportionaler Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die
Matura nicht erlangen, einen Migrationshintergrund hat, beschäftigt uns.»
Das Programm sieht neben dem Coaching in Kleingruppen betreutes Lernen,
Stützkurse und individuelle Nachhilfe vor. Während diese Dienste gegen
Bezahlung allen Gymnasiasten zur Verfügung stehen, ist das Coaching exklusiv.
Es folgt dem sogenannten Zürcher Ressourcenmodell, das von Psychologen
entwickelt wurde. Das Kind soll artikulieren, wie es gerne wäre, was seine
«handlungswirksamen Motto-Ziele» sind, woraus der persönliche «Ressourcenpool»
besteht, wie der Wunschkörper aussieht. Das soziale Gefälle ist kein Thema.
Man bekommt den Eindruck, dass hier Psychologie in die
Betriebswirtschaft des Ichs mündet: Früh übt sich der Selbstmanager. Dass das
Coaching nur der Selbstoptimierung diene, lässt Kathrin Di Berardino,
Biologielehrerin und Coaching-Verantwortliche, nicht gelten: «Wir bereiten die
Kinder realistisch auf den harten Arbeitsmarkt vor. Die Konkurrenz aus dem
Ausland ist riesig.» Das Kernelement des Coachings besteht darin, dass die
Kinder eine Person haben, die ihnen zuhört, wenn sie Probleme haben. «Der Coach
unterstützt sie dabei, ihr Selbstvertrauen zu stärken, damit sie ihre Ziele
erreichen», sagt Di Berardino. Sie hat selber eine Ausbildung als Coach
absolviert.
«Wir fangen einfach einmal an»
Vorerst ist das Förderprogramm auf vier Jahre angelegt, bescheiden
finanziert von einer UBS-Stiftung und dem Kanton Luzern. «Wir würden unser
Programm gerne breiter fahren, aber wir fangen jetzt einfach einmal an. Man
könnte immer mehr machen, und wir können ja nicht das ganze Bildungssystem
ändern», sagt Rektorin Studer. Die wissenschaftliche Begleitung erfolgt durch
die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Insgesamt 24 Gymnasiasten nehmen teil; beworben haben sich 37. Die
Auswahl erfolgte aufgrund der Motivationsschreiben, des Leistungstests und der
Empfehlung der Klassenlehrperson – sowie des Einkommens der Eltern: «Wer
100 000 Franken im Jahr verdient, kann sich Nachhilfestunden für seine Kinder
leisten, nicht aber, wer ein kleines oder gar kein Einkommen hat. Und solche
Eltern gibt es, zum Beispiel Alleinerziehende», sagt Studer.
Eltern sind stolz,
aber nicht ohne Scham
Zum Programmstart hat die Schule an diesem Samstagmorgen die Eltern zu
einem Informationsanlass mit Apéro riche eingeladen. Fast alle sind gekommen,
die meisten schüchtern, einige stolz. Die Rektorin gratuliert ihnen. Zu Speis
und Trank an den festlich eingekleideten Stehtischen bleibt nur eine
Minderheit; die anderen verabschieden sich höflich.
Die Eltern reden mit ihren Kindern und den Coachs, aber kaum
miteinander. Zum Stolz mischt sich Scham: Wer hier ist, hat zwar einen
erfolgreichen Nachwuchs, der nun kostenlos unterstützt wird, trägt aber
zugleich das Stigma dessen, der auf Unterstützung angewiesen ist. Im Gegensatz
dazu schämen Eltern sich nicht, wenn ihre Kinder eine teure Privatschule
besuchen. Das ist ein seltsames Paradox. Es wird dann verschwinden, wenn das
Bildungssystem gerechter wird.
* In der
ursprünglichen Version des Artikel war nur vom Projekt «Chagall» die Rede, das
sich auf den Übertritt an die Kantonsschule konzentrierte und später
ausgeweitet wurde.
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