14. Januar 2020

Nicht die besten schaffen es ans Gymi


Das Leben ist kein Ponyhof, schon gar nicht am frühen Samstagmorgen. «Du könntest ja eine To-do-Liste führen», sagt Lihnida zu Luc, der zustimmend nickt. «Ich nehme mir vor, motivierter für die Prüfungen zu lernen», bekennt Omar. Lola meint: «Ich versuche, in der Schulstunde vermehrt runterzufahren, damit ich aufmerksamer bin.» Luc erzählt, dass sich sein Smartphone nach einer halben Stunde Benutzung automatisch ausschaltet.
Ans Gymnasium kommen nicht unbedingt die Besten, sondern die Privilegierten - eine Kanti in Luzern will das ändern, NZZ, 13.1. von Urs Hafner

Die vier zwölfjährigen Kinder decken sich mit Tipps und Tricks für bessere Schulleistungen ein. Vorher haben sie Fotos ausgewählt, die zu ihnen passen sollen – Wüstenlandschaften, romanische Klöster, ein Bergsteiger auf dem Gipfel. Die von der Geschichtslehrerin mitgebrachten Hochglanzbilder würden sich auch als Wandschmuck eines Reisebüros eignen.

Förderprogramm ist einmalig in der Deutschschweiz
Die Gymnasiasten besuchen die erste Klasse der Kantonsschule Reussbühl Luzern, die Lehrerin ist ihr «Coach». Von heute an treffen sie sich regelmässig für das Förderprogramm «Chance KSR», das diesen Samstag startet. Das Programm ist in der Deutschschweiz einmalig. Es soll die Schüler dereinst bis zur Matura unterstützen. Ein ähnliches Programm namens «Chagall+» gibt es am Zürcher Gymnasium Unterstrass. Diese ursprünglich auf den Übertritt an die Kanti fokussierte Programm wurde später bis zum Schulaustritt ausgeweitet und diente der Kanti Reussbühl als Vorbild.*

Dringlichkeit ist gegeben: Kürzlich hat der Schweizerische Wissenschaftsrat wieder einmal auf die starke «soziale Selektivität» des hiesigen Bildungssystems hingewiesen. Wer also finanziell schwache Eltern hat – was oft mit Migrationshintergrund einhergeht –, schafft es kaum ans Gymnasium, und wenn doch, dann bricht er oder sie dieses überdurchschnittlich häufig ab. Und natürlich kommt er oder sie auch viel seltener an die Universität.

Nicht die Besten schaffen es an die Hochschulen
Vereinfacht gesagt: An den Hochschulen studieren nicht die Schlausten und Leistungsfähigsten, sondern die Privilegierten. Dieser Umstand ist ungerecht, volkswirtschaftlich ineffizient und schlecht für die Integration der Gesellschaft, wie der Wissenschaftsrat betont. Und er vertieft nicht nur soziale Gräben, sondern verursacht auf die Dauer auch psychische Wunden.

Der Grund für die soziale Schere ist einfach: Eltern mit höherer Bildungserfahrung können ihre Kinder unterstützen, weil sie das Schulsystem kennen und eine Familienkultur pflegen, die den Anforderungen des Gymnasiums entspricht. Zudem verfügen sie über die finanziellen Möglichkeiten nicht nur für Nachhilfestunden, sondern auch für den Kantonsschulbesuch ihrer Kinder. Die nachobligatorische Schule ist im Kanton Luzern nicht gratis.

Gemeinde mit hohem Ausländeranteil
Die Kantonsschule Reussbühl ist prädestiniert für das Projekt. Sie steht zwar auf dem Boden der Stadt Luzern. Doch viele Schüler kommen aus Emmenbrücke, von manchen Einheimischen spöttisch, aber auch liebevoll «Emmenbronx» genannt. Die Agglomerationsgemeinde weist einen Ausländeranteil von rund 35 Prozent auf. Secondos vom Balkan, aus Asien und Afrika sind an der Kantonsschule keine Seltenheit, anders als an den städtischen Gymnasien des Bildungsbürgertums. Mehr als zwei Dutzend Sprachen werden hier gesprochen.

Das Leitbild der Schule geht auf die vielen Herkunftsländer der Gymnasiasten ein. «Bei einer Weiterbildung zum Thema Schulkultur kam uns die Idee, unser Förderprogramm aufzubauen», sagt Annette Studer, die Rektorin. «Dass ein weit überproportionaler Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Matura nicht erlangen, einen Migrationshintergrund hat, beschäftigt uns.»

Das Programm sieht neben dem Coaching in Kleingruppen betreutes Lernen, Stützkurse und individuelle Nachhilfe vor. Während diese Dienste gegen Bezahlung allen Gymnasiasten zur Verfügung stehen, ist das Coaching exklusiv. Es folgt dem sogenannten Zürcher Ressourcenmodell, das von Psychologen entwickelt wurde. Das Kind soll artikulieren, wie es gerne wäre, was seine «handlungswirksamen Motto-Ziele» sind, woraus der persönliche «Ressourcenpool» besteht, wie der Wunschkörper aussieht. Das soziale Gefälle ist kein Thema.

Man bekommt den Eindruck, dass hier Psychologie in die Betriebswirtschaft des Ichs mündet: Früh übt sich der Selbstmanager. Dass das Coaching nur der Selbstoptimierung diene, lässt Kathrin Di Berardino, Biologielehrerin und Coaching-Verantwortliche, nicht gelten: «Wir bereiten die Kinder realistisch auf den harten Arbeitsmarkt vor. Die Konkurrenz aus dem Ausland ist riesig.» Das Kernelement des Coachings besteht darin, dass die Kinder eine Person haben, die ihnen zuhört, wenn sie Probleme haben. «Der Coach unterstützt sie dabei, ihr Selbstvertrauen zu stärken, damit sie ihre Ziele erreichen», sagt Di Berardino. Sie hat selber eine Ausbildung als Coach absolviert.

 «Wir fangen einfach einmal an»
Vorerst ist das Förderprogramm auf vier Jahre angelegt, bescheiden finanziert von einer UBS-Stiftung und dem Kanton Luzern. «Wir würden unser Programm gerne breiter fahren, aber wir fangen jetzt einfach einmal an. Man könnte immer mehr machen, und wir können ja nicht das ganze Bildungssystem ändern», sagt Rektorin Studer. Die wissenschaftliche Begleitung erfolgt durch die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Insgesamt 24 Gymnasiasten nehmen teil; beworben haben sich 37. Die Auswahl erfolgte aufgrund der Motivationsschreiben, des Leistungstests und der Empfehlung der Klassenlehrperson – sowie des Einkommens der Eltern: «Wer 100 000 Franken im Jahr verdient, kann sich Nachhilfestunden für seine Kinder leisten, nicht aber, wer ein kleines oder gar kein Einkommen hat. Und solche Eltern gibt es, zum Beispiel Alleinerziehende», sagt Studer.

Eltern sind stolz, aber nicht ohne Scham
Zum Programmstart hat die Schule an diesem Samstagmorgen die Eltern zu einem Informationsanlass mit Apéro riche eingeladen. Fast alle sind gekommen, die meisten schüchtern, einige stolz. Die Rektorin gratuliert ihnen. Zu Speis und Trank an den festlich eingekleideten Stehtischen bleibt nur eine Minderheit; die anderen verabschieden sich höflich.

Die Eltern reden mit ihren Kindern und den Coachs, aber kaum miteinander. Zum Stolz mischt sich Scham: Wer hier ist, hat zwar einen erfolgreichen Nachwuchs, der nun kostenlos unterstützt wird, trägt aber zugleich das Stigma dessen, der auf Unterstützung angewiesen ist. Im Gegensatz dazu schämen Eltern sich nicht, wenn ihre Kinder eine teure Privatschule besuchen. Das ist ein seltsames Paradox. Es wird dann verschwinden, wenn das Bildungssystem gerechter wird.

* In der ursprünglichen Version des Artikel war nur vom Projekt «Chagall» die Rede, das sich auf den Übertritt an die Kantonsschule konzentrierte und später ausgeweitet wurde.


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